Monat: September 2020

Anne Nørdby | Kalte Nacht

Anne Nørdby | Kalte Nacht

„Das Haus der Nowaks liegt verlassen auf einer Lichtung, mit all seiner Schäbigkeit, das im gleißenden Licht deutlich zutage tritt: abgeplatzte Farbe, das marode Holz, das moosige Dach, der verlotterte Garten. Und doch war es der wahr gewordene Traum einer Familie, die es kaufte, um in Schweden eine schöne Zeit zu verbringen. Nun sieht es aus, als trauere das Haus um seine kurzzeitigen Bewohner und deren verlorenen Traum.“ (Seite 260)

In einem Dorf in Südschweden gerät eine deutsche Urlauberfamilie in einen Autounfall. Die Teenager-Tochter und der Vater sind tot, die kleinere Tochter schwebt in Lebensgefahr, doch von der Mutter fehlt jede Spur. Die Familie hat sich gerade erst ein Ferienhaus in dem Ort gekauft und dann endet ihr Lebenstraum so dramatisch. Die schwedische Polizei beginnt mit den Ermittlungen und zieht die Sondereinheit Skanpol aus Hamburg dazu, da es sich um deutsche Opfer handelt. Tom Skagen fährt zur Unterstützung nach Schweden und trifft dort auf seine Vergangenheit…

Zweiter Fall von Tom Skagen

„Kalte Nacht“ von Anne Nørdby ist der zweite Fall um Tom Skagen von Skanpol. Man kann diese Geschichte sehr gut ohne Vorkenntnisse des ersten Falles lesen, denn der wird in keinster Weise erwähnt, was ich gut finde. Der Protagonist ist mir sympathisch, er ist eher zurückhaltend und nicht so von sich eingenommen, sondern ermittelt mit Bedacht. Tom reist eher auf eigene Faust nach Schweden, als dass er offiziell entsandt wurde und das verheimlicht er den örtlichen Ermittlern, hadert aber trotzdem ständig deshalb mit sich. Diesen Umstand fand ich etwas nervig, aber am Ende passt es, dass er sich zurückgehalten hat.

Ermittlungen bleiben im Mittelpunkt

Als die Vergangenheit von Skagen das erste Mal Thema wurde, habe ich befürchtet, dass diese jetzt den gesamten Fall überschattet, was aber glücklicherweise nicht der Fall ist. Relativ schnell wird auch geschildert, was genau passiert ist, der Leser wird also nicht so lange „hingehalten“ und danach kommt es nur ab und zu zu Erwähnungen. Das hat mich sehr erleichtert. Der Fall bleibt absolut im Fokus, das gesamte Buch über. Auch Toms Privatleben findet nur am Rande statt.

Spannung von Anfang an

Der Spannungsbogen beginnt sofort und flacht auch im Laufe der Geschichte kaum ab. Die Ermittlungen erweisen sich als verstrickt, viele haben ein Motiv, doch so richtig ergeben sich keine handfesten Beweise. Immer wieder werden Kapitel eingeschoben von der deutschen Familie aus der Woche vor dem Unfall, was dem Leser einen kleinen Vorsprung gegenüber der Polizei verschafft und zusätzlich für Spannung sorgt.

Nichts ist so, wie es scheint

Das Ende konnte mich dann nochmal überraschen, in Hinsicht auf den Täter, aber auch auf die Urlauberfamilie. Denn nichts ist so, wie es scheint. Hier wird etwas thematisiert, was ich noch in keinem anderen Roman gelesen habe und das oft im Verschwiegenen bleibt. Meiner Meinung nach sehr interessant. Es handelt sich hier um einen Thriller, der zwar nicht ausgesprochen blutig ist, aber auch nichts für Zartbesaitete.

Hinter dem Pseudonym Anne Nordby verbirgt sich Anette Strohmeyer. Die 1975 in Göttingen geborene Autorin lebt und arbeitet in Kopenhagen. Sie schreibt Krimis, Thriller und Hörspiele. Viele Jahre verbrachte sie in Skandinavien, Neuseeland und den USA. Ihre Erfahrungen verarbeitet sie in den internationalen Settings ihrer Romane. (Verlagsinfo)

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Kalte Nacht | Erschienen am 11. März 2020 im Gmeiner Verlag
ISBN 978-3-8922-642-2
544 Seiten | 16.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Michael Connelly | Late Show

Michael Connelly | Late Show

Das Adrenalin rauschte wie ein Zug durch ihre Adern. Für sie war Trent keineswegs mehr nur noch eine Person von Interesse. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er der Gesuchte war, und es gab nichts, was über eine solche plötzliche Einsicht ging. Etwas Größeres gab es für einen Detective nicht. Das hatte nichts mit Beweisen oder juristischen Verfahrensweisen oder einem hinreichenden Verdacht zu tun. Es war nichts Geringeres als die felsenfeste Überzeugung, dass man es einfach wusste, und es gab nichts in Ballards Leben, was es mit diesem Gefühl aufnehmen konnte. (S.127)

Detective Renée Ballard von der Nachtschicht des LAPD hat gerade mit ihrem Partner John Jenkins ihren Dienst begonnen und einen Einbruch mit Kreditkartenbetrug aufgenommen, als sie ins nahegelegene Hospital gerufen werden. Dort wurde eine junge Frau – eine Transgender-Prostituierte, wie sich bald herausstellt – halbtot geschlagen eingeliefert. Ballard bleibt aber nur kurze Zeit, da kommt das nächste Opfer in die Notaufnahme: In einem Club gab es einen Schusswechsel, vier Tote und eine junge Bedienung stirbt im Krankenhaus. Eine ereignisreiche Nachtschicht. Nach der Schicht haben Ballard und Jenkins eigentlich nicht mehr viel mit den Straftaten zu tun, die Ermittlungen übernehmen andere. Doch Ballards Ehrgeiz ist geweckt und sie beginnt außer Dienst auf eigene Faust zu ermitteln.

Im Falle der misshandelten Transgender-Frau bemerkt Ballard nämlich schnell, dass sie tagelang gefangen gehalten und gequält worden sein muss. Ballard vermutet einen Wiederholungstäter und hat ziemlich schnell eine Spur. Der andere Fall ist eigentlich tabu, wird er doch von Ballards Erzfeind Lieutenant Olivas geleitet. Vor einiger Zeit war Ballard in Olivas Team, als er sie sexuell belästigte. Sie zeigte ihn an, ihr damaliger Partner Ken Chastain hätte es bestätigen können. Doch er entschied sich für die Karriere, ihre Anzeige verpuffte und sie wurde zur Nachtschicht strafversetzt – in die „Late Show“ („Da stecken sie die Jerks hin, die Wichser.“ (S.47)). Ballard darf offiziell im Umfeld des ermordeten Opfers recherchieren, als sich ein interessanter Zeuge meldet, der Ballards Interesse am Fall noch verstärkt.

Sie sah Jenkins an. Bevor sie dazu kam, etwas zu sagen, tat er das.
„Nein.“
„Was, nein?“, fragte sie.
„Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst sagen, du möchtest diesen behalten“. (S.20)

Renée Ballard ist die zentrale Figur des Romans, aus ihrer Perspektive wird der Geschichte erzählt. Ballard ist eine Frau in den Dreißigern, geboren in Hawaii, irgendwann nach dem traumatischen Tod des Vaters beim Surfen (sie hat es vom Strand aus erlebt) und des fortschreitenden Desinteresses ihrer Mutter ihrer Großmutter nach L.A. gefolgt. Ballard ist eine gute, sehr engagierte Polizistin. Ihre Karrierechancen hat sie allerdings verspielt, nachdem ihre Dienstbeschwerde wegen sexueller Nötigung nicht zu ihren Gunsten entschieden wurde. Was ihr vor allem noch sehr nachhängt, ist der Verrat ihres damaligen Partners. Sie hat sich mit ihrem Leben in der Nachtschicht einigermaßen abgefunden, was ihr jedoch sehr fehlt, sind die Ermittlungsarbeiten bis hin zur Aufklärung eines Falles, da ihr diese Fälle nach der Schicht üblicherweise abgenommen werden. Daher versucht sie hier und da, doch noch bei ein paar Fällen dranzubleiben, sehr zum Verdruss ihres neuen Partners Jenkins, der eher Dienst nach Vorschrift schiebt. Ballard hat zwar durchaus noch ein paar Freunde im Polizeiapparat, ist aber schon ein wenig isoliert. Ballards Leben kreist insgesamt um ihre Arbeit. Privat bleibt sie auch eher allein, führt eher lose Beziehungen. Sie hat zwar ein Zimmer im Haus ihrer Großmutter, aber zwischen den Nachtschichten holt sie morgens ihren Hund vom Hundesitter, fährt zum Strand, geht Stand-Up-Paddeln und schläft anschließend einige Stunden in einem Zelt am Strand, um sich dann wieder auf die nächste Schicht vorzubereiten. Insgesamt ist Ballard eine sehr überzeugende Hauptfigur, gewissenhaft, moralisch, engagiert, aber auch manchmal rau, ein wenig unnahbar und streitbar.

Michael Connelly ist sicherlich ein großer Name im Krimigenre und bedarf keiner großen Vorstellung. Insbesondere mit seiner seit 1992 bestehenden Reihe um den Ermittler „Harry“ Bosch feierte der US-Amerikaner große Erfolge, die sich durch die von ihm mitproduzierte Amazon-Serie „Bosch“ noch verstärkten. „Late Show“ ist der erste Roman mit der neuen Ermittlerin Renée Ballard. Zwei weitere Bücher mit ihr und Bosch zusammen hat Connelly bereits veröffentlicht. „Late Show“ ist ein klassischer Polizeikrimi mit Hauptaugenmerk auf den Ermittlungen und den Vorgängen im Polizeiapparat.

Angesichts der Prominenz des Autors ist es verwunderlich, dass dies mein erster Roman von Michael Connelly war, den ich gelesen habe. Allerdings auch sicherlich nicht mein letzter. Man merkt die Souveränität des Autors im raffinierten Plot, der sich um mehrere Fälle kreist und diese dann auch gekonnt verbindet, aber auch in der Figurenauswahl, den Dialogen und nicht zuletzt in der Themenauswahl, die von den Tücken der Polizeiarbeit, Korruption, mediale Deutungshoheit bis hin zu Sexismus (#metoo-Debatte) reicht. Die Sprache ist hart, manchmal zynisch, eben das, was man von einer Geschichte aus dem LAPD erwarten kann. Connelly weiß zudem, die richtigen Spannungsmomente zu setzen, aber dennoch die realistische Darstellung beizubehalten. Alles in allem ein wirklich guter Kriminalroman.

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Late Show | Erschienen am 25.03.2020 im Kampa Verlag
ISBN 978-3-311-12503-7
432 Seiten | 19,90 €
Bibliographische Angaben