
Lavie Tidhar | Adama (Band 2)
Er sah ihr in die Augen, suchte etwas, aber sie wusste nicht, was. „Du hast mehr verloren, als ich je hatte. Aber du glaubst immer noch daran.“
„Ich habe alles gegeben für dieses Land“, sagte Ruth. „Ich habe Opfer gebracht.“
„So wie Abraham Isaak opfern wollte“, sagte Almog schwülstig.
„Isaak hat aber überlebt“, sagte Ruth. (Auszug Seite 388)
Der Roman beginnt 2009 in Miami mit Hanna, deren Mutter Esther verstirbt und ihr eine alte Holzschachtel überlässt. Darin unter anderem ein altes Foto: Eine lange Tafel mit Speisen, am Kopfende eine Frau, die Beschriftung „Pessach Seder, 1965“. Hiervon ausgehend springt die Geschichte rückwärts, zunächst ins Jahr 1989, später ins Jahr 1946. Ruth ist eine ungarische Jüdin, die vor den Nazis nach Palästina geflohen ist. Nun ist sie Teil der Untergrundbewegung, die auch mit Gewalt einen israelischen Staat gründen will. Sie ist kurz darauf eine der Gründerinnen des Kibbuz Trashim im Norden Israels. Im Kampf um die Staatsgründung werden Terrorakte gegen die Briten verübt, arabische Dörfer zerstört, die Bewohner teilweise getötet, teilweise vertrieben.
Der Roman folgt nun der Geschichte von Ruth und ihrer Familie, dazu gehört ihre Schwester Shosh, die das Konzentrationslager überlebt, ihrer Kinder und ihrer Enkel. Die Story springt in der Zeit voran, verharrt lange Zeit Ende Ende der 1940er und in den 1950er, um die Anfangsjahre Israels am Beispiel dieser Kibbuzgemeinschaft zu beschreiben, springt dann in die 1960er und 1970er, zu den Kindern und Enkeln, zum Sechs-Tage-Krieg und Jom-Kippur-Krieg. Dabei muss sich Ruth und ihre Familie immer wieder starken Widrigkeiten entgegenstellen, Gewalt und Tod bleiben ein ständiger Begleiter.
Mit „Maror“ hat Autor Lavie Tidhar schon Maßstäbe gesetzt. Der Thriller beschreibt die Geschichte des Staates Israel als eine Geschichte von Gewalt, Korruption, Skandalen und dem bitteren Geschmack von Realpolitik. In „Maror“ nahm sich Tidhar die Zeit von Mitte der 1970er-Jahre bis in die 2000er vor. Nun springt er mit „Adama“ noch weiter zurück, beginnt mit der Zeit kurz nach dem 2.Weltkrieg und kurz vor der Staatsgründung Israels 1948. Sein Projekt ist als Trilogie angelegt, der letzte Band „Golgotha“ soll dann bis in die Zeit der Anfänge des Zionismus Ende des 19.Jahrhunderts zurückreichen.
„Adama“ setzt den Ton des Vorgängers eigentlich konsequent fort, mit neuem Personal – nur punktuell taucht nochmal eine Figur aus „Maror“ auf. Es entwickelt sich eine düstere Geschichte einer Kibbuz-Familie. Eine Geschichte von erlebter und begangener Gewalt: Die Verbrechen der Nazis, die Flucht nach Israel, der Kampf gegen die britischen Besatzer und gegen die einheimischen Araber, das harte Leben im Kibbuz, die Kriege zur Verteidigung Israels, die Gewalt auch im Inneren zu Erhalt der eigenen Position. In „Adama“ beschreibt Lavie Tidhar, selbst in einem Kibbuz aufgewachsen, eine Familie in einem Selbstbehauptungskampf zwischen Liebe, Loyalität, Verrat und Tod. Im Zentrum steht dabei die Patriarchin Ruth, die gewillt ist, ihre Heimat, ihren Kibbuz, ihr Fleckchen Erde („Adama“ steht im Hebräischen für „Erde“) um buchstäblich jeden Preis zu verteidigen und dafür Grenzen zu überschreiten und schmerzhafte Opfer zu bringen.
Lavie Tidhars Romane aus dieser Trilogie erscheinen aktuell noch nicht in der hebräischen Übersetzung. Mit seinem Ansatz einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte des Staates Israel gilt der Wahl-Londoner in seiner Heimat sicherlich in einigen Kreisen als Nestbeschmutzer. Dennoch erscheint es nur konsequent, die dunklen Seiten der eigenen Geschichte auszuloten, um Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen. Jedenfalls bleibt Tidhar seinem eigenen Anspruch treu, auch bezüglich der historischen Darstellung der Ereignisse. Die Wucht und Spannung des Vorgängers wird für meinen Geschmack nicht ganz erreicht, erlangt aber durch die Verknüpfung mit einer erschütternden Familiengeschichte über die Jahrzehnte dennoch eine tragische Tiefe. „Adama“ ist jedenfalls ein würdiger Nachfolger von „Maror“ und bringt als historischer Roman über Israel eine ganz eigene Facette ein.
Foto und Rezension von Gunnar Wolters.
Adama | Erschienen am 14.10.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47516-4
425 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Adama | Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe
Weiterlesen: Rezension zu Teil 1 der Trilogie, „Maror“