Kategorie: historischer Krimi

Niklas Natt och Dag | 1793 ♬

Niklas Natt och Dag | 1793 ♬

Krieg, Korruption, Armut, tödliche Krankheiten und noch ohne Kanalisation im Dreck versinkend! Das Stockholm Ende des 18. Jahrhunderts, so wie es uns Niklas Natt och Dag zeigt, ist wahrlich kein Ort, in dem man sich gerne aufhalten möchte. Die Menschen leben in elenden Verhältnissen; sexuelle Gewalt ist an der Tagesordnung und Ausbeutung und Bestechung regieren den Alltag.

Der Häscher mit dem Holzarm

In diesem Moloch zieht der einarmige Stadtknecht „Mickel“ Cardell die verstümmelten Reste einer Leiche aus der übel stinkenden Stadtkloake Södermalms. Der traumatisierte Kriegsveteran leidet noch immer unter seinen Erlebnissen im Krieg gegen Russland, in dem er einen Kameraden und seinen Arm verlor und versucht, dieses Leid im Suff zu vergessen.

Dem Toten wurde noch zu Lebzeiten sämtliche Gliedmaßen amputiert, die Augen ausgestochen, die Zähne herausgebrochen und die Zunge herausgeschnitten. Selbst für damalige Zeiten ein grausamer Fund, verstörend genug, dass es den trink- und schlagfesten Cardell nicht mehr loslässt und so schließt er sich dem cleveren Juristen Cecil Winge an, um ihn bei der Aufklärung des grausamen Verbrechens zu unterstützen. Der angesehene Kriminalist ist bei der Stockholmer Polizei zuständig für „besondere Verbrechen“. Der zurückhaltende Intellektuelle Winge, dem nicht mehr viel Zeit bleibt, da er unheilbar an Tuberkulose erkrankt ist und der raubeinige Haudegen Cardell bilden ein ungleiches Paar. Es eint sie ein großes Gerechtigkeitsempfinden, allerdings scheint nicht vielen an der Aufklärung des Falles gelegen zu sein.

Geschichte in vier Teilen

Der Verlauf der Handlung wird nicht linear beschrieben und ist aufgeteilt in vier Teile. Der erste Abschnitt beschreibt das Auffinden des namenlosen Torsos im Herbst 1793 sowie den Beginn der Ermittlungen. Mit der Genialität eines Sherlock Holmes hat das aber gar nichts zu tun und beinhaltet für mich schon einige Längen. Der zweite und dritte Abschnitt führt uns dann zeitlich rückwärts durch das Geschehen. Ich hoffte, dass es jetzt endlich losginge, als wir im zweiten Abschnitt Kristofer Blix kennenlernen, einen einfachen Jungen, der in der Armee als Gehilfe bei der Versorgung von Verwundeten half. Danach versucht er in Stockholm sein Glück, verliert aber beim Spiel sein ganzes Geld und ist daraufhin einem sadistischen Gläubiger ausgeliefert. Dieser Erzählstrang birgt für mich ein Übermaß an schier grenzenloser Gewalt, Beschreibungen von tiefster Erniedrigung und psychischen wie körperlichen Demütigungen, so dass ich vor lauter Abscheu teilweise nur noch quer gehört habe. Dieses wird in Form von Briefen erzählt, die der naive Blix seiner Schwester schreibt. Das fand ich dramaturgisch langweilig und auch ziemlich unrealistisch, da man solche Grausamkeiten nicht in so einem kultiviertem Ton beschreibt und schon gar nicht ein einfacher Bauernjunge ohne tiefere Bildung.

Unschuldig im Spinnhaus

Im dritten Abschnitt geht es um das Schicksal von Anna Stina Knapp, einem jungen Mädchen, dass unschuldig der Hurerei angeklagt wird und zu mehreren Jahren „Resozialisierung“ in ein Spinnhaus verurteilt wird, wo sie und die anderen Arbeiterinnen der Willkür der sadistischen Wärter ausgesetzt sind. Leider rief das bei mir kaum emotionale Reaktionen hervor, da ich zu den Charakteren keine Bindung fand. Dieser triviale Teil wirkt fast zusammenhanglos, auch hatte ich den Eindruck, dass der Autor unbedingt über die damaligen Zustände der Frauen berichten wollte und diese dann in die eigentliche Krimihandlung hinein konstruiert hat. Er schafft damit einen Nebenschauplatz, der zum eigentlichen Krimiplot nicht viel beiträgt.

Im vierten Abschnitt werden dann im Winter 1793 alle Handlungsstränge zusammengeführt und zum Ende kommt tatsächlich noch so etwas wie Spannung auf.

Fazit

Der vorliegende historische Roman wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt und wird im Klappentext vollmundig als Meisterwerk angekündigt. Vielleicht waren meine Erwartungen deshalb zu hoch, aber bei mir ist der Funke nicht richtig übergesprungen. Der Autor erschafft durch detaillierte Darstellungen der damaligen Verhältnisse und unverblümten Milieu-Schilderungen ein düsteres Stadtbild der Metropole. Als Hörer ist man hautnah dabei in den deprimierenden Armenvierteln Stockholms mit den dreckigen Gassen, Wirtshäusern, Spelunken und Hurenhäusern oder bei einer plastisch beschriebenen Hinrichtungsszene und hier ist der Roman 1793 wirklich sehr gut. Die historischen Abschweifungen sorgen für ein lebendiges Bild der schwedischen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhundert und der politischen Zustände, lähmen aber auch das Tempo und bremsen die Story ein ums andere Mal aus. Auch die Furcht des Schwedischen Adels über ein Herüberschwappen der Französischen Revolution, die sich grade auf ihrem Höhepunkt befindet, wird thematisiert.

Das große Problem des historischen Krimis war für mich der Mangel an Tiefgang, der die detaillierten Beschreibungen der abstoßenden und unvorstellbaren Gräueltaten rechtfertigen würde. So bleibt für mich nur ein Nachgeschmack nach grenzenlosem Ekel und ich fühlte mich auf die Rolle des Voyeurs reduziert. Abgesehen von den beiden unterschiedlichen Protagonisten Winge und Cardell, die sich über den Fall langsam annähern und sogar anfreunden, blieben alle anderen Charaktere frustrierend eindimensional und entwickeln sich wenig. Für mich kein Meisterwerk, sondern ein recht unterhaltsames Sittengemälde mit interessanten Lektionen in Geschichte aber leider mit dramaturgischen Schwächen.

Eines muss ich aber positiv anmerken: Man spürt die Begeisterung und Faszination des 1979 als Nachkomme einer alten schwedischen Adelsfamilie geborenen Autors für diese Zeit der Umbrüche. Und dass Niklas Natt och Dag, der als freier Journalist arbeitet, die Recherchearbeit am meisten Spaß gemacht hat, glaube ich sofort.

Das gekürzte Hörbuch wird von Philipp Schepmann vorgelesen, bis auf die Passage über Kristofer Blix, die von Simon Roden vorgetragen wird, und beide machen ihre Sache sehr gut.

 

Rezension von Andy Ruhr.

1793 | Das Hörbuch erschien am 1. März 2019 bei Hörbuch Hamburg
ISBN 978-3-86952-410-8
2 mp3-CDs | 18.- Euro
Laufzeit:  12 Stunden 47 Minuten
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Volker Kutscher | Marlow

Volker Kutscher | Marlow

Geheimakten. Weiß Gott woher. Aber das spielte auch keine Rolle. Ebenso war es völlig unerheblich, dass Rath noch keinen zusammenhängenden Satz gelesen hatte und gar nicht wusste, worum es ging. Er hatte unbefugt geheimes Material geöffnet, das auf irgendeine Weise mit Hermann Göring zu tun hatte, seinem Dienstherrn, dem zweitmächtigsten Mann im Reich. (Auszug Seite 35)

Im Spätsommer 1935 wird Gereon Rath, inzwischen Oberkommissar, zu einem tödlichen Verkehrsunfall gerufen. Ein Taxi ist aus noch ungeklärten Gründen auf den Yorckbrücken frontal gegen eine Mauer gerast und beide Insassen, der Fahrer und der Passagier, sind auf der Stelle tot. Rath findet im Fond des Wagens einen Umschlag, den er spontan öffnet und erschrocken feststellt, dass es sich hier um geheime Nachforschungen des SS-Geheimdienstes den Reichsministers Hermann Göring betreffend, handelt. Er will die brisanten Akten schnell wieder los werden und schickt sie an die ursprüngliche Adresse in Nürnberg.

Hirntumore und Heiratsschwindler

Da kein Hinweis auf Fremdeinwirkung vorliegt, will Rath den Fall eigentlich schnell abschließen, denn seine Tage bei der Mordinspektion unter Kriminaldirektor Ernst Gennat, dem „Buddha“ sind gezählt. Die Arbeit macht ihm schon lange keinen Spaß mehr, seit er zuletzt nur noch mit belanglosen Fällen betraut wird und er ist daher froh, dass sein Versetzungsantrag zum Landeskriminalamt angenommen wurde. Andererseits kommen ihm einige Sachen sehr dubios vor. Bei dem toten Fahrgast handelt es sich um einen hochrangigen SS-Mann, der allerdings unter ganz anderem Namen von einer Dame als vermisst gemeldet wurde und die ist ausgerechnet die Sekretärin von Hermann Göring. Weiter stellt sich heraus, dass der Taxifahrer unter einem aggressiven Hirntumor litt, was eine Erklärung für den Unfall wäre.

Hier kommt Raths alter Vorgesetzter, der ehemalige Kommissar Wilhelm Böhm, der nun gemeinsam mit Charlotte Rath eine Detektei betreibt, in Spiel. Ihn erinnert das an einen Fall aus der Vergangenheit und der hängt mit dem Tod von Charlys Vater vor einigen Jahren zusammen. Als Rath begreift, dass seine Ehefrau in Gefahr ist, und auch, dass sein ewiger Widersacher, der Gangsterboss Johann Marlow irgendwie in die Sache verstrickt ist, macht er sich auf den Weg nach Nürnberg. Offiziell um seinen Ziehsohn Fritz zu besuchen, der mit der HJ zum Nürnberger Reichsparteitag marschiert ist. Der Junge hatte sich in den letzten Monaten durch seine Bewunderung für die Nazis immer mehr von seinen Pflegeeltern entfernt. Und zu allem Überfluss geraten diese wegen mangelnder Parteitreue ins Visier des Jugendamtes.

Eine andere Geschichte

Doch eigentlich geht es in dem siebten Teil der Gereon-Rath-Reihe um den ehemaligen Berliner Unterweltkönig Johann Marlow. Im neuen Deutschland zählt nur noch Macht und nicht mehr der Rechtsstaat. Also trägt Dr. M jetzt SS-Uniform statt Smoking und will mit Hilfe einflussreicher Freunde in den höchsten Regierungskreisen aus seinen kriminellen Geschäften aussteigen. Im Wechsel mit dem aktuellen Ermittlungsfall wird in Rückblenden „eine andere Geschichte“ erzählt. Diese beschreibt einen Zeitraum von 1918 bis 1926 und wir erfahren von Marlows Jugend in der kaiserlichen Kolonie Tsingtau, wie der Sohn eines rassistischen Vaters als Sanitätsunteroffizier im Ersten Weltkrieg diente, erfahren von der dramatischen Liebesgeschichte mit einer Chinesin und ihrem Sohn Liang Kuen-Yao, der später seine rechte Hand und Chauffeur wird.

Gewohnt komplex mit mehreren parallel laufenden Handlungssträngen sowie Rückblenden in die Vergangenheit und wie immer akkurat recherchiert lässt dieser Band den grauen Alltag im dritten Reich auf beklemmende Weise nachempfinden. Fast beiläufig erfährt man von den sogenannten Stürmerkästen, ein antisemitisches Hetzblatt, dass in öffentlichen Schaukästen ausgestellt wurde. Es gibt bedrohliche Szenen, wenn unser Held vor die SS zitiert wird.
Aber Rath ist auch ein fragwürdiger Held, was besonders in diesem Band deutlich wird. Ein widersprüchlicher Mensch mit manchen Irrtümern, der nicht immer den politischen Durchblick behält. Aber grade dadurch ist er für mich eine absolut realistische, authentische Figur. Er verstrickt sich immer wieder in neue Lügen und ist über sich selbst entsetzt, als er auf dem Parteitag in Nürnberg von den Massen mitgerissen wird. Am Beispiel des eher unpolitischen Gereon Rath spürt man die Gefahr, zum Mitläufer zu werden.

Er, Gereon Rath, der in Berlin den Deutschen Gruß verweigerte und verschlampte, wo immer das nur möglich war, stand hier in Nürnberg am Straßenrand und riss, getragen von der Masse und ihrem Rhythmus, in einem fort den rechten Arm hoch. (Seite 280)

Babylon Berlin

Marlow ist der erste Band nach dem Erscheinen von Babylon Berlin, mit fast 40 Millionen Euro die teuerste deutsche Fernsehserie aller Zeiten, mit namhaften Schauspielern und dem Hollywood erfahrenen Tom Tykwer. Drei Drehbuchautoren hatten den ersten Band der Gereon-Rath-Reihe Der nasse Fisch zu 16 Folgen in zwei Staffeln verwandelt. Und egal, wie einem die Serie gefallen hat – und die Meinungen gehen hier weit auseinander: Für die einen ist es ein bildgewaltiges Meisterwerk, für die anderen zu steril und zu komplex – von Volkers Kutschers Original-Story ist hier nicht viel übrig geblieben. Der Autor sagt dazu, dass er seine Figuren loslassen und vertrauen musste, denn Tykwer sprühte vor Ideen und er wollte dessen Kreativität nicht zügeln. Es war ihm klar, dass mit Bildern zu erzählen etwas anderes ist, als mit Worten. Wichtig war ihm nur, dass der Grundgedanke seiner Kriminalreihe erhalten bliebe.

In dem illustrierten Prequel der Serie Moabit wird die Vorgeschichte von Charlotte Ritter und dem Tod ihres geliebten Vaters erzählt und im Gegensatz zur Fernsehserie wird Charlotte hier mit einer ganz anderen Biografie ausgestattet. Jetzt im siebten Band Marlow bleibt Volker Kutscher bei seiner Storyline und führt diese Geschichte weiter bis zur spannenden Auflösung.

Mir haben bisher alle Bände der Reihe sehr gut gefallen, aber Marlow ist unglaublich dicht erzählt und eindeutig ein Höhepunkt!

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Marlow | Erschienen am 30. Oktober 2018 bei Piper
ISBN 978-3-492-05594-9
528 Seiten | 24.- Euro
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Ein langes Wochenende mit… Volker Kutscher.

Auch bei uns: Rezensionen zu Volker Kutschers Romanen Der nasse Fisch, Der stumme Tod, LunaparkGoldstein,Die Akte Vaterland sowie Märzgefallene.

Volker Kutscher | Märzgefallene ♬

Volker Kutscher | Märzgefallene ♬

Im März 1933 nutzt der Berliner Kriminalkommissar Gereon Rath ein paar freie Tage und stürzt sich mit falscher Gumminase, schwarzer Brille und Schnurrbart in den Kölner Karnevalstrubel. Der Ex-Rheinländer muss seinen Kurzurlaub jedoch abbrechen, als in Berlin der Reichtstag brennt und alle verfügbaren Mitglieder der Polizei bei der Politischen eingesetzt werden. Der frisch zum Reichskanzler ernannte Adolf Hitler nutzt den Reichstagsbrand, um politische Gegner auszuschalten, besonders die Anhänger der kommunistischen Partei.

Obdachlose und minderjährige Brandstifter

In Berlin hat sich Raths ungeliebter Vorgesetzter Oberkommissar Wilhelm Böhm ins politische Abseits manövriert und so erbt Rath den Fall eines am Nollendorfplatz ermordeten Obdachlosen. Dieser wurde mit einem Grabendolch erstochenen. Der Wehrpass in seinem Mantel weist den im Gesicht schlimm entstellten Toten als Kriegsveteran des Ersten Weltkriegs aus. Eine Spur führt zu einer jungen Brandstifterin. Charly Ritter befragt Hanna Singer, die in einem Irrenhaus untergebracht ist, bekommt aber aus dem sechzehnjährigen verstörten Mädchen nichts heraus. Am nächsten Tag bricht Hanna aus der Anstalt aus.

Operation Alberich

Es meldet sich ein Zeuge, der angibt mit dem Ermordeten im Krieg gekämpft zu haben. Leutnant a.D. Achim Graf von Roddeck hat ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben, das kurz vor der Veröffentlichung steht. In seinem Roman „Märzgefallene“ geht es um die schrecklichen Ereignisse während der letzten Kriegstage des ersten Weltkrieges. Im Besonderen um die unrühmlichen Taten der abziehenden Wehrmacht in Frankreich sowie um die schändlichen Verbrechendes des jüdischen Hauptmannes Benjamin Engel.

Viele markante Ereignisse hat Volker Kutscher in die Handlung eingebaut, die diese Zeit prägten, wie den Reichstagsbrand, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler oder die Bücherverbrennung im nationalsozialistischen Deutschland. Der Autor versteht es wieder hervorragend, die politische und gesellschaftliche Realität jener Jahre mit der fiktiven Geschichte in Einklang zu bringen. Langsam aber sicher beeinflusst das NS-System das Alltagsleben. Die detailgenaue und authentische Gestaltung des zeitgenössischen Hintergrundes macht einen großen Reiz dieses spannenden Kriminalromans aus.

Rath bewegt sich in diesem fünften Kriminalroman wieder am Rande der Legalität und darüber hinaus. Er lässt Leichen verschwinden, vertuscht Morde, belügt Vorgesetzte und Verlobte, nimmt die Hilfe von Unterweltbossen an und wacht am Karnevalsmorgen mit einer fremden Frau im Bett auf. Er ist eine eigensinnige Figur, dem Gerechtigkeit oft wichtiger ist als Recht. Volker Kutscher hat hier eine Person mit Grautönen geschaffen. Rath ist intelligent genug, die Ereignisse um ihn herum wahrzunehmen. Aber er ist auch ein bisschen bequem und redet sich ein, so schlimm wird es schon nicht werden.

David Nathan ist ein deutscher Hörbuch- und Hörspielsprecher und für mich einer der Besten seines Fachs, besonders bei den Interpretationen in den Genres Thriller- und Horrorliteratur. Nathan hat auch viele Romane des amerikanischen Schriftstellers Stephen King eingelesen. Er lebt in Berlin und ist die deutsche Stimme von u.a. Johnny Depp und Christian Bale. Ich habe bei Nathan nie das Gefühl, das mir jemand etwas vorliest, sondern ich bin immer mitten in der jeweiligen Geschichte drin.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Märzgefallene | Das Hörbuch erschien am 27. September 2018 im Argon Verlag
ISBN 978-3-8398-9397-5
1 mp3-CD | 10.- Euro
Laufzeit der ungekürzten Lesefassung: 9 Stunden 41 Minuten
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Ein langes Wochenende mit… Volker Kutscher.

Auch bei uns: Rezensionen zu Volker Kutschers Romanen Der nasse Fisch, Der stumme Tod, LunaparkGoldstein und Die Akte Vaterland.

Volker Kutscher | Die Akte Vaterland ♬

Volker Kutscher | Die Akte Vaterland ♬

Schnapsbrennerei und indianisches Pfeilgift

Der vierte Teil der Gereon-Rath-Reihe führt uns in den Sommer von 1932. Im Lastenaufzug von Haus Vaterland, einer riesigen Vergnügungsstätte am Potsdamer Platz in Berlin, wird ein Spirituosenhändler tot aufgefunden. Alle Ermittlungen deuten darauf hin, dass er ertrunken ist. Zwei weitere ähnlich gelagerte Todesfälle ergeben, dass die Opfer durch ein indianisches Pfeilgift gelähmt wurden. Kommissar Gereon Rath ist frustriert, denn seine Ermittlungen gegen einen mysteriösen Auftragsmörder, genannt „Phantom“ treten auf der Stelle und er muss die Ermittlungen abgeben. Charlotte Ritter kommt von einem Studienjahr aus Paris zurück und fängt als Kommissaranwärterin bei der Weiblichen Kriminalpolizei am Alex an. Sie wird ausgerechnet Gereons Mordkommission zugeteilt und endlich machen die beiden durch eine Verlobung ihre Beziehung öffentlich. Charly wird undercover als Küchenhilfe in Haus Vaterland eingeschleust und nicht nur hier ist sie mehrfach frauenfeindlichen Übergriffen ausgesetzt.

Die Spur führt nach Ostpreußen

Da alle Spuren in eine Spirituosenbrennerei nach Ostpreußen führen, macht sich Rath in die masurische Kleinstadt Treuburg auf. Die wortkargen Einwohner erweisen sich als nicht besonders auskunftsfreudig und sind Fremden gegenüber erst mal misstrauisch. Einige Bewohner versuchen sogar, den Kommissar bewusst ins Moor zu leiten und hoffen, dass er nie wieder auftaucht. Der Reiz entsteht hier durch den absoluten Gegensatz zwischen der pulsierenden, aufgeklärten Weltstadt Berlin und dem vermeintlich idyllischen Treuburg. Mittels Volksabstimmung war Masuren grade wieder deutsch geworden und der Hass auf alles was polnisch oder katholisch ist, immer noch spürbar.

Ich kann die vielschichtige Handlung hier nur anreißen. Volker Kutscher nimmt sich viel Zeit und entwickelt langsam und ruhig seinen Plot mit mehreren miteinander verwobenen Fällen. Der Autor schafft es wieder, Zeitgeschichte in einen unterhaltsamen Kriminalroman zu transportieren ohne die Spannungskurve zu vernachlässigen. Kutscher glänzt nicht mit temporeichen atemlosen Thrill, sondern mit ausgefeilter Dramaturgie. Seinen immensen Einfallsreichtum kann ich nur wieder bewundern. Es geht um organisierte Schnapsbrennerei und ein in den Wäldern lebenden Ostpreußen. Vom Staatsputsch im Juli 1932 gegen die demokratische Regierung bekommt der Berliner Kommissar aufgrund seiner Ermittlungen in der Wildnis von Masuren gar nichts mit. Dabei gerät Rath dadurch ganz schön in Bedrängnis, da auch die Spitze der Berliner Polizei ausgetauscht wird und er damit den Schutz des Polizeivizepräsidenten verliert. Nach wie vor haben die Menschen keine Ahnung vom bevorstehenden Untergang und der politisch eher uninteressierte Gereon Rath, beispielhaft für einen Teil der Bevölkerung, verabscheut zwar die Nazis, versucht sich aber mit den Gegebenheiten zu arrangieren.

David Nathan ist der perfekte Interpret für diese Zeitreise in eine ganz andere Welt. Er benötigt nur wenige Minuten und man kann sich dem Kopfkino nicht mehr entziehen. Bei dem Hörbuch handelt es sich um eine gekürzte Version.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Akte Vaterland | Das Hörbuch erschien am 26. September 2018 im Argon Verlag
ISBN 978-3-8398-9394-4
1 mp3-CD | 10.- Euro
Laufzeit der ungekürzten Lesefassung: 7 Stunden 21 Minuten
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17special Ein langes Wochenende mit… Volker Kutscher.

Auch bei uns: Rezensionen zu Volker Kutschers Romanen Der nasse Fisch, Der stumme Tod, Lunapark und Goldstein.

Viktor Glass | Schüssler und die verschwundenen Mädchen

Viktor Glass | Schüssler und die verschwundenen Mädchen

Ein zeitgeschichtlicher Kriminalroman

In seinem ersten Kriminalroman präsentiert uns Viktor Glass ein außergewöhnliches Ermittlerteam: Der Privat- oder „Geheim“-Polizist Ludwig Schüssler und das Dienstmädchen Caroline Geiger geraten aneinander und versuchen in der Folge gemeinsam, das Rätsel um mehrere verschwundene Frauen zu lösen.

Im Jahr 1890 hat die Industrialisierung einen Höhepunkt erreicht, in Augsburg, einem Zentrum der Textilindustrie, rüsten immer mehr Fabriken auf Kardier- und Spinnmaschinen um, setzen automatische Webstühle, Bleich- und Färbemaschinen ein um teure Handarbeit zu ersetzen. Ganze Berufszweige sterben aus, und bei den begüterten Schichten halten ebenfalls die ersten modernen Geräte und Maschinen Einzug: Staubsauger, automatische Waschkessel und anderes machen Haushaltshilfen überflüssig. Für die entlassenen Dienstmädchen bedeutet das Not, Armut und Verzweiflung und viele treibt es in den Selbstmord.

Eines dieser bedauernswerten Geschöpfe lernen wir im Prolog des Buches kennen, als das Mädchen sich in die Hochwasser führende Wertach stürzen will. Aber ein Kunstmaler entdeckt die junge Frau, er überredet sie, sich gegen Bezahlung von ihm porträtieren zu lassen und rettet so ihr Leben. Wirklich?

Schon das erste der 26 Kapitel von angenehmer Länge bereitet den Leser vor auf die Atmosphäre des Romans, der das Leben in der Stadt an Lech und Wertach, an der Grenze von Altbayern und Schwaben in einer Zeit des Wandels nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges schildert.

Wir lernen Ludwig Schüssler kennen, der seinem täglichen Ritual frönt, dem abendlichen Besuch im „Lahmen Hasen“, wo er sein Bier trinkt, die Tageszeitung studiert und sich eine Virginia gönnt. An diesem Abend wird Schüssler von einem Cheveauxleger angesprochen (ja, im Laufe der Geschichte lernen wir noch einige Begriffe kennen, die längst nicht mehr in Gebrauch sind), einem Angehörigen des königlichen Kavallerieregiments, Augustin Hipp. Er vermisst seine Verlobte Luise Habenicht, ein Hausmädchen, das verschwunden ist und sich seit Tagen nicht gemeldet hat.

Widerstrebend willigt Schüssler ein, sich einmal umzuhören, soweit seine alltäglichen Aufträge ihm die Zeit lassen. Diese Aufträge bekommt er von den Prinzipalen der Kaufläden und Warenhäuser in denen Diebstähle begangen werden, dort arbeitet er als Ladendetektiv. Sein aktueller Fall führt ihn ins Textilhaus Ganghofer, wo er eine verdächtige Frau in der üblichen Dienstbotenkleidung beobachtet. Die bemerkt ihn allerdings und weist den überrumpelten Schüssler in einem Ton zurecht, der ihr als Dienstmädchen nicht zusteht. Wir befinden uns schließlich in einer Zeit, in der Standesdünkel üblich ist und Frauenfeindlichkeit alltäglich, wie einige erschreckende Beispiele noch zeigen werden. Schüssler imponiert die resolute und unerschrocken Frau, mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, die wahren Diebe zu überführen. Die beiden verabreden, künftig bei passender Gelegenheit erneut zusammenzuarbeiten.

Caroline Geiger, so heißt die Frau, ist relativ unabhängig, verantwortlich nur für fünf alte Damen, die sich ihrer Obhut anvertraut haben. Ehemalige Lehrerinnen allesamt, die für ihren Orden als Teil des Schuldienstes bis nach China und Afrika missioniert haben. Ihren Lebensabend verbringen sie nun in einem eigens für sie geschaffenen Stift, eine große ehemalige Bürgerwohnung. Caroline führt ihnen als Angestellte des Ordens den Haushalt und bewohnt auch eines der sieben Zimmer. Wenn es die Umstände erlauben, arbeitet sie auch außer Haus und auf eigene Rechnung, zum Beispiel wenn große Wäsche ansteht oder ein Hausmädchen erkrankt ist. Sie ist selbstbewusst und selbstbestimmt, ihr Erspartes gibt ihr Sicherheit, sie hätte im Fall des Falles keinen Mann nötig wie so viele Frauen, die ihre Arbeit in den bürgerlichen Haushalten verloren haben oder in den Fabriken, die jetzt massenhaft entlassen. Die Augsburg-Münchener Abendzeitung ist voll mit Inseraten von Frauen, die eine Anstellung suchen oder einen Mann, gerne auch einen älteren. Eltern versuchen, ihre Töchter zu verheiraten oder doch wenigstens zu verloben, sobald sie zwölf , dreizehn Jahre geworden sind.

Caroline liebt ihre Unabhängigkeit, ebenso wie Schüssler, der zwar eine dreijährige Ausbildung in der Polizei- und Gendarmerieschule Fürstenfeldbruck absolviert hat, sich dann aber selbstständig machte, mit einigem Erfolg. Die Polizei verfolgt seine Aktivitäten mit Argwohn, aber in der Bevölkerung hat er sich bereits einen guten Ruf erarbeitet, vor allem, seit er ein kleines Mädchen aufspürte, das ihrem Hausmädchen Anna Valentin auf einem Markt ausriss und als vermisst galt. Schüssler fand die Kleine, die sich in einem Keller versteckt hatte. Anna aber wurde entlassen und ist seither verschwunden, das Schicksal der Luise Habenicht offenbar kein Einzelfall. Schüssler will gemeinsam mit Caroline herausfinden, was den Mädchen widerfahren ist, die zufällig aus dem gleichen kleinen Dorf stammen: sind sie auf der Suche nach Arbeit abgewandert, vielleicht zurückgekehrt in ihr Elternhaus, oder sind sie wie so viele ins Wasser gegangen?

Schüssler wird Zeuge, wie sich eine verzweifelte Hausangestellte vor ein Pferdefuhrwerk stürzt, ein Passant hatte vergeblich versucht, das Mädchen zurückzuhalten. Es ist der Stadtbekannte Maler Eginald „Egi“ Berwanger, der hier gerade eine Ausstellung hat: Dort zeigt er „antike Göttinnen“, die, wie Caroline bei näherer Betrachtung feststellt, allesamt junge Mädchen aus Augsburg zum Vorbild haben, vom Künstler unschicklicherweise nackt abgebildet. Diese Modelle können sich fortan in der Stadt nicht mehr sehen lassen, was hat sie dazu bewogen, sich Berwanger so zu präsentieren? Der Maler räumt ein, die jungen Frauen gezielt auf der Straße anzusprechen und mit der Aussicht auf ein großzügiges Honorar in sein Atelier zu locken. Caroline glaubt, dass er sie dort auf irgend eine Art gefügig macht und wahrscheinlich nicht nur porträtiert. Und sie erfährt, nachdem sie sich angeblich als Modell zur Verfügung stellen will, dass Berwanger die Mädchen fotografiert, um dann nach dieser Vorlage seine Kunstwerke zu erschaffen. Was geschieht danach mit ihnen, und was macht der Künstler mit den Fotografien?

In den Brauhäusern der Stadt treibt sich ein Kartenverkäufer um, Hugo Halblaib, ein kleiner Betrüger und gerissener Geschäftemacher, der Touristen Ansichtskarten mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt aufschwatzt, aber nicht nur: Unter der Hand offeriert er seine „speziellen“ Karten, Aktbilder, die vor allem bei Herren aus England reißend Absatz finden. Ja, zu jener Zeit tauchen die ersten Reisegruppen von der Insel auf, organisiertes Sightseeing durch den umtriebigen Pfarrer Thomas Cook. Diese merkwürdigen Touristen beschreibt Glass auf höchst amüsante Art, wie überhaupt seine Art, für unsere heutigen Begriffe eher ungewöhnliche Figuren zu zeichnen, manchmal ausführlich, mitunter eher knapp, aber immer sehr prägnant und präzise, wie etwa den „Mist-Opa“, der auf seinem Bollerwagen Pferdeäpfel von der Straße sammelt und als Dünger verkauft, oder den „Hackepeter“, einen üblen Kerl, der ab und zu in Augsburg auftaucht.

Solche Milieustudien sind ein Vergnügen und ein Gewinn für den Roman. Der ist trotz mancher dem Thema geschuldeten antiquierten Vokabel oder Redewendung modern geschrieben ist, mit Tempo und Witz, und er hat eine absolut spannende Krimihandlung. Erfreulicherweise stellt Glass diesen Plot in den Mittelpunkt seiner Erzählung und überfrachtet sie nicht mit zu vielen historischen Fakten, dennoch gelingt es ihm jederzeit, die besondere Atmosphäre der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende aufleben und erleben zu lassen. Exemplarisch seien hier die packende Schilderung des Arbeitsalltags in einer Dampfwäscherei genannt oder die aufschlussreichen Bemerkungen zu damals herrschenden Zuständen in den Irrenhäusern.

Die beiden Hauptdarsteller sind ein wenig aus dieser Zeit gefallen, man könnte sie sich gut in unserem Umfeld vorstellen, wie sie Jagd auf die Hintermänner illegaler Bordelle macht, in denen junge Frauen aus Osteuropa, mit falschen Versprechungen angelockt und in die Zwangsprostitution getrieben, ihren Peinigern schutz- und wehrlos ausgeliefert sind. Haben die verschwundenen Mädchen in Augsburg ein ähnliches Schicksal erlitten? Ludwig und Caroline machen sich auf den Weg nach Anhausen, um die Spur der Dienstmädchen Luise und Anna zu verfolgen.

Das Kapitel legt eindrücklich Zeugnis davon ab, wie beschwerlich damals selbst eine relativ kurze Reise war und schildert in nachempfindbaren Bildern das elende Leben der verarmten Landbevölkerung. Die beiden Ermittler finden Anna, schwer an der „Englischen Krankheit“ leidend im Haus ihrer Mutter und erfahren erschütternde Einzelheiten über die erbarmungswürdige Leidensgeschichte der verschwundenen Dienstmädchen und einen skrupellosen Verbrecherring. Als sie kurz darauf das schreckliche Geheimnis endgültig lüften können, zeigt sich, dass alles noch viel schlimmer ist als sie es sich vorstellen konnten.

Dieser erste Auftritt des interessanten und sympathischen Ermittlerpaars bietet solide Krimikost, spannende, gute Unterhaltung die leicht zu lesen ist, mit einem klug konstruierten Plot um den herum ein aufschlussreiches Stück Zeitgeschichte gestrickt ist, ebenso angenehm zu lesen, dabei gleichermaßen informativ wie unterhaltsam. Davon gerne mehr!

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Schüssler und die verschwundenen Mädchen | Erschienen am im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-609-6
296 Seiten | 13.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe