Andreas Kollender | Kolbe
„Wie ist es in Berlin?“, fragte Greta Stone. Fritz sah den qualmgrauen Mann mit seiner toten Tochter auf ihn zukommen. Jaschke, das ist meine Tochter.
„Brechen die Angriffe den Willen des Volkes?“, fragte Priest.
„Die Menschen haben es satt. Sie wollen das alles nicht mehr. Aber von einem Massenaufstand gegen das Regime sind die Deutschen weit entfernt. Die haben andere Sorgen, ganz ganz andere. Die Vernichtung Hitlers muss von außen kommen, militärisch.“
„Würden Sie Hitler erschießen, wenn sie ihm nahe genug kämen?“, fragte Priest.
„Nein.“
„Warum nicht, Mister Wood?“
„Weil ich dann anschließend tot wäre.“
„So weit reicht es dann doch nicht, hm?“
„Erschießen Sie ihn doch, Mister Priest.“ (Auszug Seite 232)
Der Beamte Fritz Kolbe, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, hegt schon lange Groll gegen Machthaber im nationalsozialistischen Deutschland. Im Laufe des Sommers 1943 reift in ihm die Entscheidung, sich den Alliierten als Spion anzubieten. Er sammelt und kopiert streng geheime Dokumente. Kurz darauf bietet sich ihm auch Gelegenheit, die Akten loszuwerden: Er wird auf Dienstreise zur deutschen Botschaft in Bern geschickt. Dort angekommen, sucht er etwas plump Kontakt zu ausländischen Geheimdiensten. Er wird von den misstrauischen Briten abgewiesen. Doch bei den Amerikanern hat er Erfolg und wird einer ihrer wichtigsten Zuträger in der Endphase des 2.Weltkrieges.
Eigentlich ist Kolbe ein kleines Rädchen im System, ein zurückhaltender, fleißiger Beamter. Er hat eine große Abneigung gegen die Nationalsozialisten und ihr brutales und inhumanes System. Er startet seine Agententätigkeit trotz großer Angst und erstaunlicher Naivität. Er glaubt tatsächlich, die Amerikaner würden umgehend Hitler in seiner Wolfsschanze wegbombardieren, kaum dass er ihnen Lagepläne übergibt. Mit zunehmender Zeit wird er selbstsicherer, mutiger, aber es ist immer klar, dass er sich nicht aufopfern, sondern überleben will. Zeitgleich zu der Aufnahme seiner Agententätigkeit beginnt er eine (manchmal unbeholfen wirkende) Liebesbeziehung zu der verheirateten Marlene, die schließlich seine Komplizin wird.
Fritz Kolbe gab es wirklich. Er war deutscher Vizekonsul in Kapstadt, von wo er 1939 nach Kriegsausbruch zurück ins Auswärtige Amt beordert wurde. Kolbe war von Beginn an kein Anhänger der Nazis, wurde nie Parteimitglied, behielt aber dennoch eine gute Stellung in der Behörde. Dies nutzte er, um endlich ab 1943 seinen Widerstand gegen das System zu leisten. Er lieferte streng geheime Dokumente an die Amerikaner, die von der Brisanz der Dokumente so überrascht waren, dass sie Kolbe noch lange Zeit für einen Doppelagenten hielten. Von der ganzen Geschichte möchte ich nicht alles verraten, nur so viel: Kolbe überlebte den Krieg, wurde aber bis zu seinem Tod nicht rehabilitiert. Erst nachdem im Jahr 2003 der französischer Journalist Lucas Delattre eine Biografie Kolbes veröffentlichte, wurde Kolbe durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer posthum geehrt.
Die oben genannte Biografie war auch der Ansatz für Autor Andreas Kollender, der anhand der dort recherchierten Fakten einen fiktiven Tatsachenroman geschrieben hat. Kollender hat schon vorher derartige Romane verfasst, unter anderem vom Forscher Georg Forster, der James Cook auf seiner zweiten Weltumseglung begleitete, oder vom Schriftsteller Theo Mannlicher. Der Autor lässt seinen Protagonisten im Gespräch mit zwei Journalisten wenige Jahre nach Ende des Krieges in Rückblicken seine Geschichte erzählen.
Und das Grauen. Das Grauen. Die Entmenschlichung. Momente, in denen er innerlich die Hände vor das Gesicht krallte, eisige Fassungslosigkeit und innere Schreie wie ein im Bergwerk verschütteter Mann. Es geschah am selben Tag, an dem er die Frau gesehen hatte und zum ersten Mal seit Langem Gefühle in sich spürte, die er unter dem Druck Deutschlands verschüttet wähnte. […]
Warum muss er gerade jetzt, als er davon erzählt, wie er Marlene kennenlernt, wieder an den kleinen Jungen denken?
Ich war mit dem Rad auf dem Weg zu Konsul Biermann und seiner Frau ,sagt er. Richtung Berlin-Charlottenburg. Da werfen uniformierte Männer einen Mann aus dem Fenster, dritter oder vierter Stock. Am Fenster daneben zwingen zwei andere einen kleinen Jungen zuzusehen. Verstehen Sie das? Können Sie sich das vorstellen? Und der Junge schreit: Papa! Papa! […]
War das das ausschlaggebende Ereignis?, fragt Wegner.
Um Himmels willen, Wegner! Ausschlaggebende Ereignisse wurden uns da im Minutentakt geboten. Ständig. Nur Scheiße. Die haben gelacht. Diese Männer. (Seite 99-100)
Die politischen Aspekte des Romans fand ich auch sehr interessant, etwa wo sichtbar wird, dass die Alliierten taktieren und durchaus über den Krieg hinaus denken. Kolbes Kontaktmann in Bern ist Allen Dulles (späterer CIA-Chef), der Kolbe beispielsweise schon früh über Reinhard Gehlen befragt, der tatsächlich später trotz seiner Aktivitäten als Wehrmachtsgeneral den bundesdeutschen Geheimdienst aufbauen darf. Auch der Mythos des in Kriegsverbrechen und Holocaust unbelasteten Auswärtigen Amtes wird in diesem Roman nochmals zerstört. Dennoch verhindern alte Nazis in neuen Ämtern nach dem Krieg die Wiedereinstellung des „Verräters“ Kolbe. Im Roman ist die Verbitterung Kolbes darüber nur allzu spürbar.
Wie viel Fakten und wie viel Fiktion ist, das lässt sich ja als Leser solcher Romane nur schwer ermitteln. Jedenfalls hat Kollender das Leben Kolbes zu einem spannenden Agententhriller zusammengefasst und zeichnet das Bild eines idealistischen, humanistischen Mannes, der verzweifelt versucht, das Richtige zu tun, um diesen verdammten Krieg und das verbrecherische Regime zu beenden.
Rezension und Foto von Gunnar Wolters.
Kolbe | Erschienen am 3. Juli 2015 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-489-4
448 Seiten | 16,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe
4 Replies to “Andreas Kollender | Kolbe”
Für mich ein sehr gelungener Thriller. Das, was als Realität zu erkennen ist, wurde von Kollender treffend dargestellt.
Ich fand auch sehr interessant, dass hier ein Widerstandskämpfer als Einzelperson betrachtet wird. Kolbe ist kein Märtyrer, ist kein Teil einer Verschwörung, hat auch keinen politisch-militärischen Hintergrund, sondern handelt isoliert aus einer humanistischen Überzeugung.
Faszinierend auch, wie naiv er an die Sache herangegangen ist. Das hätte alles ganz anders ausgehen können. Und nach dem Krieg waren andere die Gewinner…
Ja, allein die Kontaktaufnahme in Bern war eigentlich Wahnsinn.