Charlotte Link | Die Entscheidung
01Als ich den Strand entlang durch den Regen lief und mich idiotischerweise in eine Situation eingemischt habe, die mich nichts anging. Es war die falsche Entscheidung, im Bruchteil von Sekunden getroffen, und sie führte dann von einer Katastrophe zur nächsten, ohne dass ich die Chance auf einen Absprung sah. (Auszug Seite 238)
Simon verbringt die Weihnachtsfeiertage allein in Südfrankreich in dem Ferienhaus seines Vaters. Seine beiden Kinder haben kurzfristig ihren Besuch abgesagt, wohl nicht ohne Einfluss von Simons Exfrau. Mit seiner neuen Lebensgefährtin hat er sich zerstritten, weil er sie nicht offiziell in sein Leben integriert. Bei trüben Wetter macht er einen Spaziergang am Strand und trifft dabei auf die völlig verwahrloste, magere, durchgefrorene und hungrige Nathalie. Er hat Mitleid mit ihr und nimmt sie mit in seine Unterkunft. Dort wärmt sie sich auf und wäscht sich und ihre Kleider. Simon möchte wissen, warum sie bei der Kälte obdachlos umherirrt und nach und nach erzählt Nathalie von dem Anruf ihres Freundes Jérôme, der sie zu einer schnellen Flucht aus Paris drängt, ohne Umwege und jetzt sofort. Nathalie hat in dem Moment weder Geld noch persönliche Sachen bei sich. Beide wollten sie sich hier in Südfrankreich bei der Ferienwohnung von Jérômes Onkel treffen. Nach und nach wird Simons Entscheidung, dem Mädchen zu helfen, zu einer verworrenen Geschichte, bei der keiner weiß, wie etwas zusammenhängt, wer welche Rolle spielt und zu einem echten Albtraum.
Simon ist in den Vierzigern, arbeitet als freier Übersetzer und verdient dabei nicht besonders gut. Er hat zwei Kinder mit seiner Exfrau Maya und war vierzehn Jahre lang verheiratet. Über die Scheidung ist er jetzt so langsam hinweg und hat seit sechs Monaten eine Beziehung mit Kristina. Aus Rücksichtnahme auf die Kinder, wie Simon sich einredet, hat er Kristina aber noch keinem aus seinem engeren Umfeld vorgestellt. Dadurch kommt es immer wieder zum Streit zwischen den beiden. Simon möchte es allen Recht machen und ist immer verständnisvoll und Harmonie suchend. Aus diesem Grund nutzt ihn vor allem Maya aus, denn sie lädt die Kinder bei ihm ab, wie es ihr in den Kram passt und behält sie bei sich, wenn sie Simon damit eins auswischen kann und manipuliert ihn.
Nathalie hatte eine schlechte Kindheit. Der Vater hat die Familie früh verlassen und meldet sich dann nur noch in Form von Unterhaltszahlungen. Danach wurde die Mutter depressiv und alkoholsüchtig, mit den Folgen, dass Nathalie an Magersucht erkrankt. Später kommt sie zu einer Pflegemutter und lernt dann Jérôme kennen. Sie sieht Jérôme wie einen Rettungsanker, der sie aus ihrem Leben befreit. An ihrem achtzehnten Geburtstag bricht sie die Schule ab und zieht mit Jérôme nach Paris.
Die Entscheidung von Charlotte Link fand ich wahnsinnig spannend. Ich habe die 570 Seiten in zwei Tagen gelesen, also regelrecht „verschlungen“. Ich konnte das Buch wirklich nicht mehr aus der Hand legen. Die Geschichte liest sich sehr flüssig und die Spannung entsteht durch verschiedene Handlungsstränge und Erzählperspektiven, die abwechselnd vorkommen. Es wird nicht nur die Geschichte an sich aus Sicht von Simon geschildert, sondern auch Nathalies Kindheit in Ich-Form und das Leben einer bulgarischen Familie, die am Existenz-Minium lebt und kurz davor ist auf der Straße zu landen, bis die Eltern die fatalste Entscheidung in ihrem Leben treffen.
Am Ende hängt alles miteinander zusammen. Mir hat Nathalies Sicht am besten gefallen. Allerdings finde ich, dass das Ende etwas unbefriedigend ist. Außerdem werden zwar keine detaillierten Todesursachen geschildert, die Geschichte ist also kaum blutig, trotzdem gibt es für mich etwas viele Tote. Mir ist bewusst, dass bei dem Thema Menschenhandel sicherlich keiner Skrupel hat, jemanden umzubringen, aber in dem Buch ist es ja nicht die Wirklichkeit, sondern trotzdem noch eine erfundene Geschichte. Diesen beiden kleinen Mankos bereiten dem Lesevergnügen aber überhaupt keinen Abbruch.
Charlotte Link wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren und lebt auch dort in der Nähe. Inzwischen hat sie 27 Bücher geschrieben, wovon 17 verfilmt wurden. Die Autorin hat darunter eine Jugendbuchreihe veröffentlicht. Die Gesamtauflage ihrer Romane ligt bei über 26 Millionen. Charlotte Link engagiert sich als aktive Tierschützerin bei PETA und für Straßenhunde in der Türkei und Spanien.
Rezension und Foto von Andrea Köster.
Die Entscheidung | Erschienen am 5. September 2016 bei Blanvalet
ISBN 978-3-76450-441-0
576 Seiten | 22,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe