Kategorie: Aktenzeichen

Candice Fox | Devil’s Kitchen

Candice Fox | Devil’s Kitchen

Der neue Thriller von Candice Fox spielt im Milieu der New Yorker Feuerwehr. Die „Engine 99“ ist eine Eliteeinheit und genießt mit ihrem Anführer Matt Roderick, der 9/11 überlebt hat, viel Respekt. Für viele eine Truppe wahrer Helden, die täglich ihr Leben riskieren, um andere Leben zu retten. Doch unter dem Vorwand Brände zu löschen, werden tatsächlich oft geeignete Räumlichkeiten ausgespäht, um diese zu einem späteren Zeitpunkt im Schutze eines Brandeinsatzes auszurauben. Während Flammen lodern, verschwinden Geld und Schmuck aus Banktresoren und Juwelierläden nach ausgefeilten Plänen.

Nachdem bei einem der Raubzüge ein Officer erschossen wurde, schleust das FBI die freiberuflich tätige Ermittlerin Andy Nearland ein, die die Männer der „Engine 99“ überführen soll. Doch private Gefühle und Machtspielchen mit ihrem Vorgesetzten sowie unerwartete Sympathien zum Feuerwehrmann Ben Haig machen diesen Einsatz zum persönlichsten und gefährlichsten ihrer Karriere, bei dem jeder Schritt zur Gratwanderung wird und jedes falsche Wort sie verraten könnte.

Ich hatte noch keinen Roman der australischen Thriller-Autorin Candice Fox gelesen, die Grundidee hat mich hier besonders gereizt, der Plot versprach spektakuläre Aktionen und das dramatisch und düster gestaltete Cover „knisternde“ Spannung. Gleich zu Beginn stürzt man temporeich mit Perspektivwechseln und schnellen Schnitten ins Geschehen. Der Prolog schildert eine brenzlige Situation, in der Andy von Matt und seinen Leuten augenscheinlich enttarnt wird. Bevor es zum Äußersten kommt, geht die Handlung ein paar Monate zurück und wird abwechselnd aus Bens oder Andys Perspektive geschildert. Der Erzählstil ist visuell, direkt und voll rauer Dialoge. Obwohl nach dem Klappentext und den ersten Seiten durchaus Potential bestand, hat mich das Buch leider in großen Teilen enttäuscht.

Schon das Einschleusen von Andy war durch Unprofessionalität und viele planlose Aktionen gekennzeichnet. Reichte der im Klappentext beschriebene Grund nicht aus, um eine Undercover-Agentin einzuschleusen? Nein, als die Freundin des Feuerwehrmannes Ben Haig samt kleinem Sohn spurlos verschwindet, verdächtigt Ben, für mich nicht nachvollziehbar, seine Mannschaft. Mit der Vermutung, seine Kollegen hätten beide getötet, wendet er sich hilfesuchend an die Polizei und bietet an, auszupacken und sein Team und damit auch sich selbst ans Messer zu liefern. Die Kabbeleien zwischen Andy und Ben waren nervig, besonders Andy handelt oft sehr übergriffig, um ihre Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Durch die Aneinanderreihung von dilettantischen Aktionen wollte sich für mich keine richtige Spannung einstellen. Die Autorin scheint zu viel gewollt zu haben, denn durch die vielen Geheimnisse, die aufgelöst werden wollen, entsteht ein ziemliches Durcheinander. Da ist Andys Vorgeschichte, die lange im Dunkeln bleibt, dann die verschwundene Familie Bens, der getötete Officer, es gibt noch einen verunglückten Feuerwehrkamerad und der eigentliche Kern der Geschichte, die ausgeklügelten Raubüberfälle kommen für mich zu kurz.

Engo war natürlich vorn, den Schlauch wie einen großen schlaffen Schwanz über dem Arm, das Kinn vorgereckt. … Engo zog immer gern eine Show ab, wenn er in brennende Gebäude wie dieses marschierte, als wäre das alles Routine. Kein großes Ding…. Ben hatte Engo über Leichen gehen sehen, als wären sie Knicke im Teppich. (Auszug Seite 10)

Moralisch ambivalente Charaktere in einem Roman finde ich höchst interessant, aber die Figuren in Devil’s Kitchen sind alle extrem überzeichnet. Und korrupte Helden mit moralischen Abgründen habe ich auch schon mal besser gelesen, ich sage nur Don Winslow. Jeder Feuerwehrmann der Einheit hat massive Probleme von Spielsucht bis zu gewalttätigen Aussetzern. Dann ist da noch Superwoman Andy, die jeden Job innerhalb weniger Wochen erlernt. Die Sprache der Feuerwehrleute ist derb und vulgär, sie wirken wie Stereotypen aus einem amerikanischen B-Movie, allesamt Machos, die auch nur Unsinn in hölzernen Dialogen reden. Vielleicht lag es auch an der Übersetzung, aber um mal ein Beispiel zu nennen, es kommt mehrmals das Wort „Schlenkerpuppe“ für eine leblose Gestalt vor.

Schade, eine kriminelle Feuerwehreinheit, die eigentlich dein Freund und Helfer sein sollte und eine weibliche Ermittlerin, die sich undercover in der frauenfeindlichen Umgebung behauptet, hatte sich nach einer explosiven Mischung angehört.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Devil’s Kitchen | Erschienen am 14. April 2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47490-7
431 Seiten | 18,00 €
Originaltitel: ‎ Devil’s Kitchen | Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Stuart Turton | Der letzte Mord am Ende der Welt

Stuart Turton | Der letzte Mord am Ende der Welt

In einer fernen Zukunft ist die Welt durch einen giftigen Nebel unbewohnbar geworden und die Menschheit nahezu ausgerottet. Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat auf einer winzigen griechischen Insel überlebt. Nach der globalen Katastrophe leben hier 122 Dorfbewohner friedlich in einfachen Verhältnissen. Als Arbeitskräfte sorgen sie für Nahrung, kümmern sich um das Vieh und bewirtschaften die Felder. Sie leben in einer perfekten Ordnung, Aufwach- und Schlafenszeit sind reglementiert, selbst das Ableben an ihrem 60. Geburtstag ist festgelegt. Dann gibt es noch einige uralte Wissenschaftler*innen, die für den komplexen Abwehrmechanismus verantwortlich sind, der den tödlichen Nebel fern hält und das Überleben auf der Insel sichert. Die Dorfbewohner folgen den Ältesten ohne diese zu hinterfragen. Geleitet wird die Welt von einer KI namens Abi, die mit den Gehirnen der Bewohner von Geburt an vernetzt ist und alle ihre Fragen beantwortet. Dadurch bekommt sie alle Gedanken und Geschehnisse auf der Insel mit und ist quasi der Kopf der Insel. Diese „artifizielle biologische Intelligenz“ fungiert auch als Ich-Erzähler.

Die fragile Ordnung gerät ins Wanken, als ein Mord geschieht und die älteste Wissenschaftlerin, die Lehrerin Niema, eines Morgens brutal ermordet aufgefunden wird. Durch diesen Mord wurden die Abwehrmechanismen, die eine Barriere zum alles zerstörenden Nebel bildeten, heruntergefahren. Es bleiben noch 107 Stunden, bis dieser die Insel zu verschlucken droht. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Ausgerechnet Emory, eine Schülerin Niemas, wird beauftragt herauszufinden, was passiert ist. Emory war im Gegensatz zu den anderen Dorfbewohnern immer schon renitenter, neugieriger und hatte immer wieder unangenehme Fragen zur Situation auf der Insel gestellt. Aber sie ist aufgeweckt und eine gute Beobachterin. Ein großes Problem ist, dass sich niemand an die letzte Nacht erinnern kann, als wäre die Erinnerung aus allen Köpfen, selbst von den anderen Wissenschaftler*innen gelöscht worden.

„Wenn du die Ermittlungen übernimmst, dann will ich nicht, dass du durch Loyalität oder fehlende Fakten geblendet wirst. Du musst unvoreingenommen sein. Fang bei Adil an. Er hat vor fünf Jahren die Wahrheit über eure Existenz erfahren und sich sofort mit einem Skalpell auf Niema gestürzt. Ich bin mir sicher, dass er es noch einmal versucht hätte, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gegeben hätte“ (Auszug E-Book Pos. 2676 von 6279)

Schnell wird klar, dass auf der Insel nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Zusammen mit Emory und ihrer Tochter Clara entschlüsselt man Rätsel um Rätsel, düstere Geheimnisse kommen ans Licht und man blickt tief in die Abgründe der Menschen. Der nahende Zusammenbruch des Schutzwalles und der damit verbundene Zeitdruck erzeugen eine beklemmende Spannung, die sich über weite Strecken des Thrillers zieht. Die Geschichte steckt voller unvorhersehbarer Wendungen und verblüffender Plot-Twists.
„Der letzte Mord am Ende der Welt“ ist kein klassischer Kriminalroman. Wie schon in seinen vorherigen Romanen hat Stuart Turton eine Mischung aus verschiedenen Genres kreiert. Der Mix aus Science Fiction, ein wenig Abenteuer und eine Portion Dystopie machen den Roman besonders. Dazu ein klassischer Whodunnit-Spannungsbogen in einem begrenzten Raum, sehr dicht und fesselnd erzählt.

Wenn man sich auf den wilden Mix einlassen kann, Logik sowie Ungereimtheiten an einigen Stellen und auch das teilweise nicht nachvollziehbare Verhalten der Figuren außer Acht lässt, macht der dystopische Krimi mit Locked-Room-Atmosphäre in einer postapokalytischen Zukunft einfach Spaß. Einmal angefangen, entwickelt der Roman direkt einen Lese-Sog.

Stuart Turton schreibt in seiner Danksagung, dass er seine Karriere mit dem Vorsatz begonnen hätte, lauter von Grund auf verschiedene Bücher zu schreiben, weil ihm das den meisten Spaß versprach. Das ist ihm bis jetzt jedenfalls gelungen, nach dem „Und-täglich-grüßt-das-Murmeltier-Krimi“ und der historischen Gespensterschiff-Geschichte nun also einen Sciencefiction-Apokalypse Roman. Was sie alle gemein haben, ist ein komplexes Plotgeflecht, in das der Autor sich trotzdem nicht zu verheddern droht.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der letzte Mord am Ende der Welt | Erschienen am 15. Februar 2025 bei Tropen
ISBN 978-3-608-50261-9
464 Seiten | 25.- Euro
Originaltitel: The Last Murder at the End of the World | Übersetzung aus dem Englischen von Dorothee Merkel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Andys Rezensionen zu weiteren Romanen von Stuart Turton

Kate Atkinson | Nacht über Soho

Kate Atkinson | Nacht über Soho

Nellie war müde. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erschöpfte sie der unbarmherzige Tatendrang, der notwendig war, um ihre Leben voranzutreiben. Der anker des Amethyst, das Gewicht ihres gesamten Imperiums, zog sie nach unten. (Auszug E-Book Pos. 650).

Frühjahr 1926: Nach einer kurzen Haftstrafe wegen Verstöße gegen Schankbestimmungen wird Nachtclubkönigin Nellie Coker aus der Haft entlassen. Unter einem großen Menschenauflauf kehrt sie standesgemäß in ihr Reich aus mehreren Clubs zurück. In den Jahren des ersten Weltkriegs fiel ihr Hehlerware bestehend aus kostbarem Schmuck in die Hände, welche sie geschickt eingesetzt hat und nach und nach zur Besitzerin erfolgreicher Nachtlokale wurde. Sie bewegt sich allerdings natürlich immer noch im Dunstkreis der kriminellen Gangs von London. Ihre fünf Clubs namens Pixie, Foxhole, Sphinx, Crystal Cup und Amethyst zählen zu den angesagtesten Locations des Londoner Nachtlebens. Mitglieder der Königsfamilie, Stars und solche, die werden wollen und die sonstige High Society tummeln sich dort. Doch die Clubs sind auch im Visier von anderen: Von Rivalen, die sich das Imperium gerne unter den Nagel reißen würden oder alte Rechnungen beglichen haben wollen. Und von der Polizei, konkret von John Frobisher. Ihm missfällt das halblegale Reich, dass sich Nellie Coker aufgebaut hat. Vor allem aber glaubt er, dass die Königin von Soho irgendetwas mit den zahlreichen Mädchen zu tun hat, die in der Londoner Nacht verschwinden und von denen einige ertrunken aus der Themse gezogen werden.

Frobisher möchte hierzu undercover die ehemalige Krankenschwester und Bibliothekarin Gwendolen Kelling bei den Cokers einschleusen. Gwendolen hat sich dazu bereit erklärt, weil sie tatsächlich nach zwei Mädchen aus ihrer Heimat York sucht. Freda und Florence sind ausgerissen und nach London gefahren, um hier – wie so viele minderjährige Mädchen – im Glück als als Tänzerinnen zu versuchen. Doch von den beiden fehlt jede Spur (der Leser begleitet die beiden allerdings durch den Moloch London) und so will Gwendolen Frobisher helfen. Das Vorhaben scheint zu funktionieren, denn als es in einem Club zu einem Schusswechsel kommt, kann sich Gwendolen als Ersthelferin profilieren und erhält ein Jobangebot von Nellie Coker. Doch wie entwickelt sich ihr Verhältnis zu Nellies ältestem Sohn Niven, der Gwendolen einige Tage zuvor zufällig behilflich war, als sie von Diebinnen ausgeraubt wurde?

„Sagen Sie, Miss Kelling, was bedeuten sie Ihnen? Diese Mädchen.“
„Es sind Mädchen, die vermisst werden, Miss Shelbourne, das bedeuten sie mir.“
„Ich würde es in den Nachtclubs versuchen, wenn ich Sie wäre. Mädchen wie Freda sind Frischfleisch für die Nellie Cokers dieser Welt. Sie verschlingen sie. […]“ (Auszug E-Book Pos. 2069).

Und so spannt Kate Atkinson ein faszinierendes Panoptikum über London in den Goldenen Zwanzigern. Dabei schöpft sie aus einem üppigen Figurenpersonal. Neben Nellie Coker, Inspektor Frobisher, Gwendolen Kelling und Freda sind dies vor allem Nellies fünf erwachsene Kinder Niven, Ellen, Betty, Shirley und Ramsey. Sie sind alle in den Familienbetrieb involviert, allerdings in unterschiedlicher Tiefe und mit unterschiedlichem Engagement. Über einen allwissenden Erzähler, mit multiperspektiver Erzählweise und teilweise zeitlichen Rückblicken wird ein enger Einblick auch in das Private der Figuren gewährt.

Die Britin Kate Atkinson ist seit nunmehr dreißig Jahren erfolgreiche Autorin, die ihre Romane, wenn nicht direkt dem Krimigenre zugerechnet (etwa ihre Jackson Brodie-Reihe), oft am Rande des Genres ansiedelt. So ist auch „Nacht über Soho“ kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern ein historischer Roman mit klaren Genrebezügen. Als deutscher Leser fällt als Bezugspunkt natürlich die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher ein oder eher noch die Serienadaption „Babylon Berlin“. Anders als dort legt Atkinson allerdings keinen Schwerpunkt auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Stattdessen konzentriert sie sich beim Setting auf den konkreten historischen Moment. Inspiriert wurde sie, wie sie im Nachwort erwähnt, vom Leben von Kate Meyrick, die damals für viele Jahre Königin der Clubs von Soho war und der die Figur Nellie Coker nachempfunden ist.

