Kategorie: Aktenzeichen

Hannah O’Brien | Irisches Erbe Bd. 4

Hannah O’Brien | Irisches Erbe Bd. 4

Irisches Erbe ist der vierte Fall für das Ermittlerteam um Grace O’Malley und spielt im County Galway in der Republik Irland. Grace O’Malley und ihr Kollege Rory Coyne von der Mordkommission in Galway müssen ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit wegen mehrerer Morde, verübt in zwei Kirchen des County, ermitteln. Die Opfer waren jeweils Gemeindehelferinnen, aufgefunden wurden die Mordopfer merkwürdigerweise immer von demselben Priester, Father Duffy. Aufgrund der Umstände (beide Morde im Abstand von je einer Woche an einem Adventwochenende, beide mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen) liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte.

Grace erfährt im Gespräch mit der Gemeindesekretärin, Mary O’Shea, dass Father Duffy für insgesamt drei der Gemeinden im Westen des County Galway zuständig ist, in der Gemeinde Maycullen, in der der zweite Mord verübt wurde, ist er kurzfristig als Ersatz für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Somit ist Father Duffy höchst verdächtig und Grace sieht sich unter Zugzwang (vier Gemeinden, vier Adventwochenenden, bereits zwei Morde).
Allerdings könnte es sich auch um einen Racheakt gegen Father Duffy handeln, indem man ihn als Täter darstellt. Wie sich bei den Befragungen herausstellt, war dieser in den 90er Jahren, als es in Nordirland noch Kämpfe zwischen der (katholischen) IRA und der (protestantischen) UDA gab, in Belfast eingesetzt.

Grace hatte die Beine übereinandergeschlagen und studierte sein Gesicht. „Father Duffy, ich möchte zunächst mit Ihnen über ein Ereignis sprechen, das schon sehr lange zurückliegt und scheinbar nichts mit unseren Fällen hier zu tun hat.“ Duffys Gesichtsausdruck wirkte ratlos. Er sagte jedoch keinen Ton. “Sie waren in den Neunzigerjahren Priester in der Falls Road in Belfast. Ist das richtig?“ Duffys Augen waren vor Schreck geweitet. Er nickte heftig. „Soweit wir wissen, begegneten Sie eines Nachts in Ihrer Kirche einem schwerverletzten militanten Unionisten, dem Sie zu Hilfe kamen.“ (Seite 295)

Tatsächlich führen die Ermittlungen Grace und Rory zurück in die Vergangenheit; sie erfahren allerdings auch von Begebenheiten, die man in einem kirchlichen Umfeld nicht unbedingt erwartet, vor allem nicht in der heutigen Zeit:

Father McLeish räusperte sich schließlich. „Nun, die Kirche hat durch das Fehlverhalten Einzelner – und ich betone Einzelner – bedauerlicherweise an Glaubwürdigkeit verloren. Und durch das Fehlverhalten vieler – und ich betone vieler – Priester heutzutage, die bereit sind, Homosexualität und andere unnatürliche Verfehlungen in ihrer Mitte zu dulden und nicht konsequent auszumerzen, wie Scheidung oder das sogenannte Recht auf Abtreibung, hat sie noch viel mehr an Boden verloren, was den Glauben und die Glaubwürdigkeit der einzigen Kirche Gottes und seines Sohnes betrifft. Es musste etwas geschehen.“ (Seite 409)

Die Autorin Hannah O’Brien hat in ihrem Roman die Lebensläufe mehrerer Protagonisten zu einer spannenden Handlung verknüpft. Bis zur Auflösung ist man als Leser hin- und hergerissen zwischen „..ich glaube, ich weiß wer’s war“ und „….kann aber eigentlich doch nicht sein“. Wie sich herausstellt, sind die Motive für die Morde andere als zunächst vermutet  und witzigerweise wird einer der Morde durch einen Handy-Klingelton bewiesen.

Was mich an dem Buch auch beeindruckt hat, ist die Einbindung der irischen Vergangenheit, die auch von der Autorin erläutert wird, sowohl in der Handlung als auch im anschließenden Glossar, man spürt die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Wahlheimat. Sozusagen als „Bonbon“ gibt es noch die ausführliche Vorstellung der Protagonisten und eine Landkarte, auf der die im Buch genannten Orte zu finden sind.

Fazit: Eine Handlung zwischen irischer Vergangenheit (nicht nur der politischen, sondern auch der kirchlichen) und Gegenwart, spannend bis zum Schluss!

Hannah O’Brien ist ein Pseudonym von Hannelore Hippe-Davies, geboren 1951 in Frankfurt am Main. Sie lebte lange in ihrer Wahlheimat Connemara und fühlt sich dort bis heute zu Hause. Sie arbeitet seit 1985 als freie Journalistin, vorwiegend für die Rundfunkanstalten der ARD und schrieb zahlreiche Features und Hörspiele bzw. -dokumentationen sowie Romane, allerdings nicht nur Kriminalromane, sondern auch „kulinarische Entdeckungsreisen“. Ab 2015 schrieb sie dann unter dem Pseudonym über die Ermittlerin Grace O’Malley.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Irisches Erbe | Erschienen am 9. März 2018 bei dtv
ISBN 978-3-423-21720-0
432 Seiten | 9.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Giorgio Scerbanenco | Das Mädchen aus Mailand

Giorgio Scerbanenco | Das Mädchen aus Mailand

Er ging ohne zu antworten. Sie hatten ja recht, aber sie verstanden ihn nicht. Sie mussten das Gesetz befolgen, und manchmal ist das Gesetz merkwürdig, es begünstigt den Verbrecher und bindet dem Ehrlichen die Hände. (Auszug Seite 170)

Der ehemalige Arzt Duca Lamberti erhält nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis einen Auftrag, Davide, den Sohn eines Industriellen, von dessen Alkoholsucht zu kurieren. Nach kurzer Zeit offenbart Davide den Grund seiner Alkoholsucht und Depression: Er fühlt sich schuldig am Selbstmord der Verkäuferin Alberta vor knapp einem Jahr. Doch Alberta hat Davide einen Gegenstand hinterlassen, der Lamberti stutzig macht und an einem Selbstmord zweifeln lässt.

Damals hatte Davide die junge Frau in Mailand aufgegabelt, um gegen Bezahlung mit ihr einen Abend zu verbringen und war mit ihr aus der Stadt gefahren. Doch auf der Rückfahrt fühlt sich Davide plötzlich von ihr bedrängt, als sie ihn beschwört, mit ihr wegzufahren und nicht nach Mailand zurückzukehren. In einem Vorort wirft er sie quasi aus dem Wagen, dort wird sie wenig später mit aufgeschnittenen Pulsadern aufgefunden. Doch sie hatte etwas in Davides Wagen verloren: Ein Taschentuch und einen kleinen metallenen Gegenstand, den erst Lamberti als Film einer Minox-Kamera identifiziert. Auf dem Film sind Nacktfotos von Alberta und einem weiteren Mädchen. Ein Indiz für einen womöglich anderen Ablauf als einen Selbstmord?

Es ist doch immer wieder bemerkenswert, wie groß die weißen Flecken in meiner Krimibibliothek sind. Gerade was die Klassiker betrifft, muss ich immer wieder eingestehen, dass ich vielleicht den Namen des Buches oder des Autors oder der Autorin kenne, aber es noch nicht gelesen habe. Von Giorgio Scerbanenco hatte ich sogar noch gar nichts gehört. Eigentlich ein Frevel, ist doch nach ihm der „Premio Giorgio Scerbanenco“, der wichtigste italienische Krimipreis benannt.

