Kategorie: Ermittler

Rezensent

Karina Urbach | Das Haus am Gordon Place

Karina Urbach | Das Haus am Gordon Place

„Institutionen laufen immer Gefahr, in eine Art Gruppendenken zu verfallen. Der MI6 ist da keine Ausnahme. Wir brauchen Außenseiter, die anders denken, anders an diese ganze Sache herangehen, um den Fall zu lösen. Ich habe Ihnen auch nicht gesagt, dass ich ziemlich sicher bin, wer Gerald Fraser umgebracht hat. Aber ich kann es nicht beweisen. Und ich verstehe das Motiv dahinter nicht. Da ist eine große, gähnende Lücke. Und um sie zu füllen, brauche ich Sie.“ (Auszug Seite 188)

Nach einem anstrengenden Flug wird dem Historiker Professor Hunt die Einreise in die USA verweigert. Erst nach einer Nacht in der Flughafenarrestzelle erfährt er von Emma Spencer vom britischen Geheimdienst den Grund. In seiner Wohnung in London am Gordon Place wurde sein Nachbar Gerald Fraser erschlagen aufgefunden. Spencer bittet den Professor um Mithilfe bei der Aufklärung und Hunt kommt aufgrund seiner Recherchen und viel historischem Fingerspitzengefühl einer alten Geschichte auf die Spur, die mit Daphne Parson zusammenhängt, die nicht nur eine Legende in Spionagekreisen war, sondern auch Vorbesitzerin seiner Wohnung. Und nicht nur das. Drei weitere Bewohner der Luxusimmobilie waren kurz nach dem 2. Weltkrieg als Agenten des MI6 in Wien eingesetzt.

Wiener Abhörtunnel
In einer weiteren Perspektive wird immer wieder ins Wien der Besatzungszeit zurückgeblendet. Wien ist damals genau wie Berlin in vier Zonen eingeteilt, die Menschen hungern und verkaufen ihr letztes Hab und Gut, um zu überleben. Hier entsteht für die Leserin ein reales Bild der damaligen Lebensbedingungen in den Anfangszeiten des Kalten Krieges mit Schmuggel, Verbrechen und ehemaligen Nazis, die an- und abgeworben werden. Daphne Parson gehört zu einer Gruppe britischer Nachrichtenoffiziere, deren Aufgabe es ist, Informationen über die Gegenseite zu sammeln und in einem extra dafür gegrabenen Tunnel in Wien den sowjetischen Telefonverkehr abzuhören. Zutiefst schockiert erkennt Parson in einem dieser Telefonate die Stimme eines ehemaligen SS-Offiziers wieder, der sie Jahre zuvor in Griechenland gefoltert hatte. Die Möglichkeit zur Rache ergibt sich für Parson, als sie für eine verdeckte Operation eingesetzt wird. Ein früherer SS-Mann, der über den Verbleib geraubtes Nazi-Gold Bescheid weiß, soll aus seinem Versteck gelockt werden. Als der Einsatz scheitert, greift ein riskanter wie spektakulärer Plan.

Der dritte Mann
Um in den russischen Sektor Wiens zu gelangen, werden Agenten des britischen Geheimdienstes als Hilfskräfte zu den Dreharbeiten zum Film „Der dritte Mann“ eingeschleust. Die Verfilmung von Graham Greenes Roman spielt am Wiener Prater, der sich damals im sowjetischen Sektor befand, aber auch in den Abwasserkanälen des Wiener Untergrunds. Diese geheimnisvolle sowie gefährliche Operation bildet den Höhepunkt, die Verknüpfung mit dem 1949 entstandenen Filmklassiker Noir ist für mich das Highlight in diesem Agenten-Thriller. Die realen Umstände der Dreharbeiten spielen dabei eine besondere Rolle. Vor allen Dingen, wenn man weiß, dass alle wichtigen Mitarbeiter der Filmcrew, der Autor Greene, die Filmemacher Korda, Reed und Montagu dem britischen Geheimdienst nahe standen, so dass bis heute in weiten Teilen völlig unklar ist, was sich wirklich in den Abwasserkanälen zugetragen hat. Die Gerüchte, die aufwendigen Dreharbeiten dienten nur als Tarnung und wären nur ein perfides Ablenkungsmanöver für nachrichtdienstliche Arbeiten, verstummten nie.

„Orson Welles hat sich bisher geweigert runterzukommen, der hat einen Sauberkeitsfimmel und glaubt, sich hier was einzufangen. Das wird schwierig mit dem, der besteht auf einem Double….“ (Auszug Seite 266)

In einem interessanten Nachwort erfährt man, dass es den Wiener Abhörtunnel tatsächlich gab und dass viele der Akteure reale Vorbilder haben, allen voran Daphne Parson, die in Teilen auf der MI6-Agentin Daphne Park, später Baroness Park of Monmouth basiert. Park war eine Legende, im Geheimdienst bekannt für ihre Loyalität und Nervenstärke und einer der wenigen Frauen, die schon Ende der 1940er Jahre für den MI6 arbeiteten. Dabei wusste sie auch ihr harmloses Aussehen (Miss Marple-Look-alike) einzusetzen.

Fazit
Karina Urbach ist eine aus Düsseldorf stammende habilitierte Historikerin und das merkt man jeder Zeile ihres Krimis an. Faktenreich und sehr fundiert entfaltet sich auf zwei Erzählebenen eine fesselnde Geschichte. In einem Mix aus Krimi und historischem Agenten-Thriller verbindet die Autorin reale Geschehnisse und Fiktion recht unterhaltsam, ohne dass es nach dröger Geschichtsstunde anmutet. Wien im Jahr 1948 und die teure Londoner Wohngegend in der heutigen Zeit werden bildhaft dargestellt und die handelnden Figuren darin lebendig eingearbeitet.

Ich kannte die Autorin vorher nicht, aber als großer Fan von Spionage-Geschichten werde ich mir mal ihren 2018 mit mehreren Preisen ausgezeichneten Roman „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“ noch unter ihrem Pseudonym Hannah Coler ansehen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Das Haus am Gordon Place | Erschien am 20. März 2024 im Limes Verlag
ISBN 978-3-8090-2766-9
384 Seiten | 18,00 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Am Ende einer unbefestigten Straße kommen sie an den Arkansas River. Der Fluss entspringt in Colorado, dort ist das Wasser frisch und kühl wie in einer Bierwerbung. Nachdem er die Ozarks passiert hat, wo er durch ausrangierte Matratzen und Geschirrspüler fließt und den ganzen übrigen Müll, den die Rednecks in den Bergen abladen, hat der Fluss die Farbe von Kakao und riecht wie abgestandenes Bier. (Auszug S. 138)

Denton ist ein Kaff in Arkansas, in den Hügeln der Ozarks. Irgendwo im Nirgendwo, im abgehängten Teil der USA. Größtes Aushängeschild des Ortes sind die Denton Pirates, das örtliche High School Footballteam. Die Pirates befinden sich nach langen harten Jahren auf Play Off-Kurs. Hoffnungsträger der Mannschaft ist Running Back Billy Lowe. Ein sehr talentierter junger Mann, der allerdings aus sehr schwierigen Verhältnissen kommt. Er wächst im einem Trailer mit seiner alkoholabhängigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater auf. In Billy brodelt es. Nur beim Football gibt hat er Gelegenheit, seine angestaute Wut und Aggressivität herauszulassen, was dazu führt, dass er die Grenzen nicht immer einhält. Als er beim Training einen Mitspieler verletzt, gerät eine tragische Spirale in Gang.

Mehrere Eltern und auch der Schulleiter fordern vom Footballcoach Trent Powers Konsequenzen. Doch dieser zögert, denn zum einen ist der Erfolg der Mannschaft stark von Billys Leistung abhängig und zum anderen erkennt er sich selbst in diesem wütenden und frustrierten Heranwachsenden wieder, da Powers als Kind durch verschiedene Pflegefamilien gereicht wurde. Dennoch droht Billy eine interne Sperre beim ersten Play off-Spiel. Zuhause kommt es zum einem Streit, Billy Mutter Tina verlässt mit Billys kleinem Bruder den Wohnwagen, der Stiefvater Travis bedroht Billy. Dieser schlägt ihn nieder und verlässt den Trailerpark. Später wird Travis von Tina tot aufgefunden, auch wenn sie zunächst nichts unternimmt, um den Tod zu melden. Währenddessen nimmt Coach Powers Billy bei sich zuhause auf, um ihn auf den rechten Pfad zu bringen. Doch damit bringt er zusätzlich noch seine Tochter Lorna, etwa gleichalt wie Billy, mit ins Spiel.

Ich nicke und lass den Kopf hängen. Will, dass sie glaubt, sie hätte mich erwischt. Ich hör, wie Lorna ausatmet, als ob sie auch nicht glaubt, dass ich das Buch gelesen hab. Ich schau hoch und guck nur Lorna an, will, dass sie mir bis in mein Herz guckt und weiß, dass sie mir vertrauen kann. Dass ich alles Mögliche bin – aber kein Lügner. (Auszug S. 196)

Mit diesem Roman gewann Eli Cranor als Debütant 2023 den Edgar Award. „Bis aufs Blut“ ist einer dieser typischen Country Noirs, die dem Leser vom abgehängten Teil der USA erzählen. Vom White Trash, von Trailerparks, Alkoholabhängigkeit, Perspektivlosigkeit. Von Rednecks, Rassismus, Konservatismus. Von Gegenden, in denen Leute schief angeguckt werden, wenn sie den Müll trennen oder ein Elektroauto fahren. Wie die Powers zum Beispiel, eine kalifornische Familie, die ein Jobangebot als Footballcoach für den bis dahin erfolglosen Trent in die Ozarks verschlagen hat und die am liebsten heute als morgen dort wieder wegwollen. Dafür ist aber eine erfolgreiche Footballsaison vonnöten. Insbesondere Trents Frau Marley ist bereit, einiges zu tun, um die Familie zu schützen und Denton bald hinter sich zu lassen. Wie viel, wird der Leser im Laufe des Romans herausfinden. Doch das betrifft auch Billys Mutter Tina. Wieder einmal sind es die Frauen, die der Geschichte nochmal eine entscheidende Wendung geben.

Der Roman erzählt aus mehreren Perspektiven, darunter aus Billys als Ich-Erzähler, eine Story von Wut, Perspektivlosigkeit und fehlendem Vertrauen. Dabei setzt Autor Eli Cranor auch auf den Kontrast zwischen den Lowes als Unterschicht und der Powers als (noch) gut situierte Familie. Dabei bewegt sich Cranor für meinen Geschmack an einigen Stellen hart am Schema F. Denn so mache der Figuren und manches im Plot glaubt man wiederzuerkennen. Dennoch ist „Bis aufs Blut“ bei allen (kleineren) Schwächen kraftvoll und stringent erzählt, besonders eindringlich in den Ich-Erzähler-Passagen von Billy. Insofern ist der Roman für alle Liebhaber dieses Genres sicherlich einen Blick wert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Bis aufs Blut | Erschienen am 17.04.2024 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-179-4
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Don’t Know Tough | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Elmore Leonard | Letztes Gefecht am Saber River

Elmore Leonard | Letztes Gefecht am Saber River

Elmore Leonard ist natürlich eine Legende der Kriminalliteratur. Der 2013 verstorbene Autor veröffentlichte mehr als 40 Romane. Leonards Romane waren dabei vor allem Milieuschilderungen und Gangsterromane, dialoglastig und mit szenischem Stil. Daher wurden zahlreiche seiner Romane auch verfilmt, etwa „Get Shorty„, „Jackie Brown“ oder „Out Of Sight“. Seine Autorenkarriere begann Leonard allerdings wie bei so einigen anderen als Autor von Westerngeschichten und Westernromanen. Begannt aufgrund der anschließenden Verfilmungen sind etwa „Valdez“ oder „3:10 to Yuma„. Die Geschichte des Westernautors Elmore Leonard lässt sich übrigens in zwei interessanten Beiträgen von Alf Mayer und Frank Göhre im Crimemag online nachlesen. Dennoch sind von Leonards Western bislang nur ein paar ins Deutsche übersetzt. Der Liebeskind Verlag, in Sachen Neu- und Wiederentdeckungen von Western im letzten Jahrzehnt sehr umtriebig, hat sich nun eines Romans aus dem Jahre 1959 angenommen: „Last Stand At Saber River“.

Im Frühjahr 1865 ist der amerikanische Bürgerkrieg in seinen letzten Zügen, allerdings bekommt man davon im Tal des Saber River in Arizona nicht viel mit. Paul Cable ist ein Veteran der Konföderierten, hat zwei Jahre gekämpft, wurde verwundet und kehrt nun mit seiner Frau Martha und seinen drei Kindern zurück auf sein Stück Land. Doch vorher kommt er am Gemischtwarenladen Denaman’s Store vorbei. Doch anstelle des alten Denaman hat ein anderer den Laden übernommen. Edward Janroe, auch er ein Veteran, hat einen Arm im Krieg gelassen. Er konfrontiert Cable direkt damit, dass sich jemand anderes auf seinem Land und in seinem Haus breit gemacht hat. Sein Nachbar auf der anderen Seite des Bergkamms, Vern Kidston, hat seine Pferde auf Cables Weide getrieben und einige seiner Männer in Cables Haus untergebracht.

„Nun…“, Cable hielt das Glas hoch und betrachtete es im Licht, das durch das Fenster hinter Janroe fiel, „ich kann es ihm nicht verdenken, es ist gutes Weidegras.“ Er nahm einen Schluck von dem süßliches Schnaps. „Aber nun wird er dafür sorgen, dass seine Männer abziehen. Das ist alles.“
„Glauben Sie das?“
„Wenn er das Haus nicht räumt, hole ich das Gesetz.“
„Welches Gesetz?“. (E-Book Pos. 223)

Das ist allerdings ein Problem, denn Vern Kidston beliefert das nahegelegene Camp der Unionssoldaten. Cable kann kaum auf Unterstützung hoffen. Dennoch zieht er los und vertreibt Kidstons Männer. Doch das kann Vern natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Die Eskalationsschraube zieht an und im Hintergrund hat Janroe seine ganz eigene Agenda.

Für einen Augenblick dachte er: Man kann auch zu ehrlich mit sich sein und alles verlieren. Er zögerte, weil dies ein einfaches Prinzip war, fast eine Frage von Schwarz oder Weiß, und welche Grautöne auch immer auftauchten, welche Zweifel er auch immer haben mochte, sie wären nicht stark genug, um einen Mann kaltblütig zu erschießen. (E-Book Pos. 2728)

Drei Männer stehen offen im Vordergrund der Geschichte: Paul Cable, der Veteran, der sich sein Land und Haus mit Recht zurückholt und dies auch verteidigt, Vern Kidston, der das Recht des Stärkeren für sich beansprucht, aber die totale Konfrontation zunächst vermeidet sowie Edward Janroe, der auch als Versehrter sich weiterhin im Dienst der Südstaaten befindet und nun eine Gelegenheit sieht, den Krieg auch ins Tal des Saber River zu tragen. Daneben gibt es allerdings auch drei starke Frauenfiguren, die wesentlich den Lauf der Dinge mitbestimmen: Cables Ehefrau Martha, die er in den wichtigsten Fragen wie selbstverständlich zu Rate zieht, die junge Mexikanerin Luz, die in Denaman’s Store arbeitet und ein enges Verhältnis zu den Cables hat und Verns junge Nichte Lorraine, die aus Langeweile das Taktieren der Männer durchkreuzt oder anheizt.

Von einem klassischen Western erwartet der Leser zurecht Helden, Schurken, Pferde, Pistolenduelle und die Weite des mittleren Westens. All das liefert Elmore Leonard routiniert mit cleveren Perspektivwechseln und einem hohen Spannungsbogen ab. Doch das wirklich Spannende sind die weiteren Zutaten: Der Krieg, der nicht aus den Köpfen geht, die Moral und Zweifel einzelner Figuren, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen und die bedeutende Rolle der Frauen in dieser Story. Das alles macht „Letztes Gefecht am Saber River“ zu einem ziemlich modernen Western und auf jeden Fall zu einem lesenswerten Roman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Letztes Gefecht am Saber River | Im Original erschienen 1959
Erschienen am 04.03.2024 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-176-0
256 Seiten | 22,- €
als E-Book: ISBN 978-3-95438-180-7 | 14,99 €
Originaltitel: Last Stand at Saber River | Übersetzung aus dem Englischen von Florian Grimm
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Extras (1) und (2) zu Elmore Leonard als Westernautor im Crimemag

John Galligan | Bad Axe County

John Galligan | Bad Axe County

Bad Axe County ist ein fiktiver Ort im ländlichen Südwesten von Wisconsin, führend in der Milchproduktion und bekannt als „America’s Dairyland“. Das Landesinnere ist von Wäldern, feuchten Wiesen und den sogenannten Coulees geprägt. Das sind tiefe Täler mit kleinen Bächen, die bei starkem Regen schnell mal zu reißenden Strömen anschwellen. Als der alte Sheriff Raymond Gibbs unerwartet verstirbt, wird Officer Heidi Kick bis zur eigentlichen Wahl Interims-Sheriff. Heidi, Mutter von drei kleinen Kindern und verheiratet mit der lokalen Baseball-Legende Harley Kick, bemüht sich nach Kräften, Recht und Ordnung beizubehalten. Das erweist sich als schwierig. Ein weiblicher Sheriff ist für viele an sich schon eine Provokation. Besonders Elvin „Boog“ Lund, langjähriger Deputy, der sich selbst große Hoffnungen auf die Sheriff-Nachfolge macht, lässt keine Gelegenheit aus, der ehemaligen Milchkönigin das Leben schwer zu machen. Für einige der Polizisten, die dem korrupten, bewusst wegsehendem System Gibbs nachhängen, stellt Heidi in dieser von Männern dominierten Welt mit ihrer Integrität eine Gefahr dar. Nur ihre Dispatcherin Denise und Deputy Olaf der Schöne halten unerschütterlich zu ihr.

Heidi kämpft aber auch mit einem eigenen Trauma. Vor 12 Jahren, sie war grade 17 Jahre alt, wurden ihre Eltern auf ihrer Milch-Farm ermordet. Angeblich hätte ihr Vater ihre Mutter und dann sich selbst erschossen. Der Fall wurde schnell zu den Akten gelegt. Daran konnte Heidi nie glauben und stellt schon seit Jahren eigene Nachforschungen an.

Denn ihre Erschießung von Dalton Rockwell war keine beschlossene Sache gewesen. Auf jenem schneeverwehten Stoppelfeld in Iowa – sie war blind vor Alkohol und Gras, genau wie Rockwell – hatte er um sich geschlagen und sie hatte ihn schlichtweg verfehlt, zweimal, und das waren alle Patronen, die sie hatte. Rockwell hatte geschworen, dass er zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Mom und ihr Dad umgebracht wurden, im Knast gewesen war, und das stellte sich als richtig heraus. (Auszug E-Book Pos. 1196 von 4336)

In zwei Nächten voll Schnee, Eisregen und anschwellenden Coulees bekommt es die ehemalige Dairy-Queen mit gleich mehreren merkwürdigen Vorfällen zu tun, deren Zusammenhang sich erst viel später erschließt. Dale Hills, ein schmieriger Zuhälter stürmt mit der jungen Pepper Greengrass in die örtliche Bibliothek und schlägt den alten Bibliothekar nieder, in die örtliche Fleischfabrik wird eingebrochen, ohne das etwas gestohlen wird und ein Ex-Baseballcoach wird brutal zusammengeschlagen, überlebt schwerverletzt. Alles scheint mit einem denkwürdigen, vier Jahre zurückliegenden Baseballspiel zusammenzuhängen, bei dem es zu einer großen Schlägerei und in dessen Folge zum Tod eines jungen Mädchen kam, dessen Leiche aber nie gefunden wurde. Als Heidi Wind davon bekommt, dass auf einer entlegenen Farm eine illegale Party mit Drogen und minderjährigen Stripperinnen stattfinden soll, setzt sie alles daran, Pepper zu finden und sie vor weiterem Unheil zu bewahren. Dabei muss auch Heidi einiges einstecken und sich mehrmals unter Lebensgefahr aus den inzwischen reißenden Fluten der über die Ufer getretenen Flüsse retten. Heidi lässt sich aber nicht unterkriegen, auch als sie an ihrem Ehemann zweifelt, der ihr bezüglich der Partys einiges zu verheimlichen scheint.

Der gewalttätige Zuhälter, das Mädchen in Nöten, Coach Beavers‘ Zombie-Angreifer, der Mörder ihrer Eltern, ihr verlorenes und unfertiges Selbst – ja, Ereignisse und Jahre hatten sich vermischt -, doch leise und prägnant, wie ein gebündelter Lichtstrahl, der sich durch den schrecklichen Krach und die Dunkelheit bohrte, hörte sie wieder diese Stimme. Ich werde dich finden. (Auszug E-Book Pos. 1407 von 4336)

Die komplexe Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Neben Heidi Kick durchleben wir mit der erst 15-jährigen Pepper einen Albtraum aus sexualisierter Gewalt, der nur schwer zu ertragen ist. Vom Stiefvater regelmäßig missbraucht, ist Pepper weggelaufen und will nun zu ihrer Schwester gelangen. Dafür braucht sie Geld und macht dafür wirklich erschreckend viel mit. Eine weitere Perspektive ist die von Angus Beaver, einem Baseball-Talent, der aus Jacksonville in seine alte Heimat zurückkehrt um endlich eine Sache in Ordnung zu bringen. Die hängt mit der Leiche zusammen, die sein Vater seit Jahren in der Tiefkühltruhe in einer alten Wellblechbaracke aufbewahrt.

John Galligan beschreibt recht deutlich den moralischen Sumpf von Bad Axe County, in dem Stumpfsinn, Alkohol und Drogen regieren. Es ist das trostlose Amerika der Abgehängten und Zurückgelassenen, wo auch schon mal ein Barack Obama-Poster als Affe dargestellt an der Wand hängt. Wirtschaftlich sieht es schlecht aus, die meisten leben am Rande des Existenzminimums von der Landwirtschaft. Abwechslung gibt es kaum, für viele gilt der lokale Baseball-Verein als einzige Unterhaltung. Oder man nimmt an Männerpartys in abgelegenen Scheunen teil, bei denen sich minderjährige Mädchen als Stripperinnen versuchen.

Anfänglich entwickelt sich der Roman etwas sperrig und ich hatte Mühe, alle handelnden Figuren und Handlungsstränge einzuordnen. Dabei sind die Figurenzeichnungen wirklich auf dem Punkt. Die Beschreibungen der frauenfeindlichen Atmosphäre in der Vereinswelt des Sports oder bei der Polizei, die sich in sexuellen Übergriffen oder in anzüglichen Witzen äußern, sind sehr stimmig. Das Erzähltempo ist rasant aber ich hatte auch Probleme mit der Sprache, die natürlich zu den tumben, manchmal brutalen Rednecks und Dorfdeppen passt. Manche Schilderungen psychischer und physischer Gewalt sind nichts für schwache Nerven. Opfer sind in den meisten Fällen Frauen und es geht auch um groß angelegten Frauenhandel. Lichtblick in diesem düsteren Roman über den Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft samt White Trash sind gelegentliche Stellen schwarzen Humors und Figuren wie die hartnäckige, von vielen unterschätzte Heidi, die viel riskiert und sich nicht unterkriegen lässt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bad Axe County | Erschienen am 18. März 2024 im Polar Verlag
ISBN 978-3-94839-294-9
350 Seiten | 17.- Euro
Originaltitel: Bad Axe County | Übersetzung aus dem Amerikanischen vom Kathrin Bielfeldt
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Tomasz Duszyński | Glatz

Tomasz Duszyński | Glatz

„Sie sind ein gescheiter Mann, Herr Klein. Sie wissen, was für Schrecken Krieg verbreitet. Und was hier geschieht, ist gewissermaßen der Beweis für den fortschreitenden Wahnsinn. […] Die Morde passieren zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Sie sind das Symptom einer Krankheit, die nicht nur unser kleines Glatz hier am Rande Deutschlands, sondern das ganze Reich zerfrisst.“ (Auszug S.165)

Frühjahr 1920: Die Kleinstadt Glatz in Niederschlesien, südlich von Breslau, war von den Kriegshandlungen des ersten Weltkriegs nicht betroffen, hat aber dennoch erheblich mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den Kriegsheimkehrern und den Auswirkungen des Versailler Vertrags gibt es zudem im Hintergrund noch tschechische Gebietsansprüche auf die alte Grafschaft Glatz. Da kommt es innerhalb kürzester Zeit zu zwei Morden. Zunächst wird der Major Peschke von einem Scharfschützen auf offener Straße erschossen, wenig später wird die verstümmelte Leiche des Stadtrats Dinter an der Brücktorbrücke aufgehängt aufgefunden.

Der Bürgermeister lässt alte Kontakte spielen und so kommt der Sohn seiner Cousine, der Militärermittler Wilhelm Klein, in die Stadt und nimmt mit zwei abgestellten Polizisten unabhängig die Ermittlungen auf – sehr zum Ärger der städtischen Polizei und der Militärgendarmerie. Klein ist ein geheimnisvoller Mann, von zahlreichen Narben entstellt. Er war offenbar Spion im Krieg und entkam aus französischer Gefangenschaft, man erzählt Geschichten, wie er sich bei seinen Folterern rächte. Klein verfügt über enorme ermittlerische Fähigkeiten, hat ein selbstbewusstes Auftreten und dennoch schleppt er ein Kriegstrauma mit sich herum, betäubt sich mit Opiaten. Als ein dritter Mord geschieht, wird klar, dass die Opfer nicht zufällig gewählt wurden. Doch die Botschaft der Täter ist unklar und sorgt für zusätzliche Unruhe in Glatz.

Tomasz Duszyński ist Journalist, Schriftsteller, Computerspielautor und Bibliothekar. Seine Familie stammt aus Kłosdzko, wie Glatz im Polnischen heißt. „Glatz“ erschien 2019 im polnischen Original, inzwischen sind vier Bände dieser historischen Krimireihe erschienen. Die Wahl auf Glatz als Schauplatz einer historischen Krimireihe ist durchaus reizvoll, Reihen, die in den 1920er Jahren in diversen deutschen Großstädten spielen, gibt es nun wahrlich genug. Tatsächlich lässt Duszyński die bürgerliche Kleinstadt an der Neiße, Verwaltungssitz der Grafschaft Glatz und Sitz alter böhmischer und preußischer Festungsbauten, sehr lebhaft vor des Lesers Augen auferstehen.

Der eigentliche Kriminalfall erscheint hingegen sehr verworren, wird erst ganz zum Schluss aufgerollt und erscheint im Nachgang etwas zu sehr daraufhin konstruiert, den thematischen Bogen hin zur fragilen Stimmungslage in der neuen Republik im Allgemeinen und im beschaulichen, aber angespannten Glatz im Besonderen zu schlagen. So werden immer neue Drahtzieher hinter den Morden vermutet und durch die Stadt getrieben: Juden, Freimaurer, Nazis. Das gibt natürlich einen Vorgeschmack auf kommende historische Entwicklungen, ist mir hier aber in der Verdichtung einen Tick zu konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt „Glatz“ aufgrund der komplexen Figuren, des kontiniuerlichen Spannungsbogens und vor allem durch das sehr gelungene Setting ein lesenswerter Roman, der seine eigene Nische unter den zahlreichen historischen Krimialromanen, die zu ähnlicher Zeit spielen, gefunden hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Glatz | Erschienen am 01.03.2024 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-891-1
336 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Glatz | Übersetzung aus dem Polnischen von Markus Schnabel
Bibliografische Angaben & Leseprobe