„Nacht über Soho“ ist ein schillernder historischer Roman, der tief ins Nachtleben Londons der 1920er Jahre führt und eine vergnügenssüchtige Gesellschaft porträtiert, die der traumatischen Vergangenheit nur allzu gerne entfliehen will. Pulsierende Nachtclubs, Künstlerbohéme, das harte Leben auf Londons Straßen, rivalisierende Gangs, korrupte wie integre Polizisten. Dabei beeindruckt vor allem das üppige Personal, das Kate Atkinson gekonnt durch den Roman leitet, und bei dem eindeutig die Frauenfiguren die Handlung dominieren. Insgesamt ein spannender, mitreißender Roman, der die Roaring Twenties nochmal stilecht auferstehen lässt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Nacht über Soho | Erschienen am 13.05.2025 im Dumont Verlag
ISBN 987-3-9505744-0-1
560 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Shrines of Gaiety | Übersetzung aus dem Englischen von Anette Grube
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Angie Kim | Happiness Falls

Angie Kim | Happiness Falls

„Also ist Dad nie nach Hause gekommen. Eugene ist allein heimgekommen, unser Vater war den ganzen Tag weg und dir ist es nicht mal aufgefallen“, sagte John. (Auszug E-Book Position 354 von 7427)

Im Mittelpunkt dieses tragischen Familiendramas stehen die Parksons, eine 5-köpfige Akademikerfamilie mit südkoreanischen Wurzeln, die in einem Vorort von Washington lebt. Mutter Hannah ist koreanischer Abstammung und Professorin für Linguistik. Vater Adam hat seinen Beruf aufgegeben und kümmert sich seit einigen Jahren um Haushalt und Kinder. Das sind die 20-jährigen Zwillinge Mia und John, beide studierend, zurzeit wegen der Corona-Pandemie zu Hause. Intensive Betreuung benötigt der 14-Jährige Eugene. Er befindet sich im Autismus Spektrum und leidet zusätzlich an dem Angelmann Syndrom, das sich in einem ungewöhnlich fröhlichen Verhalten mit häufigen Lächeln und Lachen äußert. Seine Motorik ist dadurch eingeschränkt und er kann nicht sprechen.

Eines Tages kehrt Eugene allein und ungewöhnlich aufgewühlt und mit Blut unter den Fingernägeln von seinem täglichen Spaziergang im naheliegendem River Falls Park mit seinem Vater zurück. Vorher war er verstört auf die Straße gestolpert und hatte einen Autounfall verursacht. Während Adam selbst spurlos verschwunden bleibt, kann Eugene aufgrund der speziellen Art seiner Behinderung nicht erklären, was passiert ist.

Heute, wo ich weiß, was sie gerade entdeckt hatte und vor uns verheimlichte, habe ich den Verdacht, dass sie genau das bezweckt hatte – den guten Cop zu spielen, sich unser Vertrauen zu sichern -, aber damals dachte ich, dass sie einfach nur nett sein wollte. (Auszug E-Book Pos. 611 von 7427)

Vom Verschwinden ihres Vaters berichtet die blitzgescheite Mia rückblickend aus der Ichperspektive. Ihr Erzählstil ist analytisch und sehr ausschweifend. Davor warnt sie die Lesenden auch gleich zu Anfang. Das wird vielleicht nicht jedem Lesetyp zusagen, ich mochte diese ausführlichen Erläuterungen, denn Mias mäandernde Gedankengänge und Fußnoten sind intelligent, reflektiert und oft sehr witzig. Dabei bleibt der Spannungsbogen stets straff gespannt, denn wir erleben durch Mia nicht nur die folgenden Stunden und Tage auf der Suche nach Antworten, sondern kommen einer Reihe von schockierenden Geheimnissen auf die Spur, die Adam anscheinend vor seiner Familie verborgen hatte. Adams Tagebuch gibt Rätsel auf und ein im Park aufgenommenes Handyvideo lässt Schreckliches vermuten. Jede neu gewonnene Enthüllung überrascht und erhöht die Spannung. Je mehr ans Licht kommt, desto mehr gerät jedoch Eugene ins Zentrum der Ermittlungen. Zusätzlich zur Sorge um den vermissten Vater, versuchen die Parksons nun, Eugene vor den sich verschärfenden Verdächtigungen der Polizei zu beschützen, auch weil sie Angst haben, das Sorgerecht zu verlieren.

Mir ging auf, dass die Vorstellung tatsächlich auf eine zutiefst tragische Art irgendwie amüsant war, dass unser Vater ein geheimes Zweitleben hatte und damit durchkam, weil er sich darauf verlassen konnte, dass Eugene nicht sprach. (Auszug E-Book Pos. 2461 von 7427)

Neben dem Vermisstenfall geht es auch um Kommunikation, Sprache und unsere voreingenommene Wahrnehmung von Menschen mit einer Sprachbehinderung, bei denen oft einfach eine kognitive Beeinträchtigung vermutet wird. Da Eugene seine Gedanken nicht in Worte fassen kann, wird er als geistig zurückgeblieben wahrgenommen, sogar seine ihn liebende Familie behandelt ihn wie ein Kleinkind. Um ihn zu beruhigen, verbringt er viel Zeit damit, sich Zeichentrickfilme auf dem IPad anzusehen.

Doch Mia gelingt es, ihre Sicht zu überdenken, als sie sich an die Zeit erinnert, als die Familie mehrere Jahre in Süd-Korea gelebt hatte. John, der optisch nach seinem weißen Vater kommt, wurde auch schon für die bescheidensten Koreanisch-Kenntnisse überschwänglich gelobt, während seine Zwillingsschwester, die mehr ihrer koreanischen Mutter ähnelt, als dumm angesehen wurde, wenn sie Fehler im Koreanischen machte. Auch ihre Mutter Hannah wurde in ihrer Anfangszeit in den USA aufgrund ihrer sprachlichen Schwierigkeiten als geistig minderbemittelt angesehen.

Angie Kim behandelt in „Happiness Falls“ mit den Herausforderungen einer Mischlingsfamilie, elterlichen Geschlechterrollen, Rassismus-Erfahrungen in zwei Ländern, Eugenes Handicap und den Kontaktverbot während des Lockdowns 2020 sehr viele Themen. Auch die Glücksforschung nimmt Raum ein, da Adam sich von seiner Familie unbemerkt damit beschäftigt hatte. Die schriftlich in seinem Tagebuch dokumentierten Experimente an seiner eigenen Familie werden durch Studienergebnisse untermauert. Mias Zynismus steht dabei im Kontrast zum Optimismus ihres Zwillingsbruders John. Die Relativität von Glück zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Für mich ein mit interessanten psychologischen Beobachtungen gespickter, vielschichtiger und tiefgründiger Pageturner mit gut entwickelten Charakteren, den ich kaum aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Happiness Falls | erschienen am 15 April 2025 bei hanserblau
ISBN 978-3-4462-7965-0
Printausgabe: 544 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: Happiness Falls | Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Angie Kims Roman „Miracle Creek“

Dirk Schmidt | Die Kurve

Dirk Schmidt | Die Kurve

„Carl, nennen Sie mich Carl. Carl aus Herne.“
„Aus was?“
„Herne. Vergessen Sie es wieder. Herne ist nämlich ein Ort zum Vergessen oder Nie-davon-gehört-Haben. In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort. Warum haben Sie mich angerufen?“ (Auszug S. 11).

In Herne hat allerdings damals alles angefangen. Im Jugend- und Freizeitzentrum „Die Kurve“ war Carl der Betreuer und hatte die wilde Mischung der Jugendlichen ganz gut in Griff. Seine Klientel war nicht einfach zu händeln, meist aus armem trostlosem Zuhause, Kleinkriminalität, Drogen, Gewalttätigkeit. Carl konnte gut mit den Jugendlichen, ein paar wuchsen ihm besonders ans Herz. Und dann stellte Carl fest, dass man mit ihnen ein Geschäft ganz anderer Art aufbauen konnte.

„Was ich anbiete? Alles. Alles, was Sie sich vorstellen können. […] Die meisten meiner Kunden bevorzugen allerdings Dienstleistungen, die sich ihren unmittelbaren Möglichkeiten entziehen. Zur Frage, ob sie mir vertrauen können, kann ich nur sagen, dass ich absolut und einhundertprozentig vertrauenswürdig bin.“ (Auszug S. 11-12).

Heute betreibt Carl ein exklusives, aber auch riskantes Unternehmen für kriminelle Dienstleistungen aller Art, auch tödlicher Art. Carl lebt inzwischen in Monaco (großartiger Running Gag, dass er mit beiläufigen Äußerungen seinen Aufenthaltsort verschleiern will, etwa: „Ich schnapp‘ mir das Boot und fahre rüber nach Acapulco, da ist heute Abend All-you-can-eat-Burrito-Buffet.“) und zieht die Fäden. Er erhält Anrufe, seine Nummer wird im Vertrauen weitergegeben. Dann setzt er seine Leute ein: Betty etwa, Ridley oder Schneider. Per Telefonat gibt er Anweisungen, will regelmäßig unterrichtet werden. Er hält ein strenges Regiment, alles, was man ihm sagt, kann auch gegen einen verwendet werden. Er kümmert sich aber auch um seine Leute, verlangt dafür aber absolute Loyalität. Seine Telefonate und Dialoge, die sich um geschäftliche Dinge, aber auch um das Seelenleben seiner Mitarbeiter drehen, gehören zu den Höhepunkten dieses Romans.

Die Aufträge, die Carls Crew bearbeiten muss, sind durchaus speziell. Ridley darf einen alten Mafiaboss aus Neapel und seine Tochter auf einer Tour durch Deutschland begleiten, bei der es offenbar um dessen Nachfolge geht. Betty hingegen soll den Tod einer jungen Amerikanerin aufklären, die sich aus der Enge ihrer kriminellen Familie in Detroit nach Berlin befreit hatte und dort nach einer Partynacht tot im Kanal aufgefunden wurde. Währenddessen gibt Schneider den Ausputzer im Hintergrund.

„Ich soll Ihnen Grüße bestellen. Von Mustapha.“ […]
„Ich kenn keinen Mustapha“, entgegnet der Dönerbudenbesitzer.
„Oh“, sagt Schneider. „Dann muss ich Sie wohl verwechselt haben. Das tut mir jetzt aber leid.“
„Was…?“
Schneider trifft ihn ziemlich genau in den Mund. Nicht ganz einfach bei den Lichtverhältnissen. (Auszug S.153)

Autor Dirk Schmidt ist als Drehbuchautor bekannt, insbesondere für den Radio Tatort um die „Task Force Hamm“. „Die Kurve“ ist sein erster Genreroman seit zehn Jahren. Für mich überzeugen vor allem die Attitüde, der Ton und die ungewöhnlichen Orte des Romans. Carl und sein Geschäft kommen hier ziemlich lässig rüber – vor allem die Dialoge habe ich gerne gelesen. Der Plot hingegen wurde hingegen für meinen Geschmack manchmal etwas zu sehr nebenbei behandelt, so richtig packend wurde es selten. Aber das war sicherlich auch so gewollt in diesem komplexen Roman, der insgesamt auf jeden Fall eine interessante und kluge Abwechslung im Genre bietet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Kurve | Erschienen am 17.03.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47480-8
276 Seiten | 17,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe