Kategorie: Aktenzeichen

Melanie Raabe | Die Wahrheit

Melanie Raabe | Die Wahrheit

„Ich denke, dass Liebe kein Zustand ist und auch kein Gefühl. Liebe ist ein Organismus. Mit Hunger und Durst. Ein Lebewesen, das wachsen und schrumpfen, krank werden und gesunden, das einschlafen und sterben kann.“ (Auszug Seite 441)

Sarahs Mann Philipp ist vor sieben Jahren bei einer Geschäftsreise spurlos verschwunden. Gerade beginnen Sarah und Sohn Leo, ihr Leben weiterzuleben, als Sarah einen Anruf bekommt: Philipp wurde gefunden. Sarah kann es kaum glauben. Dann der Schock am Flughafen, als sie ihren Mann abholen möchte: das ist nicht Philipp, das ist ein Fremder. Doch niemand glaubt Sarah. Was will der Mann von ihr?

Hohe Erwartungen

Ich habe von Melanie Raabe bereits Die Falle gelesen und war sehr begeistert. Deshalb habe ich mich auf ihren zweiten Thriller gefreut und kann schon verraten, dass ich nicht enttäuscht wurde. In Die Wahrheit passiert wahrscheinlich das Schlimmste, das man sich vorstellen kann: Der lang vermisste Ehemann kommt endlich wieder, aber plötzlich hat man einen Fremden im Haus. Ich kann und möchte mir diese Situation nicht vorstellen. Sarah ist natürlich außer sich und möchte ihre Umwelt davon überzeugen, dass dieser Mann nicht Philipp ist. Leider glaubt ihr keiner, was auch daran liegt, dass der Fremde seine Rolle sehr gut spielt. Doch nach und nach wird klar, dass der Fremde ein Geheimnis von Sarah entlarven möchte.

Zwei Sichten

Die Geschichte wird in kurzen Kapiteln hauptsächlich aus Sicht von Sarah in Ich-Form geschildert, ab und zu kommt auch der Fremde zu Wort. Der Text liest sich sehr flüssig und ich bin in kürzester Zeit durch die Seiten geflogen. Durch die Kapitel des Fremden gerät Sarahs Situation in ein anderes Licht und als Leser kann man erahnen, dass hier irgendetwas faul ist. Ich habe hier begonnen, auch Sarah etwas kritischer zu betrachten. Zum Ende hin konnte ich das Buch dann nicht mehr aus der Hand legen, weil es insgesamt zu zwei Wendungen kommt, wobei mich die letzte tatsächlich sehr überrascht hat.

Identifikation

Mit der Protagonistin kann ich mich einerseits gut identifizieren, andererseits benimmt sie sich teilweise etwas hysterisch. Allerdings weiß ich nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn mir keiner glaubt. Außerdem wäre ich mit dem Fremden unter keinen Umständen unter einem Dach geblieben, aber das hätte wohl der Spannung des Buches entgegen gewirkt.

Fazit: In jedem Fall eine Empfehlung und ich freue mich auf Thriller Nummer drei der Autorin, der schon auf meinem SuB liegt.

Melanie Raabe studierte in Bochum Medienwissenschaft und Literatur. Anschließend zog sie nach Köln, um dort tagsüber als Journalistin zu arbeiten und nachts Bücher zu schreiben. Die Autorin hat bisher drei Thriller veröffentlicht und auch Hollywood hat ihre Geschichten entdeckt. Melanie Raabe setzt sich außerdem als Lesebotschafterin der Stiftung Lesen für die Leseförderung ein.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Die Wahrheit | Erschienen am 29. August 2016 bei btb
ISBN 978-3-442-75492-2
448 Seiten | 16.- Euro
Die Taschenbuchausgabe erschien am 14. Mai 2018 ebenfalls bei btb und kostet 10.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Andreas Rezension zu Melanie Raabes Debüt-Roman Die Falle.

