Kategorie: Gunnar Wolters

Lavie Tidhar | Maror

Lavie Tidhar | Maror

Das jüdische Passah-Fest erinnert an den Auszug der Juden aus Ägypten. Das zweite Buch Mose erzählt vom Auszug und die Anweisung des Herrn an die jüdische Gemeinde, sie sollen ein Lamm schlachten und „mit bitteren Kräutern sollen sie es essen“ (Exodus 12:8). Diese bitteren Kräuter als Symbol der Sklaverei in Ägypten werden im Hebräischen als „Maror“ bezeichnet. Mit „Maror“ betitelt Lavie Tidhar auch seinen aktuellen Roman, ein Roman über mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte, allerdings aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Und wenn man nach über 600 Seiten diesen Roman zugeklappt hat, dann versteht man auch die Symbolik des Titels mit den bitteren Kräutern.

Sie stand auf, und für einen kurzen Moment war Avi allein. Er hörte Eis im Glas klappern und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Ich hasse dieses Land“, sagte er und weinte. (Auszug S. 85)

Der Roman beginnt zunächst im Jahr 2003. Eine Autobombe in Tel Aviv vor einer Wechselstube. Schnell stellt sich heraus: Es ist wohl keine politischer Anschlag, sondern das Ziel war Rubinstein, eine Unterweltgröße. Der kam allerdings unverletzt davon, stattdessen gab es Toten unter Passanten, unter anderem Schulkinder. Der leitende Polizist Cohen beauftragt den jungen Polizisten Avi, sich der Sache anzunehmen und gibt ihm freie Hand. Und Avi nimmt sich der Sache an, die in der Residenz eines weiteren Unterweltbosses in einem Blutbad enden wird.

Danach springt das Buch zurück ins Jahr 1974 und geht von nun an chronologisch vor. Cohen und Eddie sind zwei junge Polizisten, die zum Fundort einer Frauenleiche am Mittelmeerstrand zwischen Tel Aviv und Haifa gerufen werden. Die beiden dürfen hinterher an den Mordermittlungen teilnehmen. Der Druck ist hoch, die Ermittlungen laufen zäh. Da kommt es der Polizei gelegen, dass ein Zeuge sich wunderbar als Verdächtiger eignet. Die Indizien sind aber zu wenig, es braucht ein Geständnis. Cohen und Eddie begreifen schnell, wie sie sich da einbringen können.

Tidhar erzählt nun episodenhaft. Springt manchmal ein paar Monate, manchmal ein paar Jahre in der Zeit nach vorne. Er führt den Leser von 1974 bis 2008 durch mehr als dreißig Jahre israelischer Geschichte und erzählt diese als Geschichte von Verbrechen, Skandalen, Korruption und Staatsaffären. Als Figur im Hintergrund, die aber dennoch alle Fäden in der Hand hält und diese Episoden zusammenhält, fungiert Cohen. 1974 noch ein Streifenpolizist, aber schon mit allen Wassern gewaschen, hält er in der Folge gute Kontakte zu allen Seiten, Polizei, Politik, Unterwelt, Geheimdienste, steigt nicht allzu hoch in der Hierarchie auf, aber wird der Strippenzieher, der alles in Reine bringt und ausputzt, so schmutzig es auch wird. Ein Patriot, der alles tut, um den Staat Israel zu beschützen und dafür alle Grenzen überschreitet.

Jetzt blickte Rubinstein auf. „Ich werde nicht schlau aus dir“, sagte er. „Was bist du, Polizist oder Gangster?“
Man kann auch beides sein, dachte Benny, sagte es aber nicht laut.
„Ich bin kein Gangster“, erklärte Cohen.
„Was dann?“
„Ich wahre die Ordnung“, sagte Cohen. (Auszug S.226)

Die Geschichte Israels als eine Geschichte der Korruption und des organisierten Verbrechens zu erzählen, ist ein starkes Stück. Aber Tidhar fiktionalisiert nicht nur, sondern verarbeitet reale Ereignisse zu einem Epos über Realpolitik und den berühmten Zweck, der die Mittel heiligt. Er zitiert Staatsgründer Ben Gurion: „Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.“

Manipulierte Polizeiermittlungen, Mord, Raub, skandalöse Grundstücksgeschäfte im besetzten Gebieten, eine Eskalation des Drogenhandels durch Israels Eingreifen in den libanesischen Bürgerkrieg, Iran-Contra-Affäre, Waffenhandel mit (süd-)amerikanischen Drogenbossen und Ausbildung von privaten Söldnern durch israelische Reservisten. Alles tatsächlich passiert. Der Sumpf, den Tidhar hier beschreibt, ist mehr als knöcheltief und dem Leser schwirrt förmlich der Kopf ob der angedeuteten staatlichen Verstrickungen in all diese zwielichtigen Dinge unter dem Deckmantel einer Realpolitik in einem bedrohten Land. Und mittendrin dieser Cohen, der Bibelzitate um sich wirft, was zunehmend als Zynismus durchgeht.

„Ich weiß, es ist nicht leicht gewesen“, sagte Cohen. Er schien zwiegespalten. Als wollte er Nir etwas anvertrauen. „Du findest unsere Arbeit abstoßend. Ich auch. Aber Habgier treibt mich nicht an, Nir, sondern das Bedürfnis nach Stabilität. <Der Habgierige erregt Streit, / wer auf den Herrn vertraut, wird reichlich gelabt<. Buch der Sprüche 28. Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden. Verstehst du das?“ (Auszug S.419).

Lavie Tidhar ist eigentlich vor allem als Science Fiction und Fantasy-Autor bekannt. Mit „Maror“ wagt er einen historischen Parforceritt durch die dunklen Seiten Israels. Und dieser gelingt fulminant. In seiner Heimat scheint die Zeit übrigens noch nicht reif für diesen Roman zu sein, eine Übersetzung ins Hebräische gibt es noch nicht.

Neben Cohen als rotem Faden tauchen zahlreiche Figuren ab und wieder auf, ehe sie dann oftmals entsorgt werden. Tidhars Schreibstil ist rasant, eindrücklich, immer wieder dringt er tief in die Personen ein, aus deren Blickwinkel die jeweilige Episode erzählt wird (nur Cohen bleibt der Mann im Hintergrund, auch bei den Erzählern). Das Ganze verdichtet er zu einem epischen Thriller, bei dem nicht nur mir ein Vergleich zu Don Winslows „Tage der Toten“ in den Sinn kam. Dabei lässt der Autor auch eine bemerkenswerte Akribie erkennen, was Schauplätze und Historizität betrifft. Zudem ist das Buch eine popkulturelle Quelle, insbesondere zur israelischen Musikszene. Alles in allem kommt man nicht umhin zu sagen: „Maror“ ist ein echtes Meisterwerk.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Maror | Erschienen am 15.04.2024 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47397-9
640 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Maror | Übersetzung aus dem Englischen von Conny Lösch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Maror“ beim Kaffeehaussitzer

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Eli Cranor | Bis aufs Blut

Am Ende einer unbefestigten Straße kommen sie an den Arkansas River. Der Fluss entspringt in Colorado, dort ist das Wasser frisch und kühl wie in einer Bierwerbung. Nachdem er die Ozarks passiert hat, wo er durch ausrangierte Matratzen und Geschirrspüler fließt und den ganzen übrigen Müll, den die Rednecks in den Bergen abladen, hat der Fluss die Farbe von Kakao und riecht wie abgestandenes Bier. (Auszug S. 138)

Denton ist ein Kaff in Arkansas, in den Hügeln der Ozarks. Irgendwo im Nirgendwo, im abgehängten Teil der USA. Größtes Aushängeschild des Ortes sind die Denton Pirates, das örtliche High School Footballteam. Die Pirates befinden sich nach langen harten Jahren auf Play Off-Kurs. Hoffnungsträger der Mannschaft ist Running Back Billy Lowe. Ein sehr talentierter junger Mann, der allerdings aus sehr schwierigen Verhältnissen kommt. Er wächst im einem Trailer mit seiner alkoholabhängigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater auf. In Billy brodelt es. Nur beim Football gibt hat er Gelegenheit, seine angestaute Wut und Aggressivität herauszulassen, was dazu führt, dass er die Grenzen nicht immer einhält. Als er beim Training einen Mitspieler verletzt, gerät eine tragische Spirale in Gang.

Mehrere Eltern und auch der Schulleiter fordern vom Footballcoach Trent Powers Konsequenzen. Doch dieser zögert, denn zum einen ist der Erfolg der Mannschaft stark von Billys Leistung abhängig und zum anderen erkennt er sich selbst in diesem wütenden und frustrierten Heranwachsenden wieder, da Powers als Kind durch verschiedene Pflegefamilien gereicht wurde. Dennoch droht Billy eine interne Sperre beim ersten Play off-Spiel. Zuhause kommt es zum einem Streit, Billy Mutter Tina verlässt mit Billys kleinem Bruder den Wohnwagen, der Stiefvater Travis bedroht Billy. Dieser schlägt ihn nieder und verlässt den Trailerpark. Später wird Travis von Tina tot aufgefunden, auch wenn sie zunächst nichts unternimmt, um den Tod zu melden. Währenddessen nimmt Coach Powers Billy bei sich zuhause auf, um ihn auf den rechten Pfad zu bringen. Doch damit bringt er zusätzlich noch seine Tochter Lorna, etwa gleichalt wie Billy, mit ins Spiel.

Ich nicke und lass den Kopf hängen. Will, dass sie glaubt, sie hätte mich erwischt. Ich hör, wie Lorna ausatmet, als ob sie auch nicht glaubt, dass ich das Buch gelesen hab. Ich schau hoch und guck nur Lorna an, will, dass sie mir bis in mein Herz guckt und weiß, dass sie mir vertrauen kann. Dass ich alles Mögliche bin – aber kein Lügner. (Auszug S. 196)

Mit diesem Roman gewann Eli Cranor als Debütant 2023 den Edgar Award. „Bis aufs Blut“ ist einer dieser typischen Country Noirs, die dem Leser vom abgehängten Teil der USA erzählen. Vom White Trash, von Trailerparks, Alkoholabhängigkeit, Perspektivlosigkeit. Von Rednecks, Rassismus, Konservatismus. Von Gegenden, in denen Leute schief angeguckt werden, wenn sie den Müll trennen oder ein Elektroauto fahren. Wie die Powers zum Beispiel, eine kalifornische Familie, die ein Jobangebot als Footballcoach für den bis dahin erfolglosen Trent in die Ozarks verschlagen hat und die am liebsten heute als morgen dort wieder wegwollen. Dafür ist aber eine erfolgreiche Footballsaison vonnöten. Insbesondere Trents Frau Marley ist bereit, einiges zu tun, um die Familie zu schützen und Denton bald hinter sich zu lassen. Wie viel, wird der Leser im Laufe des Romans herausfinden. Doch das betrifft auch Billys Mutter Tina. Wieder einmal sind es die Frauen, die der Geschichte nochmal eine entscheidende Wendung geben.

Der Roman erzählt aus mehreren Perspektiven, darunter aus Billys als Ich-Erzähler, eine Story von Wut, Perspektivlosigkeit und fehlendem Vertrauen. Dabei setzt Autor Eli Cranor auch auf den Kontrast zwischen den Lowes als Unterschicht und der Powers als (noch) gut situierte Familie. Dabei bewegt sich Cranor für meinen Geschmack an einigen Stellen hart am Schema F. Denn so mache der Figuren und manches im Plot glaubt man wiederzuerkennen. Dennoch ist „Bis aufs Blut“ bei allen (kleineren) Schwächen kraftvoll und stringent erzählt, besonders eindringlich in den Ich-Erzähler-Passagen von Billy. Insofern ist der Roman für alle Liebhaber dieses Genres sicherlich einen Blick wert.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Bis aufs Blut | Erschienen am 17.04.2024 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-179-4
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Don’t Know Tough | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Elmore Leonard | Letztes Gefecht am Saber River

Elmore Leonard | Letztes Gefecht am Saber River

Elmore Leonard ist natürlich eine Legende der Kriminalliteratur. Der 2013 verstorbene Autor veröffentlichte mehr als 40 Romane. Leonards Romane waren dabei vor allem Milieuschilderungen und Gangsterromane, dialoglastig und mit szenischem Stil. Daher wurden zahlreiche seiner Romane auch verfilmt, etwa „Get Shorty„, „Jackie Brown“ oder „Out Of Sight“. Seine Autorenkarriere begann Leonard allerdings wie bei so einigen anderen als Autor von Westerngeschichten und Westernromanen. Begannt aufgrund der anschließenden Verfilmungen sind etwa „Valdez“ oder „3:10 to Yuma„. Die Geschichte des Westernautors Elmore Leonard lässt sich übrigens in zwei interessanten Beiträgen von Alf Mayer und Frank Göhre im Crimemag online nachlesen. Dennoch sind von Leonards Western bislang nur ein paar ins Deutsche übersetzt. Der Liebeskind Verlag, in Sachen Neu- und Wiederentdeckungen von Western im letzten Jahrzehnt sehr umtriebig, hat sich nun eines Romans aus dem Jahre 1959 angenommen: „Last Stand At Saber River“.

Im Frühjahr 1865 ist der amerikanische Bürgerkrieg in seinen letzten Zügen, allerdings bekommt man davon im Tal des Saber River in Arizona nicht viel mit. Paul Cable ist ein Veteran der Konföderierten, hat zwei Jahre gekämpft, wurde verwundet und kehrt nun mit seiner Frau Martha und seinen drei Kindern zurück auf sein Stück Land. Doch vorher kommt er am Gemischtwarenladen Denaman’s Store vorbei. Doch anstelle des alten Denaman hat ein anderer den Laden übernommen. Edward Janroe, auch er ein Veteran, hat einen Arm im Krieg gelassen. Er konfrontiert Cable direkt damit, dass sich jemand anderes auf seinem Land und in seinem Haus breit gemacht hat. Sein Nachbar auf der anderen Seite des Bergkamms, Vern Kidston, hat seine Pferde auf Cables Weide getrieben und einige seiner Männer in Cables Haus untergebracht.

„Nun…“, Cable hielt das Glas hoch und betrachtete es im Licht, das durch das Fenster hinter Janroe fiel, „ich kann es ihm nicht verdenken, es ist gutes Weidegras.“ Er nahm einen Schluck von dem süßliches Schnaps. „Aber nun wird er dafür sorgen, dass seine Männer abziehen. Das ist alles.“
„Glauben Sie das?“
„Wenn er das Haus nicht räumt, hole ich das Gesetz.“
„Welches Gesetz?“. (E-Book Pos. 223)

Das ist allerdings ein Problem, denn Vern Kidston beliefert das nahegelegene Camp der Unionssoldaten. Cable kann kaum auf Unterstützung hoffen. Dennoch zieht er los und vertreibt Kidstons Männer. Doch das kann Vern natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Die Eskalationsschraube zieht an und im Hintergrund hat Janroe seine ganz eigene Agenda.

Für einen Augenblick dachte er: Man kann auch zu ehrlich mit sich sein und alles verlieren. Er zögerte, weil dies ein einfaches Prinzip war, fast eine Frage von Schwarz oder Weiß, und welche Grautöne auch immer auftauchten, welche Zweifel er auch immer haben mochte, sie wären nicht stark genug, um einen Mann kaltblütig zu erschießen. (E-Book Pos. 2728)

Drei Männer stehen offen im Vordergrund der Geschichte: Paul Cable, der Veteran, der sich sein Land und Haus mit Recht zurückholt und dies auch verteidigt, Vern Kidston, der das Recht des Stärkeren für sich beansprucht, aber die totale Konfrontation zunächst vermeidet sowie Edward Janroe, der auch als Versehrter sich weiterhin im Dienst der Südstaaten befindet und nun eine Gelegenheit sieht, den Krieg auch ins Tal des Saber River zu tragen. Daneben gibt es allerdings auch drei starke Frauenfiguren, die wesentlich den Lauf der Dinge mitbestimmen: Cables Ehefrau Martha, die er in den wichtigsten Fragen wie selbstverständlich zu Rate zieht, die junge Mexikanerin Luz, die in Denaman’s Store arbeitet und ein enges Verhältnis zu den Cables hat und Verns junge Nichte Lorraine, die aus Langeweile das Taktieren der Männer durchkreuzt oder anheizt.

Von einem klassischen Western erwartet der Leser zurecht Helden, Schurken, Pferde, Pistolenduelle und die Weite des mittleren Westens. All das liefert Elmore Leonard routiniert mit cleveren Perspektivwechseln und einem hohen Spannungsbogen ab. Doch das wirklich Spannende sind die weiteren Zutaten: Der Krieg, der nicht aus den Köpfen geht, die Moral und Zweifel einzelner Figuren, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen und die bedeutende Rolle der Frauen in dieser Story. Das alles macht „Letztes Gefecht am Saber River“ zu einem ziemlich modernen Western und auf jeden Fall zu einem lesenswerten Roman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Letztes Gefecht am Saber River | Im Original erschienen 1959
Erschienen am 04.03.2024 im Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-176-0
256 Seiten | 22,- €
als E-Book: ISBN 978-3-95438-180-7 | 14,99 €
Originaltitel: Last Stand at Saber River | Übersetzung aus dem Englischen von Florian Grimm
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Extras (1) und (2) zu Elmore Leonard als Westernautor im Crimemag

Tomasz Duszyński | Glatz

Tomasz Duszyński | Glatz

„Sie sind ein gescheiter Mann, Herr Klein. Sie wissen, was für Schrecken Krieg verbreitet. Und was hier geschieht, ist gewissermaßen der Beweis für den fortschreitenden Wahnsinn. […] Die Morde passieren zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Sie sind das Symptom einer Krankheit, die nicht nur unser kleines Glatz hier am Rande Deutschlands, sondern das ganze Reich zerfrisst.“ (Auszug S.165)

Frühjahr 1920: Die Kleinstadt Glatz in Niederschlesien, südlich von Breslau, war von den Kriegshandlungen des ersten Weltkriegs nicht betroffen, hat aber dennoch erheblich mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den Kriegsheimkehrern und den Auswirkungen des Versailler Vertrags gibt es zudem im Hintergrund noch tschechische Gebietsansprüche auf die alte Grafschaft Glatz. Da kommt es innerhalb kürzester Zeit zu zwei Morden. Zunächst wird der Major Peschke von einem Scharfschützen auf offener Straße erschossen, wenig später wird die verstümmelte Leiche des Stadtrats Dinter an der Brücktorbrücke aufgehängt aufgefunden.

Der Bürgermeister lässt alte Kontakte spielen und so kommt der Sohn seiner Cousine, der Militärermittler Wilhelm Klein, in die Stadt und nimmt mit zwei abgestellten Polizisten unabhängig die Ermittlungen auf – sehr zum Ärger der städtischen Polizei und der Militärgendarmerie. Klein ist ein geheimnisvoller Mann, von zahlreichen Narben entstellt. Er war offenbar Spion im Krieg und entkam aus französischer Gefangenschaft, man erzählt Geschichten, wie er sich bei seinen Folterern rächte. Klein verfügt über enorme ermittlerische Fähigkeiten, hat ein selbstbewusstes Auftreten und dennoch schleppt er ein Kriegstrauma mit sich herum, betäubt sich mit Opiaten. Als ein dritter Mord geschieht, wird klar, dass die Opfer nicht zufällig gewählt wurden. Doch die Botschaft der Täter ist unklar und sorgt für zusätzliche Unruhe in Glatz.

Tomasz Duszyński ist Journalist, Schriftsteller, Computerspielautor und Bibliothekar. Seine Familie stammt aus Kłosdzko, wie Glatz im Polnischen heißt. „Glatz“ erschien 2019 im polnischen Original, inzwischen sind vier Bände dieser historischen Krimireihe erschienen. Die Wahl auf Glatz als Schauplatz einer historischen Krimireihe ist durchaus reizvoll, Reihen, die in den 1920er Jahren in diversen deutschen Großstädten spielen, gibt es nun wahrlich genug. Tatsächlich lässt Duszyński die bürgerliche Kleinstadt an der Neiße, Verwaltungssitz der Grafschaft Glatz und Sitz alter böhmischer und preußischer Festungsbauten, sehr lebhaft vor des Lesers Augen auferstehen.

Der eigentliche Kriminalfall erscheint hingegen sehr verworren, wird erst ganz zum Schluss aufgerollt und erscheint im Nachgang etwas zu sehr daraufhin konstruiert, den thematischen Bogen hin zur fragilen Stimmungslage in der neuen Republik im Allgemeinen und im beschaulichen, aber angespannten Glatz im Besonderen zu schlagen. So werden immer neue Drahtzieher hinter den Morden vermutet und durch die Stadt getrieben: Juden, Freimaurer, Nazis. Das gibt natürlich einen Vorgeschmack auf kommende historische Entwicklungen, ist mir hier aber in der Verdichtung einen Tick zu konstruiert. Nichtsdestotrotz bleibt „Glatz“ aufgrund der komplexen Figuren, des kontiniuerlichen Spannungsbogens und vor allem durch das sehr gelungene Setting ein lesenswerter Roman, der seine eigene Nische unter den zahlreichen historischen Krimialromanen, die zu ähnlicher Zeit spielen, gefunden hat.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Glatz | Erschienen am 01.03.2024 im Jaron Verlag
ISBN 978-3-89773-891-1
336 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Glatz | Übersetzung aus dem Polnischen von Markus Schnabel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Joe Thomas | Brazilian Psycho

Joe Thomas | Brazilian Psycho

„Wenn die Armen die Rechten wählen“, sagt Franginho, „dann geht alles den Bach runter.“ (Auszug S. 599)

Diese pointierte politische Analyse legt Autor Joe Thomas einem kleinen Favela-Gangster in den Mund und fasst damit die Situation Brasiliens zu Beginn der Präsidentschaft Jair Bolsonaros treffend zusammen, bringt aber auch eine allgemeine Aussage, die auch auf andere Länder durchaus zutreffend ist. Doch zurück zu Brasilien. Ein wirtschaftlich aufstrebendes Land und Teil der BRICS-Staaten, die inzwischen ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu den etablierten G7-Staaten bilden. Allerdings auch ein Land mit großem Wohlstandsgefälle, in dem nur langsam Erfolge gegen die immer noch krasse Armut gefeiert werden und diese Erfolge von erheblicher Korruption, Bereicherung und Kriminalität überschattet werden.

Hiervon erzählt der britische Autor Joe Thomas am Beispiel der südbrasilianischen Metropole São Paulo, in der er zehn Jahre gelebt hat. „Brazilian Psycho“ ist dabei nur der vierte Teil eines São Paulo-Quartetts, von denen die anderen Teile noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen sind. Er überspannt mit seinem Roman dabei einen Zeitraum von 16 Jahren, beginnend mit der 1. Amtszeit Lula da Silvas Anfang 2003 und der Amtszeit Dilma Rousseffs ab 2011 (beide aus der Arbeiterpartei) bis hin zur Amtsübernahme der ultrarechten Jair Bolsonaro im Januar 2018.

Joe Thomas wählt eine multiperspektivische Erzählweise und begleitet verschiedene Personen durch die Zeit. Es beginnt mit einem Mordfall, der in gewisser Weise die Klammer der Geschichte bildet. Der englische Direktor einer Privatschule wird ermordet in seinem Haus aufgefunden. Die Kommissare Mario Leme und Ricardo Lisboa übernehmen den Fall und werden von ihrem Chef direkt unter Druck gesetzt, schnell einen Täter zu präsentieren. Mehr oder weniger gegen den Willen der Kommissare wird über die Hausangestellte eine Verbindung zum Favela Paraisópolis gezogen und ein Täter festgenommen, der die Tat auf sich nimmt und verurteilt wird. Dieser Mann ist der Vater von Rafa, eines jungen Heranwachsenden, der für die kriminellen Bosse in der Favela erste Aufträge übernimmt und über die Jahre in der Organisation aufsteigt, sich allerdings mehr um die mehr oder weniger legalen Geschäftszweige kümmert. Ebenfalls im Personenregister: Renata, eine Anwältin, die in der Favela ein Rechtshilfebüro eröffnet oder Carlos, ein Militärpolizist mit Verbindungen in die Favela oder Ray Marx, Berater und politischer Drahtzieher einer einflussreichen Finanzfirma und viele mehr.

Paulo Maluf: ein ehemaliger Bürgermeister São Paulos. Sie haben einen Ausdruck für den alten Maluf geprägt: Roba mais faz.
Er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber er bringt Dinge voran.
Leute dieses Schlags hat São Paulo schon immer gewählt.
Es ist viel wichtiger, dass die Stadt funktioniert – der Müll abgeholt wird, die U-Bahn fährt, die Straßen repariert werden -, als sich über Schmiergeldzahlungen und Erpressungen im Rathaus aufzuregen. (Auszug S.34-35)

So gibt es ein umfangreiches Personal und viele Perspektivwechsel und auch Zeitsprünge, doch es geht im Grunde um einen Fokus auf das (Nicht-)Funktionieren des brasilianischen Staates und der Gesellschaft. Der wirtschaftliche Aufschwung lässt in der Bevölkerung Hoffnung keimen und tatsächlich lässt sich ein wenig Aufbruchsstimmung nicht leugnen. Doch letztlich wollen viele profitieren, neben der politischen und unternehmerischen Oberschicht auch die kriminellen Banden der Favelas. So gibt es unheilvolle Absprachen zwischen Politik, Polizei und organisierter Kriminalität, Korruption, Veruntreuung von staatlichen Mitteln, Abschöpfung von Mitteln aus Sozial- und Wohnungsbauprogrammen – und das alles während der Amtszeiten der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Und zum Ende hin tauchen dann plötzlich die ganz dunklen Mächte um einen Jair Bolsonaro auf, der das Ganze noch mit einer Politik des Hasses, des Rassismus und der Gewalt krönt, vor allem im Hinblick auf Frauen und die queere Community.

Autor Joe Thomas hat sich einiges vorgenommen mit diesem Roman und er kann für mich auch einiges einlösen. Das Panorama als lokale Perspektive São Paulos ist interessant gewählt, die Personen sind nicht zu plakativ schwarz und weiß. Es wird nicht zu viel doziert, sondern der Leser muss sich in den Feinheiten brasilianischer Politik und Korruption auch etwas selbst zurechtfinden, was teilweise auch etwas mühsam ist. Auch eine gewisse Redundanz der Ereignisse zum Ende hin gab es für meinen Geschmack, sodass es sich doch etwas zog. So erreicht Joe Thomas letztlich nicht ganz das Niveau seiner auf dem Buchumschlag erwähnten berühmten Kollegen Ellroy und Winslow, die der Autor ganz sicher gut gelesen hat. Dennoch legt Thomas einen über weite Strecken fesselnden und spannenden Wälzer vor, der einen besonderen Fokus auf die brasilianische Politik und Geselllschaft der letzten zwanzig Jahre legt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Brazilian Psycho | Erschienen am 14.02.2024 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-77386-2
638 Seiten | 18,- €
Originaltitel: Brazilian Psycho | Übersetzung aus dem Englischen von Alexander Wagner
Bibliografische Angaben & Leseprobe