Kategorie: Spannungsroman

Angie Kim | Happiness Falls

Angie Kim | Happiness Falls

„Also ist Dad nie nach Hause gekommen. Eugene ist allein heimgekommen, unser Vater war den ganzen Tag weg und dir ist es nicht mal aufgefallen“, sagte John. (Auszug E-Book Position 354 von 7427)

Im Mittelpunkt dieses tragischen Familiendramas stehen die Parksons, eine 5-köpfige Akademikerfamilie mit südkoreanischen Wurzeln, die in einem Vorort von Washington lebt. Mutter Hannah ist koreanischer Abstammung und Professorin für Linguistik. Vater Adam hat seinen Beruf aufgegeben und kümmert sich seit einigen Jahren um Haushalt und Kinder. Das sind die 20-jährigen Zwillinge Mia und John, beide studierend, zurzeit wegen der Corona-Pandemie zu Hause. Intensive Betreuung benötigt der 14-Jährige Eugene. Er befindet sich im Autismus Spektrum und leidet zusätzlich an dem Angelmann Syndrom, das sich in einem ungewöhnlich fröhlichen Verhalten mit häufigen Lächeln und Lachen äußert. Seine Motorik ist dadurch eingeschränkt und er kann nicht sprechen.

Eines Tages kehrt Eugene allein und ungewöhnlich aufgewühlt und mit Blut unter den Fingernägeln von seinem täglichen Spaziergang im naheliegendem River Falls Park mit seinem Vater zurück. Vorher war er verstört auf die Straße gestolpert und hatte einen Autounfall verursacht. Während Adam selbst spurlos verschwunden bleibt, kann Eugene aufgrund der speziellen Art seiner Behinderung nicht erklären, was passiert ist.

Heute, wo ich weiß, was sie gerade entdeckt hatte und vor uns verheimlichte, habe ich den Verdacht, dass sie genau das bezweckt hatte – den guten Cop zu spielen, sich unser Vertrauen zu sichern -, aber damals dachte ich, dass sie einfach nur nett sein wollte. (Auszug E-Book Pos. 611 von 7427)

Vom Verschwinden ihres Vaters berichtet die blitzgescheite Mia rückblickend aus der Ichperspektive. Ihr Erzählstil ist analytisch und sehr ausschweifend. Davor warnt sie die Lesenden auch gleich zu Anfang. Das wird vielleicht nicht jedem Lesetyp zusagen, ich mochte diese ausführlichen Erläuterungen, denn Mias mäandernde Gedankengänge und Fußnoten sind intelligent, reflektiert und oft sehr witzig. Dabei bleibt der Spannungsbogen stets straff gespannt, denn wir erleben durch Mia nicht nur die folgenden Stunden und Tage auf der Suche nach Antworten, sondern kommen einer Reihe von schockierenden Geheimnissen auf die Spur, die Adam anscheinend vor seiner Familie verborgen hatte. Adams Tagebuch gibt Rätsel auf und ein im Park aufgenommenes Handyvideo lässt Schreckliches vermuten. Jede neu gewonnene Enthüllung überrascht und erhöht die Spannung. Je mehr ans Licht kommt, desto mehr gerät jedoch Eugene ins Zentrum der Ermittlungen. Zusätzlich zur Sorge um den vermissten Vater, versuchen die Parksons nun, Eugene vor den sich verschärfenden Verdächtigungen der Polizei zu beschützen, auch weil sie Angst haben, das Sorgerecht zu verlieren.

Mir ging auf, dass die Vorstellung tatsächlich auf eine zutiefst tragische Art irgendwie amüsant war, dass unser Vater ein geheimes Zweitleben hatte und damit durchkam, weil er sich darauf verlassen konnte, dass Eugene nicht sprach. (Auszug E-Book Pos. 2461 von 7427)

Neben dem Vermisstenfall geht es auch um Kommunikation, Sprache und unsere voreingenommene Wahrnehmung von Menschen mit einer Sprachbehinderung, bei denen oft einfach eine kognitive Beeinträchtigung vermutet wird. Da Eugene seine Gedanken nicht in Worte fassen kann, wird er als geistig zurückgeblieben wahrgenommen, sogar seine ihn liebende Familie behandelt ihn wie ein Kleinkind. Um ihn zu beruhigen, verbringt er viel Zeit damit, sich Zeichentrickfilme auf dem IPad anzusehen.

Doch Mia gelingt es, ihre Sicht zu überdenken, als sie sich an die Zeit erinnert, als die Familie mehrere Jahre in Süd-Korea gelebt hatte. John, der optisch nach seinem weißen Vater kommt, wurde auch schon für die bescheidensten Koreanisch-Kenntnisse überschwänglich gelobt, während seine Zwillingsschwester, die mehr ihrer koreanischen Mutter ähnelt, als dumm angesehen wurde, wenn sie Fehler im Koreanischen machte. Auch ihre Mutter Hannah wurde in ihrer Anfangszeit in den USA aufgrund ihrer sprachlichen Schwierigkeiten als geistig minderbemittelt angesehen.

Angie Kim behandelt in „Happiness Falls“ mit den Herausforderungen einer Mischlingsfamilie, elterlichen Geschlechterrollen, Rassismus-Erfahrungen in zwei Ländern, Eugenes Handicap und den Kontaktverbot während des Lockdowns 2020 sehr viele Themen. Auch die Glücksforschung nimmt Raum ein, da Adam sich von seiner Familie unbemerkt damit beschäftigt hatte. Die schriftlich in seinem Tagebuch dokumentierten Experimente an seiner eigenen Familie werden durch Studienergebnisse untermauert. Mias Zynismus steht dabei im Kontrast zum Optimismus ihres Zwillingsbruders John. Die Relativität von Glück zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Für mich ein mit interessanten psychologischen Beobachtungen gespickter, vielschichtiger und tiefgründiger Pageturner mit gut entwickelten Charakteren, den ich kaum aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Happiness Falls | erschienen am 15 April 2025 bei hanserblau
ISBN 978-3-4462-7965-0
Printausgabe: 544 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: Happiness Falls | Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Angie Kims Roman „Miracle Creek“

Jessica Knoll | Bright Young Women

Jessica Knoll | Bright Young Women

Der Mann öffnete die Tür und verschwand. Bei unserer nächsten Begegnung würde er Anzug und Krawatte tragen, sowohl Groupies als auch die New York Times auf seiner Seite haben, und auf die Frage nach meinem derzeitigen Wohnsitz wäre ich gesetzlich verpflichtet, ihm meine Privatadresse zu nennen. Einem Mann, der fünfunddreißig Frauen ermordet hatte und zweimal aus dem Gefängnis ausgebrochen war. (Auszug Seite 29)

In der Nacht zum 15. Januar 1978 dringt ein unbekannter Mann in ein Verbindungshaus auf dem Campus der Florida State University ein, misshandelt und tötet mehrere Studentinnen. Die Jura-Studentin Pamela Schumacher, Vorsitzende der Verbindung wird von Geräuschen wach und kann unbemerkt noch einen kurzen Blick auf den Täter werfen. Sie glaubt anfänglich sogar den Exfreund ihrer ermordeten Freundin Denise zu erkennen. Ein Irrtum, den sie sofort revidiert, der ihr aber später zum Verhängnis wird, da die Ermittlungen erst mal in die falsche Richtung gehen. Denn es handelt sich nicht um ein einzelnes Verbrechen. Der Täter ist ein Serienmörder, dem mehr als 30 Frauen zum Opfer fielen. Unzählige Ermittlungsfehler vereitelten über Jahre seine Verhaftung, bis er 1989 hingerichtet wurde, und seither in den Medien überhöht und glorifiziert wurde. Jessica Knoll nennt nicht einmal seinen Namen, ihr geht es um die Opfer und Überlebenden.

Pamela lernt Tina Gannon kennen, deren Freundin Ruth einige Jahre zuvor an einem heißen Sommertag von einem völlig überfüllten See verschwand. Tina ist davon überzeugt, dass Ruths Mörder auch für die Taten an Pamelas Kommilitoninnen verantwortlich ist, auch wenn Ruths Leiche nie gefunden wurde. Von den Behörden weitestgehend alleine gelassen, tun die beiden Frauen sich zusammen und stellen auf eigene Faust Nachforschungen an. Bei der Polizei und Justiz stoßen sie jedoch immer wieder auf Widerstände.

Fassungslos verfolgen wir, wie wenig Unterstützung die Überlebenden erhalten, wie Behörden und die Gesellschaft mit den Frauen umgehen, sie überhaupt nicht ernst nehmen. Der Täter ist noch auf freiem Fuß und die traumatisierten Studentinnen müssen wieder auf den Campus und in ihre Studentenzimmer zurückkehren. Es werden nur neue Schlösser besorgt und dazu der Tipp, sich nicht alleine mit jemandem zu treffen. Als der Killer schließlich gefasst wird und es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, verteidigt sich der gescheiterte Jurastudent selbst.

Der Angeklagte selbst würde mich befragen. Anders konnte es nicht sein – denn für gewöhnlich sagte man vor Gericht aus oder wurde in einer Kanzlei von zugelassenen Anwälten befragt, die nicht dazu neigten, dutzende Frauen zu erschlagen. (Auszug Seite 346)

Der Roman ist raffiniert mit verschiedenen Perspektiven und Zeitsträngen konstruiert. Eine ist die Rahmenhandlung in der jetzigen Zeit. Die Ich-Erzählerin Pamela, aus deren Sicht wir weite Strecken des Buches erleben, versucht zeitlebens, das Trauma der Tatnacht zu verwinden. Als Vorsitzende der Verbindung fühlte sie sich für die Kommilitoninnen verantwortlich. Dann gibt es Rückblenden auf die grausamen Morde 1978 und eine dritte Perspektive erzählt aus der Sicht der ermordeten Ruth 1974. Das fand ich einen cleveren Kniff, macht es aber auch etwas sperrig. Man benötigt volle Konzentration und kann es nicht einfach so weg lesen. Die junge Frau lernen wir am besten kennen, verfolgen ihre Suche nach einer Rolle in einer von Männern dominierten Gesellschaft und ohne Unterstützung ihrer Eltern den Kampf für ein selbstbestimmtes Leben. Anhand Ruths nuancierter Darstellung spürt man die Kritik an den patriarchalen Strukturen der 70er Jahre.

Im Klappentext erfährt man, dass Jessica Knoll hier ein wahres Verbrechen fiktionalisiert und dass es sich bei dem amerikanischen Serienmörder um Ted Bundy handelt. Dieser ist Thema zahlreicher Bücher, Filme, Netflix-Dokus und Serien, wurde in den Medien gefeiert und glorifiziert. Sein gutes Aussehen und sein angeblicher Charme wurden zum zentralen Teil seiner Legende, auch um die Inkompetenz der Polizei zu verschleiern. Knoll stellt sich dem Personenkult des Täters entgegen. Ihr ist es wichtig ihn als gewöhnlichen Frauenhasser zu schildern. Sehr überzeugend versucht sie den Mythos des jungen, verführerischen Mörders zu demontieren. Indem sie die weibliche Gewalterfahrung in den Fokus rückt, gibt sie in ihrem Roman allen Opfern stellvertretend eine Stimme. Der Roman, eine Mischung aus True Crime und Thriller bietet eine wütende Auseinandersetzung mit der voyeuristischen Ausschlachtung der Morde und der Mystifizierung von Mord und Gewalt gegen Frauen mit gesellschaftskritischem und feministischem Ansatz.

Jessica Knoll ist eine amerikanische Bestsellerautorin, dessen Debütroman „Ich.Bin.So.Glücklich“ bereits von Netflix verfilmt wurde. Inspiriert zu ihrem Roman „Bright Young Women“ wurde sie durch die Geschichte von Kathy Kleiner, einer der wenigen Überlebenden der Mordserie, die auch im Prozess aussagte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bright Young Women | Erschienen am 25. Oktober 2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-189-1
464 Seiten | 18,- Euro
Originaltitel: Bright Young Women | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Rebecca F. Kuang | Yellowface

Rebecca F. Kuang | Yellowface

In der Nacht, in der ich Athena Liu sterben sehe, feiern wir ihren Vertrag mit Netflix. (Auszug Anfang)

Die beiden, die hier feiern, sind zwei junge Autorinnen, June Hayward und Athena Liu, die sich noch aus Studientagen in Yale kennen. Eng befreundet sind sie nicht, sie verbindet eine lockere Bekanntschaft. Im Gegensatz zu June ist Athena sehr erfolgreich. Die schöne Sino-Amerikanerin ist eine Bestseller-Autorin und der aktuelle Shooting-Star der Verlagswelt. Junes Debütroman floppte, sie ist neidisch auf Athena, die alles hat, was sie auch gerne hätte. Missgünstig reduziert sie Athenas Erfolg auf deren gutes Aussehen und vermutet, dass ihre chinesische Herkunft für den Erfolg nicht irrelevant sei.

In Athenas Wohnung feiern sie den neuesten Erfolg, als diese tragisch verunfallt und stirbt. Kurz vorher hatte sie June noch ihr grade zu Ende gebrachtes Romanmanuskript gezeigt, wie immer typisch für Athena, auf einer klassischen Schreibmaschine geschrieben. Ohne groß nachzudenken, steckt June das noch nicht veröffentlichte Manuskript ein. Es ist die Geschichte chinesischer Arbeiter, die von der britischen und französischen Armee im Ersten Weltkrieg an die alliierte Front geschickt wurden. Obwohl erst nur eine Rohfassung, erkennt June sofort, welches Meisterwerk sie in den Händen hält. Viel zu gut um nicht veröffentlicht zu werden, und es zu überarbeiten fällt June leichter als eine ganz neue Geschichte zu schreiben. June überarbeitet den Text und gibt ihn schließlich als ihren aus. Über ihren Agenten verkauft sie „Die letzte Front“ für einen schwindelerregend hohen Vorschuss an einen kleinen aber renommierten Verlag namens Eden. Einige Änderungen werden vorgenommen, um es für den großen Markt lesbarer zu machen. June ist nicht zimperlich und streicht chinesische Namen oder kulturelle Anspielungen und baut sogar eine kleine Liebesgeschichte ein. Auch als der Verlag ihr vorschlägt, unter dem Namen Juniper Song zu veröffentlichen, da dieser Name ambivalenter wahrgenommen wird als Hayward, ist sie nicht zögerlich.

Und schon entsteht, wie aus dem Nichts, meine öffentliche Persona. Mach’s gut, June Hayward, unbekannte Autorin von Jenseits der Bäume. Hallo Juniper Song, Autorin des größten Literaturhits der Saison – geistreich, enigmatisch, die beste Freundin der verstorbenen Athena Liu. (Auszug Seite 88, 89)

„Die letzte Front“ wird ein Bestseller und zu Junes großem Durchbruch. Alle reißen sich um sie und den Roman. June, die immer nach literarischer Anerkennung strebte, kann endlich den Ruhm genießen. Sie ist der neue Stern am Autorenhimmel, ist wochenlang in den Bestsellerlisten und verteilt Autogramme auf Lesungen.

Bis dann plötzlich die Stimmung kippt. Es werden erste Vorwürfe laut und es mehren sich Kritiker in den sozialen Medien, die ihr vorwerfen, als weiße Frau mit der Geschichte vom Leid der chinesischen Arbeiter zu profitieren. Dann tauchen erste Verdächtigungen auf, die ihr Plagiat vorwerfen. June verfolgt beinahe obsessiv die Diskussion, die online stattfindet. Es ist eine Zusammenballung von Tweets, Memes, Shitstorms, YouTube Videos, Hassnachrichten und sogar Todesdrohungen. Nach dem Bestseller sind die Erwartungen an ihr nächstes Werk groß. Dadurch entsteht neuer Druck, denn ihr fällt gar nichts ein. June gerät immer tiefer in die Abwärtsspirale und die Erzählung wird immer temporeicher. Irgendwann fühlt sie sich sogar von Athinas Lius Geist verfolgt bis hin zu Wahnvorstellungen.

