Carl Nixon | Kerbholz
Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.
32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.
Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.
Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.
Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)
Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.
Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.
Foto und Rezension von Gunnar Wolters.
Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe
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