Monat: April 2018

Tim Herden | Schwarzer Peter

Tim Herden | Schwarzer Peter

Damp kam auf der Gegenseite mit dem Streifenwagen angefahren. Kein Blaulicht. Es konnte also nicht dringend sein. Damp hatte wieder die alte grüne Uniform an. Er ließ die Seitenscheibe herunter, winkte kurz Claasen zu, doch der erwiderte nicht seinen Gruß, sondern fuhr einfach los. Dann wandte sich Damp an Rieder: „Ein Toter liegt am Schwarzen Peter.“ (Seite 48)

Bei der Beerdigung des Unternehmers Werner Gilde in Kloster auf Hiddensee kommt es zum Streit zwischen Sohn und Witwe. Beide beschuldigen sich, für den Tod von Gilde verantwortlich zu sein. Die beiden Inselpolizisten Ole Damp und Stefan Rieder nehmen sich der Sache an und beginnen zu ermitteln. Dann kommt es zu einem weiteren Todesfall. Handelt es sich in beiden Fällen um Mord?

Rieder

Stefan Rieder ist vor einem Jahr von Berlin nach Hiddensee gekommen, um eine „Auszeit“ zu nehmen. In diesem Jahr ist schon ziemlich viel passiert: diverse Mordfälle wurden aufgeklärt, Rieder war in eine Undercover-Ermittlung involviert und hat einige Frauen kennen und lieben gelernt. Seine letzte Freundin, die ein Café in Neuendorf betrieben hat, ist vor kurzem nach Mallorca geflüchtet. Rieder wohnt in Vitte in einem kleinen Kapitänshaus mit Außentoilette.

Hiddenseer Künstlerinnenbund

Schwarzer Peter von Tim Herden ist der fünfte Insel-Krimi um Damp und Rieder. Ich muss zugeben, dass ich mich wahnsinnig auf dieses Buch gefreut habe, da der letzte Teil Harter Ort bereits vor zwei Jahren erschienen ist. Besonders gelungen finde ich die detaillierten und wahren Insel-Schauplätze der Ermittler, immer auch verbunden mit ein bisschen Wahrheit. In diesem Buch geht es um die Gemälde des Hiddenseer Künstlerinnenbundes, also um die Werke von Frauen, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Insel niedergelassen und gemalt haben.

Gegensätzliche Ermittler

Die Protagonisten Damp und Rieder sind sehr unterschiedlich. Ole Damp ist der große, übergewichtige Polizist, der die Arbeit nicht gerade erfunden hat und sich am meisten freut, wenn er einen Radfahrer ohne Licht oder mit Handy am Ohr mit einem Bußgeldbescheid ausstatten kann. Rieder ist das genaue Gegenteil: Er stürzt sich in die Arbeit, gerade bei Mordfällen, behält den Überblick und ist auf Zack. Rieder wird bei den Insulanern auch besser aufgenommen und akzeptiert, so bekommt er schon mal ein Geheimnis aus den eher verschlossenen Bewohnern raus.

Wahre Schauplätze

Besonders toll an diesen Krimis finde ich, dass das Leben auf der Insel wirklich so beschrieben wird, wie es auch ist. Also abgesehen von den vielen Morden. Mein Mann und ich haben uns in einem Sommer auch schon mal den Spaß gemacht und sind mit dem Rad auf der Insel alle Schauplätze aus den Geschichten abgefahren und sind tatsächlich immer fündig geworden. Die Ermittler gefallen mir, weil sie oft „frei Schnauze“ reden, also ziemlich locker sind und sich nicht so gewählt ausdrücken, und es oft auch witzig ist. Dieses Buch bekommt Spannung, weil immer wieder eine Spur verfolgt wird, die sich dann doch in Luft auflöst und die Recherchen von vorn beginnen müssen. Für den Fall wird eine SOKO gebildet und Rieder und Damp bekommen Unterstützung, allerdings geht eine Ermittlerin gern auch unkonventionelle Wege und bringt damit teilweise alle in Schwierigkeiten.

Letzter Teil?

Das Buch lässt die Vorfreude auf meinen Sommerurlaub auf Hiddensee ansteigen. Leider habe ich die Seiten verschlungen und hatte nur zwei Tage Lesevergnügen. Normalerweise habe ich mich sonst immer damit getröstet, dass es in zwei Jahren ein neues Buch gibt, aber das Cover lässt erahnen, dass das diesmal nicht der Fall sein wird. In einem Interview mit dem MDR hat der Autor auch sowas durchblicken lassen.

Tim Herden wurde 1965 in Halle (Saale) geboren, ist seit 1991 Fernsehredakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk und Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, er leitet seit 2016 das MDR-Fernsehstudio dort. 2010 veröffentlichte er seinen ersten Hiddensee-Krimi Gellengold.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Schwarzer Peter | Erschienen am 6. März 2018 im Mitteldeutschen Verlag
ISBN 978-3-95462-758-5
308 Seiten | 12.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andreas Rezension zu Tim Herdens Insel-Krimi Harter Ort

14. April 2018

Susanne Goga | Nachts am Askanischen Platz

Susanne Goga | Nachts am Askanischen Platz

Man hatte den Toten auf den Schulhof getragen, auf eine Plane gelegt und bis zum Kinn zugedeckt. Leo war bewusst, dass der eine oder andere schockiert sein würde – die Sekretärin wurde als Erste gerufen, damit sie es rasch hinter sich bringen konnte. Ein Schupo stand bereit, um ihr im Falle einer Ohnmacht beizustehen. (Auszug Seite 46)

Der Tote auf dem Schulgelände

Das Berlin der goldenen 1920er Jahre bildet die Kulisse für Susanne Gogas Serie um den Kriminalkommissar Leo Wechsler. In dem sechsten Teil der Reihe ermittelt die Polizei im Falle eines unbekannten Toten, der auf einem Schulgelände entdeckt wird. Der schäbig gekleidete Mann, der im Geräteschuppen des Berliner Gymnasiums im Januar 1928 erwürgt aufgefunden wird, kann erst mal nicht identifiziert werden. Bei der Obduktion wird festgestellt, dass der Leichnam diverse Narben, Brüche und eine verheilte Schusswunde aufweist. Diese Merkmale sowie der unterernährte Zustand deuten auf Kriegsverletzungen hin. Viele ehemalige Soldaten waren nach dem 1. Weltkrieg in Gefangenschaft geraten und danach traumatisiert nicht mehr auf die Beine gekommen.

Für Leo Wechsler und seine Kollegen Robert Walther und Jacob Sonnenschein gestalten sich die Recherchen mühsam. Einziger Hinweis ist eine russisch sprechende, hilflos wirkende Frau. Diese hatte einige Tage zuvor verzweifelt in dem neben der Schule befindlichen Theater nach ihrem Verlobten, einem Mann namens Fjodor, gesucht.

Das Cabaret des Bösen

Der Fokus der Ermittlungen richtet sich nun auf das Varieté-Theater, in dem Schauerstücke aufgeführt werden. Das „Cabaret des Bösen“ ist ein Grusel- und Horrortheater, zurückgehend auf ein Pariser Vorbild und bietet ein besonders makabres Unterhaltungsprogramm. Den leicht anrüchigen Ruf verstärkt das Aussehen des Theaterdirektor Louis Lemasque noch. Dieser charismatische wie zwielichtige Mann versteckt sein durch eine Kriegsverletzung grausam entstelltes Gesicht nicht durch eine Maske oder einen Bart.

Die Suche nach der mysteriösen Russin führt unter anderem in eine Barackensiedlung am Tempelhofer Feld, wo russische Flüchtlinge unter einfachen Verhältnissen untergebracht sind und zum Schlesischen Bahnhof, wo sich eine Anlaufstelle für jüdische Flüchtlinge aus dem Osten befindet.

Wechsler will einer Spur nach Stuttgart nachgehen und lässt sich von Kriminalkommissar Ernst Gennat die für die damalige Zeit nicht alltägliche Dienstreise per Zug genehmigen. Der engagierte Oberkommissar ist sehr eingespannt und hat wenig Zeit für sein Privatleben. Trotzdem spürt er, dass sein halbwüchsiger Sohn Georg sich von ihm entfernt. Aber erst durch die Beobachtungen seiner Frau Clara kommt raus, dass Georg seit einiger Zeit heimlich und hinter dem Rücken seiner Familie mit der Hitlerjugend sympathisiert.