Daphne du Maurier | Die Vögel ♬

Daphne du Maurier | Die Vögel ♬

Als Kind war der geniale Schocker „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock das Spannendste und Gruseligste, was ich mir vorstellen konnte. Das Meisterwerk von dem amerikanischen Filmemacher aus dem Jahr 1963, der als Klassiker des Horrorgenres gilt, bezieht sich auf eine Kurzgeschichte der englischen Autorin Daphne du Maurier. Der Kultregisseur übernahm aber nur das Motiv der mörderischen Vogelattacken und hat die Story vom regnerischen Küstenort in Cornwall an die sonnige kalifornische Küste verlegt. Auch die Charaktere und der Handlungsverlauf wurden vollständig ausgewechselt.

Ich war erst skeptisch, aber Gott sei Dank habe ich mich für das Hörbuch entschieden, denn die Bearbeitung hat mich begeistert!

Nat Hocken ist ein einfacher Landarbeiter und lebt mit Frau und Kindern an der englischen Küste. Da er im zweiten Weltkrieg verwundet wurde, bekommt er eine kleine Invalidenrente und ist an ein paar Tagen die Woche bei seinem Nachbarn auf der Farm mit leichten Arbeiten beschäftigt. So hat der ruhige, nachdenkliche Einzelgänger Nat genug Zeit, die Natur und besonders die Vögel zu beobachten.

Eines Tages im Spätherbst fällt ihm auf, dass riesige Vogelschwärme laut kreischend und pfeifend über der Küste kreisen und in ihrer Vielzahl – ähnlich einer großen Wolke – den Himmel verdunkeln. Es sind unnatürlich viele Tiere und sie erscheinen ihm rastloser und unruhiger denn je. Nat ist der erste, dem auffällt, dass die See- und Landvögel sich eigenartig, fast aggressiv benehmen. Sie scheinen sich zu sammeln und Abertausende Möwen verwandeln das Meer in ein weißes Möwenmeer.

Der Angriff

Von einem Tag zum anderen verändert sich das Wetter und es wird bitterkalt, hervorgerufen durch einen eisigen Ostwind. In der Nacht versuchen mehrere Dutzend kleiner Singvögel in das Haus einzubrechen und die beiden kleinen, im oberen Stockwerk schlafenden Kinder Jill und Johnny anzugreifen. Nur mit Mühe kann Nat die Vögel davon abbringen, den Kindern die Augen auszuhacken. Während in der Nachbarschaft noch nach Erklärungen für das Verhalten der Vögel gesucht wird und sein Chef meint, den Vögeln mit der Schrotflinte beizukommen, wird Nat immer unruhiger und beschließt am nächsten Tag, seine Tochter vom Schulbus abzuholen. Auf dem Rückweg können sie nur mühsam die Angriffe der Vögel abwehren.

Nat mutmaßt, dass die Vögel nicht verwirrt sind, sondern vorsätzlich und mit einem Killerinstinkt ausgestattet angreifen um zu töten. Er muss an die deutschen Luftangriffe im Krieg denken. Er zieht als Einziger die richtigen Schlüsse und beginnt in aller Eile sein kleines Haus zu befestigen und verbarrikadiert die Fenster und den Kamin mit Brettern. Aus dem Radio erfährt die Familie, dass der Notstand ausgerufen wurde und dass es die Angriffe im ganzen Land gab. Nat beobachtet, dass die Vögel nur bei Flut angreifen, deshalb will er die Zeit während der Ebbe nutzen um sich mit Nahrungsmitteln einzudecken. Als er und seine Familie sich daraufhin bis zum Nachbarn durchschlagen, finden sie auf der Farm alle getötet vor.

Die Apokalypse

Am nächsten Tag bleibt das Radio stumm, denn kein Radiosender sendet mehr. Jetzt greifen auch die Möwen und andere Vogelarten an und hacken erbarmungslos mit ihren Schnäbeln an den Fensterläden. Sie scheinen über eine kollektive Intelligenz zu verfügen und stoßen immer wieder in Formationen vor. Nat und seine Familie verschanzen sich in der Küche und werden Zeuge, wie nicht einmal Kampfflugzeuge der Lage Herr werden. Wie eine Phalanx attackieren sämtliche Vogelrassen in der eindeutigen Absicht zu töten und sogar den eigenen Tod in Kauf nehmend. Die Vögel schlagen zurück! Warum weiß man nicht, denn das Ende ist offen und es gibt keine Erklärung für das Verhalten der gefiederten Tiere. Nat und seine Familie können sich nur von Tag zu Tag retten.

Horror vom Feinsten

Daphne du Maurier hat hier eine wirklich düstere, literarisch anspruchsvolle Kurzgeschichte geschrieben, in dem kein Wort zu viel ist. Ohne große Effekthascherei und total auf den Punkt kreiert sie eine verstörende Stimmung, in dem sie normale Menschen im Alltagsleben in ausweglose, lebensbedrohliche Situationen bringt. Man meint fast das grauenvolle Flattern Tausender Flügel oder die erbarmungslos hackenden Schnäbel zu hören. Man spürt die unnatürliche Kälte aus Russland, den bitterkalten Wind, der die Bäume entlaubt und den schwarzen Frost bringt, den schwarzen, nicht den weißen Frost! Das beschreibt sie so beklemmend, dass ich tatsächlich an einigen Stellen vor Spannung meine Hände ins Lenkrad krampfte.

Dazu hat auch die hervorragende Inszenierung durch Jens Wawrczeck beigetragen. Der Schauspieler und Synchronsprecher, bekannt vor allen als Mitglied der Hörspielserie Die Drei ??? flüstert, schreit, poltert und bebt immer an den richtigen Stellen und schafft es auch, dem melancholischen Nat Leben einzuhauchen. Er trifft den Ton und versteht es, die Stimmung perfekt in Szene zu setzen.

Anmerkung dR: Jens Wawrczeck hat vor einigen Jahren beim Verlag Vitaphon sein eigenes Label Audoba gegründet. Darin veröffentlicht er Lesungen und Hörspiele von Werken, die ihm besonders am Herzen liegen. Da er auch ein großer Hitchcock-Fan ist, hat er in seinem Label die Reihe „Verfilmt von Alfred Hitchcock“ aufgelegt, darin veröffentlicht er die Bücher als Lesungen, die Hitchcock zu seinen Filmen inspirierten. (Quelle: hr2 Kultur) Bisher sind in dieser Reihe elf Hörbücher erschienen, Die Vögel ist das zuletzt aufgelegte.

Daphne du Maurier war eine britische Schriftstellerin, die 1989 als 72-jährige in Cornwall verstarb. Ich kannte von ihr den ebenfalls von Hitchcock verfilmten Roman Rebecca, der ein Welterfolg wurde. Auch viele anderen Werke von ihr wurden verfilmt, am bekanntesten sicher die Verfilmung der Erzählung „Dreh dich nicht um“ besser bekannt unter dem Titel Wenn die Gondeln Trauer tragen mit Donald Sutherland und Julie Christie inszeniert. Ihre Romane und Erzählungen zeichnen sich meistens durch psychologische Spannung aus, gehen oft ins Mystische und beinhalten auch immer ein bisschen Drama. 1969 wurde sie von der Queen zur „Dame“ ernannt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Die Vögel | Das Hörbuch erschien am 18. Juni 2018 bei Audoba im Vitaphon Verlag
ISBN 978-3-942210-49-2
1 Audio CD | 14.95 Euro
Laufzeit: 100 Minuten
Bibliografische Angaben & Hörprobe

Weiterlesen: Zur Hörbuch-Reihe „Verfilmt von Alfred Hitchcock“ von Jens Wawrczeck bei Vitaphon bzw. Audoba

Reinhören: Bei hr2 Kultur gab es einen knapp 9-minütigen Beitrag zu diesem Hörbuch.

Auch bei uns: Andy hat aus der selben Reihe bereits das Hörbuch Spellbound besprochen.

Rebecca Fleet | Das andere Haus

Rebecca Fleet | Das andere Haus

„Einundzwanzig, richtig?“, fragt er, während er schon in die Einfahrt einbiegt. Ich mustere das Haus und suche nach Eigenheiten, aber es gibt keine. Der Rasen ist akkurat gemäht, und die kleinen, gerafften Gardinen an den Fenstern sind weiß und makellos. Im Haus brennt keine Lampe, und einen Moment lang sehe ich im hellen Scheinwerferlicht, wie sich unser Auto in den Erdgeschossfenstern spiegelt, mit uns Seite an Seite als dunkle Schatten. Ohne rechten Grund überläuft mich bei dem Anblick ein unbehaglicher Schauer – ein vager, irrationaler Impuls, der so schnell verfliegt, wie er gekommen ist. (Auszug Seite 8)

Caroline und ihr Mann Francis wollen sich eine Woche Urlaub nur zu zweit gönnen und stimmen einem Haustausch zu. Als sie bei dem anderen Haus ankommen, fällt beiden gleich die karge Einrichtung auf. Auch danach kommen Caroline einige Dinge merkwürdig vor. Ein Blumenstrauß, ein Parfum, eine eingelegte CD erinnern sie an eine Vergangenheit, die sie vergessen wollte. Ist das nur Zufall? Und wer wohnt jetzt in ihrem Haus?

Caroline und Francis sind verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn. Beide blicken auf eine schwierige Zeit zurück, in der ihre Ehe gelitten hat. Nun sind sie dabei, alles wieder in die richtigen Bahnen zu lenken und ein intaktes Familienleben hinzubekommen, was nicht immer einfach ist.

Gute Unterhaltung mit Wendungen

Das andere Haus von Rebecca Fleet ist ein interessanter und flüssig zu lesender Thriller. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass die Geschichte langatmig ist. Ab der Mitte kann die Handlung mit zwei Wendungen punkten, die mich kurz innehalten ließen, mich aber nicht völlig aus der Bahn geworfen haben. Auf dem Buchrücken wird zitiert, dass das Buch verschlungen wurde. So war es bei mir nicht, dennoch habe ich es gern gelesen und es hat mich sehr gut unterhalten.

Jetzt und vor zwei Jahren

Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen geschildert. In der ersten Ebene geht es um die aktuelle Reise von Caroline und Francis, die zweite beschreibt das Leben der beiden zwei Jahre zuvor, als sie gerade mitten in einer Krise stecken. Hauptsächlich wird aus Sicht von Caroline erzählt, ab und zu kommen Francis und der Haustausch-Partner zu Wort. Es wird sehr viel mit Andeutungen gearbeitet, sodass der Leser nur wenige Informationen zu allen Vorkommnissen erhält und so seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Das hat mir gefallen, denn dadurch entsteht die Spannung und man möchte nicht aufhören zu lesen, bis das Geheimnis gelüftet wurde.

Fazit: Ein solider Thriller der sich zu lesen lohnt.

Rebecca Fleet lebt in London und arbeitet in der Marketingbranche. Das andere Haus ist ihr Thriller Debüt.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Das andere Haus | Erschienen am 20. August 2018 bei Goldmann
ISBN 978-3-442-20559-2
352 Seiten | 15.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Stewart O’Nan | Stadt der Geheimnisse

Stewart O’Nan | Stadt der Geheimnisse

Während seine Papiere – wie sein gegenwärtiges Leben, könnte er sagen – passable Fälschungen waren, war seine Taxilizenz eine an der vorderen Stoßstange befestigte Metallplakette, die viel schwerer zu bekommen war als die Papiere, völlig echt. Und dennoch, da er schon einmal verhaftet worden war – als er in Riga an seinem Tisch in seinem Lieblingscafé gesessen hatte -, wusste er, dass man als Jude nirgends sicher war. (Auszug Seite 16)

Der lettische Jude Brand hat seine ganze Familie im zweiten Weltkrieg und Holocaust verloren und kommt 1946 als illegaler Flüchtling nach Palästina. Dort wird er vom jüdischen Widerstand gegen die britische Besatzungsmacht mit gefälschten Papieren und einer Taxilizenz ausgestattet. Brand, der sich nun Jussi nennt, wird Teil einer Widerstandszelle. Es werden erste Anschläge verübt, zunächst ohne Menschen zu gefährden. Doch der Widerstand wird radikaler und Brand muss sich klar machen, ob dies auch sein Kampf ist.

Brand lernt in Jerusalem die Witwe Eva kennen. Ehemals Schauspielerin und eine bildhübsche Frau, ist bei ihr nun die Mimik einer Gesichtshälfte durch eine Narbe zerstört. Sie verdient ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, zu ihren Terminen bringt Brand sie mit seinem Taxi. Auch Eva ist Teil der Widerstandszelle, zu der noch eine Handvoll weitere Personen gehören. Chef der Zelle ist der undurchsichtige Asher. Zu Beginn begehen sie nur kleinere Anschläge, etwa gegen die Stromversorgung. Doch Brand bemerkt die zunehmende Radikalisierung. Die der Untergrundorganisation Hagana zugeordnete Gruppe kommt in Kontakt zu Leuten der radikalen Irgun. Die Radikalisierung verunsichert Brand. Der Kampf um „Eretz Israel“ scheint ihm gerecht, aber mit welchen Mitteln?

Autor Stewart O’Nan ist dem Leser eigentlich als Porträteur der amerikanischen Gesellschaft bekannt. Sein letztes Buch „Westlich des Sunset“ handelt von Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald und vom Hollywood der 1930er Jahre. Insofern ist Stadt der Geheimnisse als Spionagegeschichte eine bemerkenswerte Anomalie im sonstigen Werk des Autors.

Das Buch spielt im Jahr 1946 vor dem Hintergrund des israelisch-jüdischen Kampfes um einen unabhängigen Staat. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die zionistische Bewegung die Bildung eines jüdischen Staates im alten Siedlungsgebiet in Palästina wieder stark betrieben wurde, kam es zu verstärkten Auswanderungswellen von Juden. 1917 hatte die Briten in der Belfour-Deklaration die Forderung der Zionisten unterstützt, unter starkem Protest der Araber der Region. Nach dem ersten Weltkrieg erhielt Großbritannien das Völkerbundsmandat über Palästina. In der Folgezeit kam es weiterhin zu einer starken Einwanderung nach Palästina und einer größeren Gewaltbereitschaft jüdischer und arabischer Bevölkerungsgruppen. Die Juden gründeten paramilitärische Einheiten wie die gemäßigte Hagana oder die radikalere Irgun. Durch die Ereignisse des zweiten Weltkriegs verschärfte sich die Situation zudem. Der jüdische Widerstand richtete sich nun verstärkt gegen die Briten, die das Mandatsgebiet räumen und einen jüdischen Staat ermöglichen sollten.

Sein altes Leben war vorbei, sein neues ein Scherbenhaufen und Schwindel. Zur Feier des Tages ging er mit einem Glas Johnnie Walker in seiner Wohnung auf und ab, drückte die Nase ans kalte Fenster und hinterließ einen schmierigen Fleck. Die brummende, taumelnde Schwermut einsamer Betrunkener. (Seite 92)

Dennoch bleibt sich der Autor treu, indem er eine Figur, nämlich Brand, in den Vordergrund stellt und die Ereignisse vollständig aus dessen Sicht durch einen personalen Erzähler beschreibt. O’Nan geht es dabei konkret um das Innenleben seines Protagonisten, eine Figur voller Schwermut, der vor den Scherben seines Lebens steht und dem nun mit seiner Beteiligung an der Widerstandsgruppe eine neue Aufgabe zugeteilt wurde. Doch „die Erinnerung gärte in ihm wie eine Krankheit“ (Seite 58). Er verliebt sich in Eva und doch bleibt die nur eingeschränkt erwiderte Liebe schal im Vergleich zu den Erinnerungen an seine verstorbene Frau Katja. Er war nie wirklich ein gläubiger Jude, nun kämpft er für die Unabhängigkeit Israels.

Ein wenig schade ist es, dass sich der Autor durch die eingeschränkte Erzählperspektive einer gewissen Dynamik beraubt. Eine nähere Betrachtung der Ereignisse durch verschiedene Figuren hätte für mich noch mehr Reiz gehabt. So kann man diesen Roman meines Erachtens dann auch nur eingeschränkt als Spionageroman einordnen, da Reaktionen der Gegenseite kaum eine Rolle spielen. So hinkt der Vergleich der New York Times zu Le Carrés „Der Spion, der aus der Kälte kam“ auf der Rückseite des Buches dann doch ein wenig.

Der Roman überzeugt dafür an anderer Stelle. Die unruhige, brodelnde Atmosphäre des dennoch florierenden Jerusalem wird sehr überzeugend in Szene gesetzt. Daneben ist diese Geschichte eines gebrochenen Mannes, der mit sich um den letzten Rest Liebe, Moral und Anstand ringt, durchaus fesselnd. So bleibt am Ende ein positives Fazit, obwohl die Winkelzüge, Manöver und Suspense eines klassischen Spionageromans etwas zu kurz kommen.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Stadt der Geheimnisse | Erschienen am 23. Oktober 2018 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-05044-3
224 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmens unseres .17specials Ein langes Wochenende mit… Spionageromanen.

Mick Herron | Slow Horses

Mick Herron | Slow Horses

River hatte die Zielperson fast erreicht – er war eine halbe Sekunde entfernt. Aber er war nicht annähernd nahe genug. Die Zielperson zog an einer Schnur am Gürtel. Und das war’s. (Auszug Seite 22)

Fiasko am Londoner King’s Cross Bahnhof

Ohne große Einleitung finden wir uns mitten in einer missglückten Observierung wieder. Am Londoner Hauptbahnhof verfolgt der junge MI5-Agent River Cartwright aufgrund einer Verwechslung die falsche Zielperson.

Die Handlung nimmt Fahrt auf, denn es gilt einen Terroranschlag zu verhindern. Dabei gelingt es dem Autor glänzend, die Hektik und Dramatik dieses Szenarios wiederzugeben. Mit einem flotten, knackigen aber auch bildhaften Schreibstil dreht er gekonnt an der Spannungsschraube bis zum nervenzerreißenden Cliffhanger.

Nach diesem furiosen Start geht es erst mal ruhiger weiter. River Cartwright landet nach dem total missglückten Einsatz im Slough House, einem alten runtergekommenen Gebäude in London. Dieses dient als Auffangbecken für aus verschiedenen Gründen in Ungnade gefallene Agenten. Diese werden von allen nur despektierlich Slow Horses genannt. Eine bunt zusammengewürfelte Truppe von Versagern, abgeschoben vom Hauptquartier im Regent’s Park, die man einfach nicht los wird. Sie werden mit sinnlosen Aufgaben betraut, in der Hoffnung, dass sie aus lauter Frust von selbst kündigen.

Mick Herron nimmt sich viel Zeit für die Einführung seiner Figuren, was ja auch Sinn macht, denn es handelt sich um den Auftaktband einer Reihe, von der in Großbritannien bereits vier weitere Bände erschienen sind. Sein Blick auf die Charaktere ist dabei immer sachlich und distanziert. Außer vielleicht auf River Cartwright, von dem man die meisten Hintergrundinformationen erfährt.

Die lahmen Gäule

Da ist zum Beispiel Min Harper, der eine CD-ROM mit Geheimdienstinformationen im Zug liegen gelassen hat. Oder der sozial inkompetente Computer-Nerd Roderick Ho, der andere Menschen für überflüssig hält. Catherine Standish ist der gute Geist von Slough House, eine 48-jährige trockene Alkoholikerin und ehemalige Privatsekretärin eines hohen Tiers beim MI5, etwa wie Miss Moneypenny. Nur vom korpulenten und ungepflegten Teamleiter selbst weiß niemand die Gründe seiner Abservierung. Dem rätselhaften Jackson Lamb, vor langer Zeit einer Legende im Dienst ihrer Majestät, jetzt nur noch verbittert und faul, scheint es Spaß zu machen, andere Menschen zu verletzen und zu brüskieren. Er wirkt distanziert, was der Autor noch verstärkt, indem wir nur erfahren, was Lamb sagt und tut, aber nie was er denkt.

Die Truppe mag sich untereinander nicht und kommuniziert nur das Nötigste. Sie wirken wie erstarrt in ihren sinnlosen Tätigkeiten und manche hoffen auf Rehabilitierung. Andere wiederum sind völlig desillusioniert und wissen, dass die Rückkehr zum Hauptquartier noch niemandem gelungen ist. Besonders für den ehrgeizigen River erscheinen die Arbeiten besonders frustrierend, und so macht er sich ziemlich lustlos daran, den stinkenden Müll eines Journalisten zu durchsuchen. Dabei kann er noch froh sein, nicht entlassen worden zu sein. Und das auch nur wegen seines Großvaters David Cartwright, genannt OB für Old Bastard, der bis zu seiner Pensionierung eine große Nummer beim britischen Geheimdienst war.

Das ändert sich, als ein Video ins Netz gestellt wird, dass ganz London in Atem hält. Ein junger Mann pakistanischer Herkunft wurde entführt und die Entführer wollen ihn innerhalb zwei Tagen köpfen und diese Hinrichtung live im Netz zeigen. In einem weiteren Erzählstrang verfolgen wir, wie der entführte 19-jährige Hassan um sein Leben bangt. Bei den drei Entführern handelt es sich um nicht besonders clevere, britische Nationalisten. Um mit seiner Todesangst klar zu kommen, nennt Hassan sie in Gedanken Larry, Moe und Curly nach der Komikertruppe The Three Stooges. Wären es zwei, würde er sie Dick und Doof nennen.

Lambs Stimme wurde flach und ausdruckslos. Der Junge auf dem Monitor, die Kapuze über seinem Kopf. Die Zeitung in seiner Hand – es hätte ein Bildschirmschoner sein können. Er sagte: „Dachten Sie etwa, das Rote Telefon würde läuten und Lady Di alle Mann an Deck rufen? Nein, wir werden uns das im Fernsehen ansehen, wie alle anderen auch. Und wir werden nichts unternehmen. Das ist etwas für die großen Jungs, und Sie alle hier dürfen nicht mit den großen Jungs spielen. Oder haben Sie das vergessen?“ (Seite 144)

Londoner Regeln

Es stellt sich heraus, dass der britische Geheimdienst seine schmutzigen Hände mit im Spiel hat und der entführte Junge nur das Werkzeug in einem wirklich niederträchtigen Plan darstellt. Ganz langsam wachen die lahmen Gäule auf, die ja mal ausgebildete Agenten mit Karriereaussichten waren. Die Protagonisten besinnen sich auf ihre Fähigkeiten, gewinnen alte Stärken zurück und wachsen über sich hinaus. Catherine Standish übernimmt die Rolle der Anführerin und brennt auf einmal wieder mit voller Wattzahl. Und es zeigt sich, dass das überhebliche Scheusal Jackson Lamb zur Furie wird, wenn es darum gilt, seine Agenten zu beschützen, die zu Sündenböcken gemacht werden sollen. Aber nicht jeder aus Lambs Team wird es bis zum Ende hin schaffen.

Ab diesem Punkt überschlagen sich die Ereignisse und die Spannungskurve geht durch schnell wechselnde Perspektiven, die manchmal nur eine Seite dauern, und vielen unglaublichen, überraschenden Wendungen deutlich nach oben. Beim Duell mit der Vizedirektorin des MI5, der coolen, opportunen Diana Taverner, genannt Lady Di und dem abgebrühtem Schlitzohr Jackson Lamb brilliert Mick Herron mit großartigen pointierten Dialogen. Jetzt gelten Londoner Regeln, die besagen: Im Ernstfall rettet jeder seine eigene Haut.

Ich weiß nicht, ob die Darstellung der Spionage-Arbeit, im Besonderen die des britischen Geheimdienstes, besonders realistisch dargestellt wurde, aber ich wäre auf jeden Fall bei einem weiteren Band der in England mehrfach ausgezeichneten Serie dabei.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Slow Horses | Erschienen am 1. September 2018 bei Diogenes
ISBN 978-3-257-86-333-8
480 Seiten | 24.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen unseres .17specials Ein langes Wochenende mit… Spionageromanen.