Zum ersten Mal seit ich das Manuskript abgegeben habe, überkommt mich ein tiefes Schamgefühl. Das ist nicht meine Geschichte, mein Erbe. Das ist nicht meine Community. Ich bin eine Außenseiterin, die sich ihre Liebe erschwindelt. Athena sollte hier sitzen, mit diesen Leuten lachen, Bücher signieren und sich die Geschichte ihrer Ältesten anhören. (Auszug Seite 146)

Ist es den Hype wert?
Yellowface ist eine klug beobachtete Satire auf den Literaturbetrieb aber auch ein rasanter, dynamischer sowie kluger Verlagswelt-Thriller, mit einigen Momenten witziger Überzeichnung, den ich kaum aus der Hand legen konnte. Kuang schreibt in klaren, schnörkellosen Sätzen, pointiert, scharfzüngig und in umgangssprachlichem Ton. Die aktuellen Themen und Debatten, Alltagsrassismus in der elitären Verlagswelt, Aneignung fremder Werke werden noch um die ethische Komponente erweitert und es geht auch um kulturelle Aneignung im Buchmarkt. Dabei fand ich die Einblicke in die Buchindustrie hochinteressant, zum Beispiel den Einsatz von Sensitivity Readern, um problematische Darstellungen anderer Kulturen zu vermeiden. Oder die Mechanismen und für mich besonders spannend die Rezensionskultur in den Sozialen Medien. Die Ich-Perspektive funktioniert dabei richtig gut, denn anhand von June fühlen wir mit, wie sich Misserfolg aber auch Einsamkeit in dieser hart umkämpften Branche anfühlt. Ganz klassisch ist June dabei eine unzuverlässige Erzählerin, die sich und uns was vormacht. Sie bereichert sich an einer fremden Geschichte und trotz einiger Gewissensbisse wird sie nicht müde, die Realität mit selbstgerechten Rechtfertigungen zu verdrehen oder eiskalt Athenas trauernde Mutter zu belügen. Wenn June nach Chinatown fährt mit Pfefferspray in der Tasche wird klar, dass die vermeintlich liberale Mittelschicht vielleicht doch nicht so reflektiert ist, wie sie denkt. Aber auch die glorifizierte Athena Liu entpuppt sich als doch nicht so heilig. Auch sie scheute sich nicht vor rücksichtslosen Methoden bei der Beschaffung von schriftstellerischem Material zurück. Im Mittelteil wiederholen sich einige Motive, bevor es zum Schluss wieder temporeicher mit ganz traditionellen Spannungselementen wird.

Autorin
Rebecca F. Kuang ist der aktuelle Shooting Star der amerikanischen Buchlandschaft. In ihrem aktuellen Roman „Yellowface“ verlässt die erfolgreiche Fantasy-Autorin ihren bisherigen Bereich und kombiniert unterschiedliche Genres. Ein kluger Schachzug, dass die Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, die Geschichte aus einer weißen Perspektive erzählen lässt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Yellowface| Erschienen am 29.02.2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-162-4
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Yellowface | Übersetzung aus dem Englischen von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Laurent Binet | Eroberung

Laurent Binet | Eroberung

Nein, Alternativweltromane gibt es nicht nur mit Nazis. Auch wenn das manchmal so aussieht, denn das NS-Regime bietet natürlich allerhand faszinierende Denkspiele, wie wohl die Geschichte des 20.Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Aber es gibt auch andere historische Romane mit postfaktischem Plotansatz. Einen besonders interessanten Ansatz hat der französische Autor Laurent Binet gewählt. Binet ist Historiker und Dozent und wurde international erstmals durch seinen Roman „HHhH“ bekannt, für den er unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Thema darin: Das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 in Prag. Bereits sein zweiter in Deutsche übersetzte Roman, „Die siebte Sprachfunktion“ spielt mit alternativen historischen Abläufen. In seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Eroberung“ hat er erneut eine Alternativweltgeschichte verfasst und geht dazu einige Jahrhunderte zurück.

Binet beginnt den Roman mit einer Reise der Wikingerin Freydis, einer Tochter von Erik dem Roten über die bekannten Anlegeplätze der Wikinger in Kanada hinaus nach Süden. Die Wikinger vermischen sich mit den einheimischen Stämmen, bringen das Eisenschmieden nach Amerika und die Ureinwohner bilden irgendwann Antikörper gegen die Viren, die die Wikinger aus Europa mitbringen. Jahrhunderte später wird Kolumbus nach Amerika segeln und nicht zurückkehren, Amerika bleibt für Europa ein so gut wie dunkler Fleck auf den Landkarten. Schließlich kommt es um das Jahr 1530 zum einem Machtkampf zwischen zwei Brüdern im Inkareich. Der unterlegene Bruder Atahualpa flüchtet mit seinem letzten verbliebenem Hofstaat zunächst nach Kuba und von dort macht er sich 1531 auf gen Europa.

Was dann passiert, dazu möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr groß spoilern. Allerdings stoßen die Inkas in eine sehr wilde Zeit, Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und König von Spanien bekriegt sich mit dem französischen König Franz I., die Reformation Luthers sorgt für unklare Machtverhältnisse und Glaubenskriege, die heilige Inquisition verfolgt gnadenlos Un- und Andersgläubige und die Türken unter Süleyman I. bedrohen das Habsburgerreich. In dieses fragile, komplexe System stoßen nur die Inkas mit wenigen Mann, nicht mit allen europäischen Erfindungen vertraut, aber clever, wissbegierig, in macht- und militärtaktischen Dingen den Europäern überlegen und mit einer Menge Gold und Silber in der Heimat in der Hinterhand. Wie die Inkas in diese politisch komplexe Lage hineinstoßen und den europäischen Kontinent quasi „erobern“, davon erzählt Binet mit viel Lust und Spaß an einer historischen Alternativerzählung.

Doch die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, darunter manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztendlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten. (Auszug S.104)

Dabei gliedert Binet den Roman in vier Teile. Drei kürzere, nämlich zunächst die Saga von Freydis Eriksdottir, danach Fragmente aus dem Tagebuch von Christoph Kolumbus und zuletzt Cervantes Abenteuer. Als dritten und mit Abstand größten Teil fungieren die Atahualpa-Chroniken. Dabei ist das wörtlich zu nehmen, ein allwissender Erzählern berichtet als Chronist von Atahualpa und seinen als Quiteños bezeichneten Inka. Der Stil ist demnach auch eher nüchtern, chronistisch, weitgehend ohne Dialog. Dadurch verzichtet Binet auf eine allzu große Tiefe bei den Hauptfiguren, diese bleiben nur wenig mehr als oberflächlich skizziert. Es gelingt andererseits aber auch, diese wahnwitzige Geschichte auf unter 400 Seiten zu erzählen.

Und dies war für mich als Leser zumeist sehr unterhaltsam und vermutlich hatte auch der Autor großen Spaß. Ein bißchen Hintergrundwissen sollte vorhanden sein, aber dann kann man den Einfallsreichtum des Autors genießen, der den Inkaherrscher sich über die Religion des Angenagelten Gottes wundern lässt, ihm sehr schnell die Schriften eines gewissen Macchiavelli zukommen lässt, ihn mit einigen interessanten Persönlichkeiten der Zeit zusammenbringt (wie etwa einem ziemlich abstoßend antisemitischen Luther) oder einen Briefwechsel zwischen Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam fingiert. Dabei betreibt er ein wenig prä-koloniale Studien und zeigt auf, wie sehr die Eroberer aus Südamerika (bei aller Härte und allem Machtanspruch) den Europäern in der Organisation und Schaffung der Prosperität eines Staatswesens überlegen waren. Laurent Binet gelingt trotz ein paar Schwächen ein wirklich unterhaltsames Werk, das aus dem Subgenre auf jeden Fall heraussticht.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eroberung | Die Taschenbuchausgabe erschien 2022 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00346-2
384 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Civilations | Übersetzung aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Carl Nixon | Kerbholz

Carl Nixon | Kerbholz

Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.

32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.

Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.

Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.

Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)

Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.

Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Rocking Horse Road“ von Carl Nixon