Mit der Figur des Oberkommissars Leo Wechsler ist der Autorin ein sympathischer, integrer sowie feinfühliger Charakter gelungen. Der intelligente Leo ist bei seinen Kollegen und Vorgesetzten gleichermaßen beliebt und angesehen. Er handelt überlegt und behält auch in Problemsituationen, wie die mit seinem Sohn, die Nerven und reagiert meistens souverän. Der ehemaliger Witwer mit zwei Kindern ist wieder sehr glücklich in zweiter Ehe mit der Buchhändlerin Clara verheiratet. Abgründe sucht man hier vergeblich. Mir ist er ein bisschen zu glatt gelungen, aber trotzdem hat er das Zeug zum beliebten Serienermittler, von dem ich gerne in weiteren Fällen lesen würde.

Susanne Goga hat in einem angenehmen, emphatischen und sehr flüssigen Schreibstil einen vielschichtigen Krimiplot mit viel klassischer Dektektivarbeit erschaffen, der durchaus zu unterhalten und zu fesseln vermag. Aus dem Thema des gruseligen Horrortheaters hätte man vielleicht mehr machen können. Nach einem ziemlich makaberen Prolog ist davon nicht mehr viel zu spüren. Der Krimi endet in einem spannenden Showdown und hätte vielleicht noch die ein oder andere Wendung vertragen.

Nasenjoseph

Susanne Goga hat akribisch recherchiert und die Atmosphäre im Berlin der 1920er Jahre hervorragend und präzise dargestellt. Noch geht es einigermaßen friedlich zu, doch die ersten Anzeichen der Nationalsozialisten tauchen am Horizont auf. Goga thematisiert unter anderem die Schicksale der Kriegsversehrten und arbeitet auch einige historisch belegte Charaktere ein, wie den Schönheitschirurgen Professor Jacques Joseph. Der als Nasenjoseph bekannt gewordene plastische Chirurg war äußerst erfolgreich auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktionen an oft grausam entstellten Kriegsverletzten. Auch der schon zu Lebzeiten zur Legende gewordene Kriminalrat Ernst Gennat darf hier nicht fehlen. Der schwergewichtige Buddha vom Alexanderplatz gilt als Wegbereiter der modernen Polizeiarbeit. Informativ fand ich den im Anhang gegebenen Überblick über die im Roman auftauchenden real existierenden, historischen Persönlichkeiten.

Fazit

Es wundert nicht, dass es mittlerweile eine ganze Anzahl von Krimis gibt, die in Berlin in dieser brisanten Zeit spielen. Berlin war damals eine der bedeutendsten Metropolen Europas mit einer immensen Anziehungskraft. Ich kann Nachts am Askanischen Platz nur jedem empfehlen, der Interesse an dieser vielfältigen Epoche hat. Die Einbindung des historischen Kontextes gelingt der Autorin perfekt ohne zu plakativ zu wirken. Die Darstellung der damaligen Lebensverhältnissen fügt sich homogen in den Krimiplot ein, ohne dass historische Fakten aufgedrängt werden. Goga versteht es, Zeitgeschichte geschickt mit einem Kriminalfall zu verknüpfen, auch wenn ich das an anderer Stelle schon mal schillernder gelesen habe.

Susanne Goga

Benedict Cumberbatch wäre ihre Traumbesetzung für die Figur des Leo Wechsler. Das verriet die in Mönchengladbach lebende Autorin und freie literarische Übersetzerin. Für ihre historischen Romane wurde sie mit diversen Preisen ausgezeichnet. Am Berlin der Weimarer Zeit fasziniert sie, dass sich dort alle guten und schlechten Entwicklungen dieser Jahre potenzierten. Für das nötige Lokalkolorit ihrer Milieuschilderungen wälzte sie Fotobände, alte Telefonbücher und Stadtpläne und erkundigte sich bei Polizeiexperten sowie Historikern.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Nachts am Askanischen Platz | Erschienen am 9. Februar 2018 bei DTV
ISBN 978-3-423-21713-2
320 Seiten | 10.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

12. April 2018

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Ein Thriller soll der Roman sein, der erste Versuch der Autorin auf diesem Gebiet, denn bisher hat sie eher Frauenromane geschrieben, Heimat- und Liebesschnulzen mit so sinnigen Titel wie „Mein Leben in 80 B“, „Lara, Latex, Landlust“ oder „Herz auf Sendung“. Das Krimi-Debüt ist in meinen Augen gründlich gescheitert, obwohl Anja Goerz, die im Übrigen als Radiomoderatorin arbeitet, eigentlich alles einführt, was ein guter Thriller hätte werden können.

Der Neunjährige Lewe wartet allein mit seinem Hund im Haus seiner Großmutter auf die Rückkehr von Mutter Insa und Oma Grete, die nur kurz zum Einkaufen ins Dorf wollten. Das liegt abgelegen in Rodenäs unmittelbar an der Grenze zu Dänemark, die Autorin ist selbst hier aufgewachsen und kennt insofern Land und Leute. Bis in die siebziger Jahre sprach hier ein Drittel der Einwohner fünf Sprachen, Hochdeutsch, Plattdeutsch, Friesisch, Dänisch und Südjütisch! Diese Besonderheit hätte die Autorin verarbeiten können, aber mit dem Besonderen hat es die Autorin nicht so, stattdessen gibt Allgemeinplätze, Vorurteile, Klischees.

Wohl um die Spannung zu erhöhen und um einige völlig unlogische und unsinnige Handlungen plausibel zu machen, erfindet Anja Goerz einen Schneesturm, wie ihn Nordfriesland seit der Katastrophe im Dezember 1978 nie wieder gesehen hat, um das einsame Haus am Deich noch mehr zu isolieren. Lewe macht sich Sorgen, weil seine Mutter nicht an ihr Handy geht, also ruft er Vater Bendix an, der zu einem seiner seltenen Besuche bei seiner Mutter ebenfalls erwartet wird. Aber er sitzt nach seinem Rückflug aus den USA, wo der IT-Spezialist beruflich unterwegs war, auf dem Flughafen in London fest, denn auch hier schneit es heftig.

Bendix beruhigt seinen Sohn und versucht seinerseits immer wieder, Insa zu erreichen, es meldet sich aber nur die Mailbox. Das liegt daran, dass sie auf der Rückfahrt vom Einkauf einen Autounfall hatte, der offenbar inszeniert war, denn als sie nach dem Unfallverursacher schauen will, wird sie niedergeschlagen. Als sie zu sich kommt, findet sie sich mit der Schwiegermutter gefangen und gefesselt in einer finsteren Scheune. Schließlich gelingt es ihr, sich zu befreien, aber das überlebenswichtige Insulin für Grete kann sie nicht mehr rechtzeitig spritzen, die deshalb stirbt.

Insa versucht verzweifelt, sich zu Fuss und ohne Orientierung zum Haus am Deich durchzuschlagen, wo sie ihren Mann wähnt. Der ist inzwischen auf einer langen, beschwerliche Bahnfahrt durch den Eurotunnel nach Brüssel, weiter nach Köln, dann nach Hamburg und von dort nach Niebüll. Fünfzehn Stunden wird die Odyssee dauern, und Bendix ist mittlerweile sehr beunruhigt, denn Lewe ist sicher, dass ein Fremder im Haus ist.

Der alarmierte Vater setzt alle Hebel in Bewegung, um ihm zu helfen, bewegt den Dorfpolizisten dazu, nach dem Rechten zu sehen. Der fährt eher widerwillig und unter einigen Schwierigkeiten hinaus zu dem Haus, um dort eine Frau anzutreffen, die beteuert, sich um den kleinen Lewe zu kümmern, alles sei in Ordnung. Diese Nachricht versetzt Bendix erst recht in Panik. Er telefoniert den Akku leer, um alte Freunde, Nachbarn und Bekannte aus seinem Heimatdorf mit der immer gleichen Leier von Lewe allein zu Haus dazu zu bewegen, hinauszufahren an den Deich, aber niemand kann oder will dem Verzweifelten helfen. Wird es Bendix schaffen, rechtzeitig bei seinem Sohn anzukommen? Wird Insa sich im Schneechaos zu Lewe durchkämpfen können? Lässt Dorfpolizist Bruno sich noch einmal überreden einzugreifen? Das sind die Fragen, die sich der Leser stellen soll, andere Rätsel gibt es nicht, denn schon früh, sehr früh ist klar, was Anja Goerz hier erzählt.

Eine Geschichte, die bereits im Prolog aufgelöst wird, zumindest für jeden, der schon einmal von König Salomo gehört hat und seinem klugen, gerechten Urteil. Aber auch die nicht so Bibelfesten wissen nach wenigen Kapiteln ganz genau, welches Drama sich hier abspielt, der Thrill ist also schnell vorbei. Schade, die Grundidee ist doch gut, aber die Umsetzung ist für mein Empfinden kläglich gescheitert. Und trägt auch nur für gerade 250 Seiten, die noch dazu meist spärlich bedruckt sind; am Kapitelanfang jeweils mit 25 Zeilen, zum Ende jedes Kapitels häufig nur 3, 4, 5 Zeilen, auch mal 7 oder 8. Und es gibt, neben knappem Prolog und Epilog, 60! Kapitel, 11 davon „Henrike“ überschrieben. Sie ist, wie man bald erfährt, die Ex von Bendix, er hat sie verlassen, als sie heimlich die Pille absetzte, um schwanger zu werden. Das Kind verlor sie im dritten Monat, spätestens nach diesem Verlust ist sie psychisch schwer gestört, und natürlich ist sie es, die sich zu Lewe in das einsame Haus geschlichen hat. Aber sie will ihm nichts Böses, im Gegenteil, sie will, sie muss den Jungen beschützen, ihm helfen, auf ihn aufpassen, sich um ihn kümmern… Das wird tatsächlich mit diesen Worten immer wieder und wieder und wieder erzählt.

Der Roman erzählt auch und vor allem davon, wie Menschen miteinander umgehen, in einer Familie, in der es unter der harmonischen Oberfläche einige Probleme gibt, in einer Beziehung, in der aus obsessiver Liebe abgrundtiefer Hass wird. „Psychologische“ Aspekte also überlagern und verdrängen die Spannung.

Ich kann das alles verraten, weil es in diesem missglückten Thriller eh schon nach kurzer Zeit offensichtlich ist. Und Anja Goerz mogelt sich mit Müh und Not und einigen Längen, vielen nebensächlichen, überflüssigen, ja störenden Betrachtungen, mit zum Teil wörtlichen Wiederholungen innerhalb eines kurzen Kapitels zum vorhersehbaren Ende. Auch durch merkwürdige Stilmittel wird die dünne Story zumindest räumlich gestreckt:

„Achtung!“
Wo kam denn dies Auto auf einmal her?
Ein heftiger Stoß.
Scheppern.
Quietschende Reifen.
Ihr Wagen drehte sich um die eigene Achse, rutschte schnell in Richtung Straßengraben.
Wo war das Lenkrad?
Wo war oben?
Wieso funktionierte die Bremse nicht?
Schnee.

Was soll das? Natürlich, so bekomme ich die Seiten auch voll, ohne viel erzählen zu müssen. Und das, was erzählt wird, ist wahrlich nicht gut geschrieben, das Zitat mag einen Eindruck vermitteln. Ihre Figuren bleiben sämtlich merkwürdig blass und agieren gleichzeitig seltsam übertrieben. Der Dorfbulle zum Beispiel, Anja Goetz sagt in einem Interview und in ihrer Danksagung im Anhang, den habe sie wirklich als Kind kennengelernt, wird als Depp geschildert, der wahre Polizist wird sich freuen. Bendix, die Hauptfigur, ist absolut unsympathisch und ungehobelt, auch zu den anderen Personen konnte ich keine wirkliche Beziehung finden, die Beschreibung bleibt an der Oberfläche oder unvollständig und unverständlich. Einige Nebenfiguren, die tatsächlich überhaupt keine Rolle spielen, keinerlei Funktion haben und deren Auftreten ganz offensichtlich nur Seiten füllen sollen, sind entsprechend lieblos entworfen. Aber selbst mit dem kleinen Lewe konnte ich nicht wirklich mitleiden.

Schlicht, schlecht, hölzern, sperrig und platt, allerdings fast ohne Plattdeutsch – der Dorfkrämer versucht sich an einer Art „Missingsch“ und lediglich Karla, die zänkische Frau des Polizisten streut ganze zwei plattdeutsche Sätze ein in ihre endlosen Tiraden darüber, was ihrer Meinung nach im Haus von Oma Steensen vor sich geht. Sie will verhindern, dass Bruno noch einmal dorthin fährt, um die rätselhafte Frau bei Lewe doch noch einmal zu überprüfen. Schließlich macht er sich doch auf den Weg, Insa scheint auch die Richtung zu dem Haus gefunden zu haben, und Bendix ist endlich auch nur noch ein paar Kilometer entfernt. Wird einer der drei rechtzeitig ankommen in Rodenäs?

Der Leser kann sich denken, was passiert, wie ihn auch der bisherige Plot an keiner Stelle überrascht haben wird. Er wird auch schnell erlöst, denn der Schluss kommt kurz und schmerzlos. Allerdings, jetzt fließt tatsächlich noch Blut, aber gerade so viel, dass mit dem Verbandskasten aus dem Auto alles in den Griff zu bekommen ist. Statt den Roman abrupt enden zu lassen, hätte Frau Goerz an dieser Stelle tatsächlich noch ein paar Seiten schreiben sollen, in ein, zwei Kapiteln aufarbeiten sollen was von der Geschichte auf der Strecke geblieben ist.

Wenn ich dich hole von Anja Goerz ist pure Papier- und Zeitverschwendung, ein langsamer, langweiliger „Thriller“, dem es arg an Spannung mangelt und den ich niemandem empfehlen kann.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Wenn ich dich hole | Erschienen am 7. April 2017 bei DTV
ISBN 978-3-423-26147-0
256 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

10. April 2018

Ian McGuire | Nordwasser

Ian McGuire | Nordwasser

„Es ist wirklich ungeheuerlich“, sagt Brownlee. „Haben Sie jemals so etwas gehört? Ein kleines Mädchen ist eine Sache. Ein kleines Mädchen, das könnte ich noch halbwegs verstehen. Aber doch keinen verdammten Schiffsjungen, Herrgott, nein. Wir leben in bösen Zeiten, Campbell, das dürfen Sie mir glauben. Böse und widernatürlich.“
Campbell nickt.
„Ich nehme an, der liebe Gott verbringt nicht viel Zeit hier oben im Nordwasser“, sagt er mit einem Lächeln. „Höchstwahrscheinlich mag er die Kälte nicht.“ (Auszug Seite 143)

Hull, Nordengland, 1859: Im Hafen wird das Walfangschiff „Volunteer“ auslaufbereit gemacht. An Bord gehen unter anderem der in sich gekehrte irische Arzt Patrick Sumner und der raue und gefährliche Harpunier Henry Drax. Das Ziel sind die eisigen Gefilden des Nordwassers nordöstlich von Grönland. Schon bald ist klar, dass diese Fahrt unter keinem guten Stern steht, denn ein Schiffsjunge wird zunächst brutal missbraucht und schließlich ermordet. Doch das ist nur der Auftakt zu einer wahren Höllenfahrt.

Reise unter keinem guten Stern

Schon vor dem Auslaufen ist klar, dass es mit der Fahrt der „Volunteer“ kein gutes Ende nehmen wird. Seit einigen Jahren beginnt das Petroleum den Waltran als Brennstoff abzulösen, zudem ist die Überfischung an vielen Stellen der Weltmeere bereits spürbar. So hat der skrupellose Eigner der „Volunteer“ denn auch mit dem Kapitän Brownlee ausgeheckt, dass das Schiff von der Reise nicht zurückkehren soll, um damit die Versicherungssumme zu kassieren. Die Mannschaft erfährt davon freilich nichts. Bis dahin soll aber durchaus der Laderaum gefüllt werden. Ein Schwesterschiff ist in der Nähe, um Ladung und Mannschaft bei der geplanten Havarie im Eismeer aufzunehmen.

So beginnt die Reise zunächst wie gewohnt. Die Crew geht auf Robben- und Waljagd. Die Stimmung an Bord ist rau, allerdings ist das auf einem Walfänger Normalität. Patrick Sumner verarztet die üblichen Kleinigkeiten, bis auf einmal ein Schiffsjunge ihn um Schmerzmittel bittet. Sumner besteht auf einer genauen Untersuchung und entdeckt rektale Verletzungen durch eine Vergewaltigung. Sumner ist entsetzt, doch der Junge schweigt aus Angst und redet von einem Unfall. Der Kapitän will den Fall nicht weiter verfolgen. Kurze Zeit später ist der Junge verschwunden und wird schließlich erdrosselt und erneut missbraucht aufgefunden. Rasch wird ein vermeintlicher Täter ermittelt. Dieser gesteht seine Homosexualität, doch er bestreitet, sich je an Knaben vergangen zu haben. Doch das überzeugt den Kapitän nicht. Sumner allerdings hat von Beginn an Zweifel an der Täterschaft. Er verdächtigt einen anderen, den Harpunier Drax.

Diese beiden Männer bilden die beiden Antipoden dieser Geschichte. Patrick Sumner ist ein Arzt, bei dem sich einige fragen, warum er auf einem Walfänger anheuert. Doch Sumner hat quasi keine andere Wahl. Er war bei der Armee in Indien, hat sich dort während kämpferischer Handlungen auf eine Dummheit eingelassen. Daher wurde er unehrenhaft entlassen, aber was ihm viel schlimmer zusetzt, ist, dass ein kleiner Junge, der ihm dort das Leben rettete, durch seinen Fehler getötet wurde. Nun ist Sumner am Ende, hält sich vorwiegend mit Laudanum über Wasser und hofft, mit der Reise auf dem Walfänger Zeit zu überbrücken. Trotz all seiner Selbstzweifel und seiner Drogenabhängigkeit, ist jedoch von Beginn klar, dass Sumner die Moral in dieser Geschichte verkörpert, denn obwohl sein Glaube und auch seine Zuversicht in Indien abhanden gekommen scheint, ist die tief sitzende Moralität ungebrochen. Ganz im Gegensatz dazu ist Henry Drax die dunkle Seite. Der Harpunier ist ein ruppiger, gewissenloser Mann, gewalttätig, ohne Skrupel. Schon zu Beginn beobachtet der Leser ihn bei einem eiskalten Mord an einem Mann, der ihm im Pub beleidigt hat, und bei einem Missbrauch an einem Jungen. McGuire bescheibt ihn im Abgang zu diesen Szenen als „wilden, unheiligen Machinisten“. Drax ist selbstbewusst und geübt darin, mit seinen Taten ungestraft davon zu kommen. Er glaubt nicht daran, dass Sumner eine Bedrohung für ihn darstellt.

Überlebenskampf

Sie werfen die letzten Holztrümmer in die Flammen und warten gespannt darauf, dass ihre Retter eintreffen. Sie rauchen ihre Pfeifen und blicken erwartungsvoll in die halbdunkle Ferne. Sie reden über Frauen und Kinder, über Häuser und Felder, die sie wiedersehen, wenn sie überleben. Während das Feuer niederbrennt und der Tag anbricht, rechnen sie jeden Moment mit einem Boot, doch es kommt keines. Nach einer Stunde vergeblichen Wartens gerinnt ihr Optimismus, etwas Ranziges und Bitteres nimmt seinen Platz ein. (Seite 201)

Ich mag gar nicht zu viel vom Plot verraten, denn der Mord an dem Schiffsjungen bleibt nur ein Textaspekt dieses Romans. Es geht in die eisigen Gefilden östlich von Grönland, wo das Nordwasser auch im Winter keine geschlossene Eisdecke bildet. Trotzdem bietet es eine eindrucksvolle Kulisse für diesen Roman, in dem das Eis, Eisbären und einheimische Inuit ebenfalls noch ein wichtige Rolle spielen und wo es letztlich, so viel sei verraten, auch auf einen Überlebenskampf hinausläuft.

Autor Ian McGuire stammt aus Hull, ist Literaturwissenschaftler und unter anderem auf Hermann Melville spezialisiert, den Autor von Moby-Dick. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er den Walfang zum Sujet seines zweiten Romans machte. Nordwasser war 2016 auf der Longlist zum Man Booker Prize. Die sehr gelungene Übersetzung übernahm Joachim Körber, Autor, Übersetzer (vor allem von Stephen King) und Verleger der „Edition Phantasia“.

Dieses Buch birgt vielerlei Facetten. Es ist ein historischer Roman, ein Thriller, ein Abenteuerroman, ein Roman mit philosophischen und psychologischen Elementen. Es ist definitiv nichts für schwache Gemüter, es fließt eine Menge Blut, es gibt viel rohe Gewalt. Aber es gehört definitiv zum Besten, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Ein Roman über den Kampf von Gut und Böse, sprachlich eindrucksvoll, dazu äußerst spannend geplottet. Unbedingt lesen!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Nordwasser | Erschienen am 13. Februar 2018 im Mare Verlag
ISBN 978-3-86648-267-8
304 Seiten | 22.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Für den Bildhintergrund verwendete Gunnar ein Foto des NASA Goddard Space Flight Centers.

7. April 2018

Arno Strobel | Kalte Angst

Arno Strobel | Kalte Angst

Der Zettel stammte nicht von Kirsten, und was Max dort las, ließ schlagartig jedes Gefühl in ihm sterben – außer einem: kalte Angst. (Auszug Seite 364)

Eine Mordserie in Düsseldorf: Der Mörder dringt in Häuser ein, trägt eine Fliegenmaske und hinterlässt jedes Mal nur einen Überlebenden. Max Bischoff ermittelt als Fallanalytiker in diesem Fall. Bald erfährt er, dass ein Patient aus der Psychiatrie, ein verurteilter Mörder, die Taten vorhersagt. Dieser will der Polizei aber nur helfen, wenn er im Gegenzug die Freilassung erhält. Kann Max den Mörder stoppen?

Max Bischoff ist Anfang dreißig, groß, schlank und sportlich. Er hat gerade eine berufliche Auszeit hinter sich, da ihm sein letzter Fall doch sehr zugesetzt hat. Auch der aktuelle Fall lässt die Erinnerungen daran immer wieder aufleben. Außerdem wird Max Schwester Kirsten seit einem halben Jahr von einem Stalker auf Facebook bedroht und Max macht sich Sorgen um sie.

Blutige Beschreibungen

Kalte Angst von Arno Strobel hat mir sehr gut gefallen. Von Anfang an wird der Fall spannend erzählt. Hauptsächlich geht es um die Ermittlungsarbeit, ab und zu durchsetzt von einem Kapitel des Mordes aus Sicht der Opfer. Dabei wird die Tötungsakt recht detailliert und blutig beschrieben, ist also eher nichts für schwache Nerven. Immer wieder wird Bezug auf den ersten Fall von Max Bischoff genommen, dem Leser werden hier aber nur Bruchstücke verraten. Da ich das erste Buch nicht gelesen habe, fand ich es etwas anstrengend, dass nicht kurz detaillierter darauf eingegangen wurde, um es nachvollziehen zu können. Man braucht dieses Wissen nicht für den Roman, aber es hätte mich interessiert.

Zusätzlich ein Stalker

Max kümmert sich neben der Suche nach dem Mörder noch um seine Schwester Kirsten, die im Rollstuhl sitzt, da sie auf Facebook bedroht wird. Dieser Handlungsstrang ist nur ein Faden, der eingesponnen wird. Es kommt zu keinem abschließenden Ende, dafür wird auf den letzten Seiten verraten, dass im Februar 2019 ein neuer Thriller des Autors erscheint und es darin dann um Kirstens Stalker geht.

Ein kurzes Ende

Das gesamte Buch ist packend gestaltet, denn die Ermittlungsarbeit geht nicht voran. Das Team um Max ermittelt, befragt und recherchiert unter Hochdruck, doch es kommt zu keiner wirklichen Spur. Und auch der Psychiatriepatient spricht nur in Rätseln. Und immer wieder kommen neue Opfer dazu. Das Ende und die Auflösung sind dann kurz gehalten und für mich gab es nur eine kurze Stelle, an der ich buchstäblich die Luft angehalten habe. Für meinen Geschmack klingt der Hintergrund der Tat dann auch etwas weit hergeholt. Trotzdem lohnt es sich, das Buch zu lesen.

Arno Strobel wurde 1962 in Saarlouis geboren. Bevor er sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete er lange bei einer großen deutschen Bank in Luxemburg. Als Ausgleich zum Schreiben versucht Arno Strobel drei bis vier Mal in der Woche zehn Kilometer durch den Wald zu laufen. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Trier.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Kalte Angst | Erschienen am 11. Januar 2018 im Fischer Verlag
ISBN 978-3-596-29617-0
368 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Kurts Rezension zu Arno Strobels Thriller Die Flut sowie Monikas Rezension zu Das Dorf.