Der Autor kam 1911 als Sohn einer Italienerin und eines Ukrainers in Kiew zu Welt. Nachdem sein Vater während der Russischen Revolution ums Leben kommt, zieht er mit seiner Mutter endgültig nach Italien. Nach vielen Gelegenheitsjobs erhält er schließlich einen Job in einem Mailänder Verlagshaus. Auch erste Erzählungen von ihm werden abgedruckt. Nach dem 2.Weltkrieg beginnt seine produktivste Zeit, er schrieb zahlreiche Romane in verschiedenen Genres, hunderte Erzählungen und war Redakteur bei Frauenzeitschriften. Dennoch gilt er als „Vater des italienischen Krimis“. Den Grund erläutert Richter und Autor Giancarlo de Cataldo (unter anderem „Romanzo Criminale“, Suburra“) im interessanten Nachwort. Mitte der 1960er Jahre war der italienische Kriminalroman auf dem absoluten Tiefpunkt, galt als minderwertig. Es wurden nahezu ausschließlich ausländische Krimis verlegt, sogar in Krimis wie der Reihe um das „87. Polizeirevier“ von Ed McBain wurden italoamerikanische Namen verändert. Dann wurde 1966 mit Das Mädchen aus Mailand der erste Roman um Duca Lamberti veröffntlicht und ein großer Erfolg in allen Leserschichten. Dies gilt als Wendepunkt für den italienischen Krimi. Vier Romane um Duca Lamberti veröffentlichte Scerbanenco bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1969.

Im Gefängnis hatte er gelernt, keine Worte zu verschwenden. Im Prozess, als die Nichte von Signora Maldrigati weinte und jammerte, dass ihre Tante umgebracht worden sei, aber mit keinem Wort die Millionen erwähnte, die sie von ebendieser Tante geerbt hatte, wollte er reden, doch sein Verteidiger hatte ihm fast mit Tränen in den Augen zugeflüstert, er solle bloß nichts sagen, nicht ein einziges Wort, denn sonst hätte er die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit ist der Tod; alles darf man sagen, bloß nicht die Wahrheit. Nicht vor Gericht. Nicht in einem Prozess. Und auch nicht im Leben. (Seite 9)

Auf diese Weise führt der Autor den ehemaligen Arzt Duca Lamberti als seinen Protagonisten ein. Lamberti ist ein desillusionierter Mann, der wegen Mordes im Gefängnis saß und seine Approbation verlor, dabei handelte es sich mehr oder weniger um Sterbehilfe. Nun ist seine Karriere ruiniert, aber er hat Verpflichtungen, denn es gilt, seine Schwester und seine kleine Nichte finanziell über Wasser zu halten. Sein Vater war einfacher Polizist, dadurch hat er Kontakte zur Polizei und ein freundschaftliches Verhältnis zu Inspektor Carrua, der ihm Aufträge vermittelt.

Lamberti ist ein einsamer, ruppiger Kerl, der angesichts von Ungerechtigkeit und Verbrechen Sarkasmus, Zorn und einen Drang entwickelt, die Verhältnisse zu bekämpfen. Er wird zu einem Mann, der das Recht zur Not selbst in die Hand nimmt. Lamberti ist also bei weitem kein weißer Ritter, sondern ein Mann im Graubereich, an dem man sich durchaus reiben kann und soll. Im Laufe des Romans lernt er Livia Ussaro kennen, auch sie eine engagierte Frau, die seine Überzeugungen teilt und sich sogar dafür (und für ihn) in Gefahr begibt und dafür einen hohen Preis bezahlt.

Das Mädchen aus Mailand ist ein Kriminalroman, bei dem man sein Erscheinungsdatum nur teilweise bemerkt. Denn die Themen des Romans (Ausbeutung, Frauenhandel) sind immer noch ziemlich aktuell. Auch das Bild von Mailand als kapitalistische Metropole mit all seinen Kehrseiten dürfte sich nicht wesentlich verändert haben. Der große Reiz des Romans liegt wie oben beschrieben an seiner widersprüchlichen Hauptfigur, die aneckt. Interessant ist die Erzählweise Scerbanencos, der einen auktorialen Erzähler mit einem personalen Erzähler mischt. Der Plot hätte zu Beginn für meinen Geschmack etwas mehr Tempo vertragen, aber insgesamt ist dieses Buch ein wirklich lesenswerter Kriminalroman.

 

Rezension und Foto Gunnar Wolters.

Das Mädchen aus Mailand | Erstveröffentlichung 1966
Die aktuelle Ausgabe erschien am 10. Juli 2018 im Folio Verlag
ISBN 987-3-85256-754-9
256 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Thomas Chatwin | Post für den Mörder

Thomas Chatwin | Post für den Mörder

„Auch die zwei breiten Fenster auf der Gartenseite standen unverändert offen. Gestern hatte sie gedacht, dass Sandra McKallan sich vielleicht gerade bei Nachbarn aufhielt. Deshalb hatte sie die Post einfach durch die Tür ins Haus geworfen, da es keinen Briefkasten gab. Heute lag der Regenschirm immer noch so da, die Tür bewegte sich im Wind.“ (Auszug Seite 33)

In dem beschaulichen Küstenstädtchen Fowey findet der Flussmeister Francis Penrose eine Boje, an der eine Leiche hängt. Wenig später entdeckt seine Frau Daphne zwei weitere Tote. Sofort werden die Ermittlungen von der Polizei aufgenommen, doch das Ehepaar Penrose ist sich sicher, dass der zuständige Kommissar nur eine schnelle Aufklärung möchte und es ist ihm egal ist, ob der wahre Mörder gefunden wird. Also begeben sich die beiden selbst auf Ermittlungstour und geraten dabei in Gefahr…

Die beiden „Hauptermittler“

Daphne Penrose ist 52 Jahre alt und arbeitet halbtags als Postbotin in Fowey. Ihr Mann Francis ist 55 Jahre alt. Beide haben eine Tochter, die in London Medizin studiert. Daphne wurde nach der Schriftstellerin Daphne du Maurier benannt und kannte diese sogar persönlich.

Perfekte Urlaubslektüre

Post für den Mörder von Thomas Chatwin hat mir sehr gut gefallen, denn die Geschichte ist ein typischer Kriminalroman in dem es vordergründig um die Ermittlungen geht. Dabei werden blutige Details weggelassen und die beiden Protagonisten agieren beherzt, aber nicht waghalsig und ziehen ihr eigenes Ding durch, ohne sich komplett über die Polizei hinwegzusetzen. Die Recherche von Daphne und Francis fand ich nicht unglaublich fesselnd, aber dennoch anhaltend spannend, so dass es für mich keine Längen gab. Auch als beide in Gefahr geraten, bleibt die Handlung plausibel und wird nicht unnötig dramatisiert. Ich habe dieses Buch als Urlaubsauftakt gelesen und muss sagen, dass es dafür perfekt war.

Daphne du Maurier

Besonders gefallen hat mir die Einbeziehung von Daphne du Maurier. Von der Autorin habe ich bereits einen Roman gelesen, mich aber nicht weiter damit beschäftigt und dieser Krimi hat mich jetzt doch neugierig auf weitere Werke und die Schriftstellerin selbst gemacht.

Eine Reise wert

Zu Beginn eines jeden Kapitels gibt es als Einstimmung ein passendes Zitat aus einem anderen Roman. Außerdem wird die Landschaft und das Leben in Cornwall sehr schön beschrieben. Sehr charmant sind auch die persönlichen Reisetipps des Autors am Ende des Buches. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber Cornwall ist scheinbar wirklich eine Reise wert, so wie sich das Buch liest.

Fazit: Ein wirklich schöner und leichter und dennoch interessanter Krimi, den ich unbedingt empfehlen kann.

Thomas Chatwin wurde 1949 geboren und ist promovierter Literaturwissenschaftler und England-Kenner. Er liebt Cornwall und verbringt jede freie Minute dort. Unter seinem bürgerlichen Namen Claus Beling hat er fast zwei Jahrzehnte als Unterhaltungschef beim ZDF gearbeitet. Außerdem ist er der Erfinder der Rosamunde-Pilcher-Reihe und der Inga-Lindström-Filme. Bisher hat der Autor acht Bücher veröffentlicht, darunter zwei weitere Kriminalromane und Sachbücher.

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Post für den Mörder | Erschienen am 26. Juni 2018 bei Rowohlt
ISBN 978-3-499-27445-9
320 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Christiane Dieckerhoff | Spreewaldrache Bd. 3

Christiane Dieckerhoff | Spreewaldrache Bd. 3

Die Polizeibeamten des Lübbener Reviers finden sich bei einer teambildenden Maßnahme wieder. Ihr Chef hat sie zum Wursten in eine kleine Metzgerei geschickt, die von den Geschwistern Schenker am Rand des Hochwalds direkt am Ufer der Spree geführt wird. Seit PH, sein Vorname ist das bestgehütete Geheimnis des Reviers, einen Lehrgang über Mitarbeiterführung besucht hat, gehören solche Aktionen zu seinem Leitungskonzept, was bei den Untergebenen auf wenig Gegenliebe stößt. Zum Glück muss die aktuelle Unternehmung bald abgebrochen werden, denn ein junger Mann ist niedergeschlagen worden, ausgerechnet Daniel, der Sohn von Jana Schenker. Also nehmen Klaudia Wagner und Frank Demel die Ermittlungen auf.

Daniel ist Spross einer Familie, die früher ebenso wie viele Alteingesessene aus Kahnbauern und -führern bestand, ein Geschäft, aus dem sie nach und nach durch unsaubere Machenschaften der Klingebiels gedrängt wurden. Auch mit kriminellen Methoden? Mario Schenker spricht von Mord, offiziell war der Zwischenfall im Jahr 1993 allerdings ein Unfall, bei dem Daniels Zwillingsbruder ums Leben kam, er verbrannte, als ein Kahnschuppen der Klingebiels abgefackelt wurde. Seitdem herrscht Krieg zwischen den beiden Familien.

Die Beerdigung des alten Klingebiel ist es, die nun die aktuellen Verwicklungen in Gang setzt, weil plötzlich lange verschwundene Familienmitglieder auftauchen und alte Wunden aufbrechen. Warum aber Daniel angegriffen wurde, von wem, warum, niemand weiß es. Auch das Opfer selbst hat keine Ahnung, wer ihn da hinterrücks niederschlug, während er durch das Fenster der Datsche spähte, in der sich sein Vater eingenistet hat. Der heißt Frank Klingebiel und bei der Beerdigung hat er ihn zum ersten Mal gesehen, denn seit 1993 war er abgetaucht, nachdem er ausgerechnet die damals fünfzehn Jahre alte Jana Schenker geschwängert hatte. Nun überrascht ihn Daniel bei einem Rendezvous, aber er kann die Frau nicht erkennen, die da mit ihm zusammen ist.

Daniel gerät überflüssigerweise in den Fokus, er, der eigentlich mit seiner Gehirnerschütterung im Bett liegen sollte, ist ständig präsent und stolpert durch die Geschichte, obwohl er nichts zur Klärung der verwirrenden Umstände beitragen kann. Seine Hauptrolle verdankt er lediglich der Tatsache, dass er den übrigen Figuren als Dialogpartner dient. Bald darauf wird in einer Datsche neben dem ersten Tatort ein Toter entdeckt, erschlagen mit einem Holzscheit. Es handelt sich um einen Obdachlosen, der seit einiger Zeit in der Gegend gesehen wurde. PH fasst die Tatsachen zusammen: „Daniel Schenker ist der Sohn von Frank Klingebiel, welcher der Sohn von Fritz Werheid ist, der wahrscheinlich mit dem gleichen Stück Holz erschlagen worden ist, mit dem auch sein Enkel eins über den Schädel bekommen hat“.

Ja, die Handlung ist sehr unübersichtlich, das verwickelte Personengeflecht zwischen den beiden verfeindeten Sippen klärt sich nur sehr langsam und die wahren Beziehungen und Verwandtschaftsverhältnisse werden nur zögerlich offengelegt, so dass die Lektüre große Aufmerksamkeit erfordert (selbst die Autorin kommt an einer Stelle mit den Namen durcheinander) und ebenso viel Geduld, um dem zähen Plot mit seinen Schleifen und Kehren zu folgen. „Sie wiederholte ihre Gedanken wie ein Mantra“ heißt es an einer Stelle und an anderen „und täglich grüßt das Murmeltier“, und genau dieses Gefühl hat leider der Leser dieser Soap-Opera.

Dabei hat Dieckerhoff eigentlich ein sehr angenehmen, flüssigen, lockeren Schreibstil, gut zu lesen, wenn da nicht ein paar störende Marotten wären. So etwa muss sich der Leser sowohl mit ständigen Handlungssprüngen anfreunden, 78! Kapitel auf knapp 300 Seiten lassen erahnen, wie hektisch hier völlig unnötig die Perspektive gewechselt wird, als auch ermüdende, zum Teil fast wörtliche Wiederholungen ganzer Absätze ertragen und, zu allem Überfluss, sogar Zusammenfassungen zur Erinnerung an das, was bisher geschah. All das lässt nicht wirklich Kontinuität zu.

Mehrere Rückblenden in das Jahr 1993 schildern auch nur das, was wir sowieso schon wissen, und dass Klaudia die alten Akten aus dem Archiv zieht, bringt ebenso keine neuen Erkenntnisse: Es gab ein Feuer, in dem Marco Schenker umkam, und es gab eine Anzeige gegen Frank Klingebiel wegen seines Verhältnisses mit einer Minderjährigen, die aber bald zurückgezogen wurde.

Klaudia erhofft sich Einblicke in das innere Gefüge der Dorfgemeinschaft und die besonderen Verflechtungen und Verwicklungen von Schiebschick, dem alten Fährmann. Er kennt den Ort und seine Menschen wie kein Zweiter, er kennt auch die Geschichte und die Geschichten, weiß von alten Gerüchten und neuen Verdächtigungen, aber er will so recht nicht heraus mit der Sprache. Einige alte Spreewaldbewohner sprechen noch Sorbisch, so auch Schiebschick. Leider kennt er nur ein einziges Wort, er nennt Klaudia penetrant „holca“, was auf Obersorbisch einfach „Mädchen“ bedeutet und Klaudia gar nicht gefällt. Ansonsten beschränkt sich seine individuelle Ausdrucksweise auf die Floskel „wa“, die er an jede zweite Aussage anhängt.

Spreewald-Atmosphäre entsteht lediglich, wenn Klaudia sich mal einen Gurken-Lutki gönnt oder ab und zu ein Babbenbier getrunken wird. Das ist natürlich ein Bisschen wenig Lokalkolorit, die zauberhafte Landschaft (Das Coverfoto gehört mit zum Besten dieses Buchs) wird auch nicht angemessen gewürdigt, Dieckerhoffs Spreewald ist herbstlich, und das heißt bei ihr immer nebelig. Nebelfetzen, die im Wind zerreißen, sind ihre liebste Naturschilderung, man sieht den Wald vor lauter Nebel nicht, leider. Landschaftsmalerei oder Milieustudien, die prächtige Kulisse in Szene zu setzen ist nicht die Sache der Autorin. Und Personenbeschreibung? Über das Äußere der Figuren gibt es nur sehr spärliche oder gar keine Aussagen, so dass sich der Leser sein vollkommen eigenes Bild machen muss. Zu einer der interessantesten und sympathischsten Gestalten des Romans etwa, dem ollen Fährmann, heißt es lediglich, dass er „wässrige Altmänneraugen“ habe, „wasserblaue Altmänneraugen“, einen „tränenden Altmännerblick“ und, wie gesagt, „wässrige Altmänneraugen“. Dieses Bild hält die Autorin für so gelungen, dass sie uns damit ständig auf die Nerven geht.

Und mit einigen anderen haarsträubenden Sprachbildern wie „Das Schweigen breitete seine Schwingen zwischen ihnen aus“, „Die Lüge floss wie ein öliger Film über den Tisch“, „Die Frage platzte wie eine Seifenblase von ihren Lippen“, „Die Erkenntnis fiel ihr wie Schuppen aus den Haaren“, „Er musterte sie wie eine schiefe Fuge“, und so weiter, und so weiter. Schiefe Vergleiche, „platt wie ein Schnitzel“ sagt selbst Dieckerhoff. Höhepunkt: „Der oder die Träger slash in“, der größte Blödsinn, den ich je gehört oder gelesen habe im Bemühen um geschlechtergerechte Ausdrucksweise, und es gibt eine Menge unsinniger, verkrampfter Versuche Genderneutralität zu wahren. Klaudia benutzt diese Formulierung bei einer der regelmäßigen Lagebesprechungen auf dem Revier, bei denen es allerdings ebenso regelmäßig nicht viel zu besprechen gibt, es gibt Erkenntnisse und keine Ergebnisse, die Lage ist bis zur plötzlichen, eher zufälligen Aufklärung reichlich unübersichtlich.

Mehr Wert legt Dieckerhoff auf die Offenlegung des Innenlebens ihrer Figuren, das gelingt viel besser, so dass der Leser einen guten Eindruck vom Charakter der handelnden Personen bekommt. Gefühle werden nach Außen gekehrt, Emotionen wie Verzweiflung, Verbitterung, Liebe, aber auch Feindseligkeit oder gar Hass. Das gegenseitige Misstrauen ist groß, aber ein klares Motiv für die beiden Taten können die Ermittler nicht ausmachen. Klaudia und Demel sind ratlos, drehen sich bei ihren Ermittlungen im Kreis und betreiben blinden Aktionismus statt gesicherten Spuren nachzugehen, besuchen diesen, befragen jenen, reden mit jedem einzelnen und anschließend noch einmal aufs Neue mit allen Beteiligten ohne von irgend jemand irgend etwas zu erfahren. Alle ahnen etwas und alle verschweigen die Wahrheit oder haben Angst vor ihr und so entwickelt sich die Geschichte nicht, sie tritt über viele Kapitel auf der Stelle.

Dazu gibt es immer wieder Kunstpausen, die den Handlungsfaden abschneiden, der erst nach einigen Irrungen und Wirrungen wieder aufgenommen wird, was dem Lesefluss nicht dienlich ist und die Spannung eben nicht steigert. Dieckerhoff unterbricht sogar häufig den Dialog, um ihn nach längeren Einschüben wieder aufzunehmen, auch diese Angewohnheit ist eher anstrengend.

Wer wie ich mit Spreewaldrache, dem dritten Band, in die Serie einsteigt, wird ziemlich spärlich versorgt mit Informationen über persönliche Hintergründe und Entwicklungen der wichtigsten Beteiligten. Wenn schon Andeutungen über Geschehnisse aus der Vergangenheit der Serienfiguren, dann nicht einfach im Raum stehen lassen sondern besser weglassen oder noch besser die Vorgeschichte kurz erläutern und nicht als Rätsel präsentieren. Der Leser muss in diesem Buch ohnedies viel mitdenken oder sich das eine oder andere denken, das nicht gesagt oder geschrieben wird, jedenfalls nicht da, wo es nötig wäre für ein besseres Verständnis des Plots und einen einigermaßen komfortablen Lesefluss. Auch Nebenhandlungen mit aktuellen persönlichen Problemen und familiären Tragödien der Hauptfiguren werden lediglich angesprochen und nicht weitererzählt. Kollege Thang Rudnik fällt in dieser Folge aus, er gibt sich die Schuld am Selbstmordversuch seiner Frau, Klaudias Vater liegt nach einem Schlaganfall auf der Stroke Unit und nach einem Zerwürfnis mit ihrem Kollegen und Vermieter Uwe wird sie wohl nicht mehr mit ihm und seiner Tochter unter einem Dach wohnen.

Das Ende ist unbefriedigend, das Ergebnis offen, es zeigen sich bedauerlicherweise auch logische Schwächen. „Kann sein“ heißt es da oder „möglich“, und tatsächlich, nach allem, was man nun weiß, sind mehrere Szenarien denkbar, auch wenn der Leser schließlich eine Ahnung hat, wie es tatsächlich gewesen ist.

Richtig ärgerlich ist aber zum schlechten Schluss ein Epilog, der völlig überflüssig ist und gar nichts zur Geschichte beiträgt, purer Effekt um neugierig zu machen auf den folgenden Roman um Klaudia, Thang und Demel.
Ich bin darauf überhaupt nicht gespannt!

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Spreewaldrache | Erschienen am 6. April 2018 bei Ullstein
ISBN 978-3-548-28951-9
304 Seiten | 10.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Klaus-Peter Wolf | Totentanz am Strand Bd. 2

Klaus-Peter Wolf | Totentanz am Strand Bd. 2

„Warum haue ich nicht einfach ab? Ich sitze hier rum, als würde ich meine Verhaftung erwarten, ja, ihr entgegensehnen. Aber das ist nicht so. In Ostfriesland bin ich, wenn ich mir einen dieser bösen Jungs vorgeknöpft hatte, gern ins Watt gegangen, um die Stille dort zu genießen. Die Totenstille.“ (Auszug Seite 112)

Dr. Bernhard Sommerfeldt ist auf der Flucht, denn er wird als Serienkiller gesucht und ist derzeit vermutlich der gefährlichste Mann des Landes. Bis vor kurzem hat er noch eine Praxis als Hausarzt in Ostfriesland geführt, nun soll er wegen sechsfachen Mordes verhaftet werden. Sommerfeldt hat sich in Gelsenkirchen versteckt, kann es aber nicht lassen, nach Ostfriesland zu seiner Liebe Beate und in seine Heimat Franken zurückzukehren. Kann er unentdeckt bleiben?

Zweiter Teil der Dr. Sommerfeld-Reihe

Totentanz am Strand von Klaus-Peter Wolf ist der zweite Krimi um Dr. Sommerfeldt. Den ersten – Totenstille im Watt – habe ich nicht gelesen, aber das hat dem Vergnügen an diesem Buch aber keinen Abbruch getan. Der Autor ist ja vor allem mit den Ostfriesenkrimis um die Kommissarin Ann Kathrin Klaasen bekannt geworden und in dieser Reihe ermittelt sie auch gegen den Serienkiller, aber die Handlung wird in der Dr. Sommerfeld-Reihe aus Sicht des Täters geschildert, was ich sehr spannend finde. So trifft man hier quasi „alte Bekannte“ wieder, aber aus einer völlig neuen Perspektive.

Ein belesener Mörder

Der Protagonist ist mir trotz seiner Taten unglaublich sympathisch, denn er ist sehr belesen und interessiert sich für Literatur. Seinen Unterschlupf im Ruhrgebiet hat er so gewählt, dass er in unmittelbarer Nähe zu Bibliothek und Theater wohnt und überall in seinen vier Wänden liegen Bücher herum. Dabei bevorzugt er sowohl ältere Literaten wie Hans Fallada, als auch neue Romane von Nele Neuhaus und Sebastian Fitzek und ab und zu Gedichte.

Nur zur Hälfte Ostfriesland

Das Cover und der Titel suggerieren, dass es sich bei Totentanz am Strand wieder um einen Ostfriesenkrimi handelt: Leider ist der Handlungsort nur in maximal der Hälfte des Buches tatsächlich dort, was ich etwas schade finde. Aber an diesen Stellen werden, wie in allen anderen Büchern des Autors, bekannte Orte in Norden aufgezählt, wie das Café ten Carte, die es im echten Leben ebenfalls gibt und besucht werden kann. Diese Details finde ich sehr charmant.

Der Roman liest sich durch seine Ich-Form sehr flüssig und spannend und bleibt dabei authentisch. Die Taten werden plausibel geschildert, ohne allzu brutal dargestellt zu werden und sämtliche Überlegungen von Sommerfeldt sind für mich nachvollziehbar.

Vorschau auf Teil 3

Am Ende des Buches wird schon verraten, dass der neue Sommerfeldt im nächsten Jahr im Juni erscheint und ich freue mich drauf!

Klaus-Peter Wolf wurde 1954 geboren und lebt als freier Schriftsteller und Drehbuchautor in Norden (Ostfriesland). Er schreibt nicht nur Regionalkrimis, sondern auch Romane und Kinder- und Jugendbücher. Außerdem hat er unter anderem Beiträge für die Reihen „Polizeiruf 110“ und „Tatort“ geschrieben. Der Autor ist mit Bettina Göschel, einer Kinderliedermacherin, verheiratet, die er in seinen Büchern namentlich mit in die Geschichten einfließen lässt.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Totentanz im Watt | Erschienen am 22. Juni 2018 bei Fischer
ISBN 978-3-596-29919-5
400 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Teil 1 der Serie Totenstille im Watt sowie zu allen bei uns besprochenen Krimis von Klaus-Peter Wolf