Monat: September 2023

James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

James Lee Burke | Verschwinden ist keine Lösung (Band 23)

Es ist geschafft. Mit dem 23. Band endet (vermeintlich) eine der am längsten laufenden Krimireihen. 1987 erschien mit „Neon Rain“ (dt. „Neonregen“) der erste Band um Dave Robicheaux, damals noch beim New Orleans Police Department. James Lee Burke hat die Reihe nun mit „A Private Cathedral“ (die Titel waren schon immer oft schwer zu übersetzen, der deutsche Titel diesmal wirkt etwas unbeholfen) scheinbar abgeschlossen. Mehr oder weniger zumindest, denn offenbar hat Burke bereits einen Titel mit Daves Intimus Cletus „Clete“ Purcel vorbereitet. Mit dem vorliegenden Band endet auch ein verlegerisches Großprojekt. 2015 veröffentlichte Günther Butkus den 15. Band „Sturm über New Orleans“, nachdem mehrere Titel zuvor nicht mehr ins Deutsche übersetzt worden waren. Er traf damit einen Nerv und war Teil eines Comebacks des Autors in Deutschland. Anschließend nahm Butkus die große Aufgabe an, die gesamte Reihe im Pendragon Verlag wiederaufzulegen bzw. als deutsche Erstausgabe zu veröffentlichen.

Zeitlich spielt „Verschwinden ist keine Lösung“ irgendwann vor 9-11 und ist damit in der Chronologie irgendwo mittendrin. Auch wenn es natürlich eine Chronologie gibt und eine gewisse Entwicklung im Leben der Hauptfiguren – allen voran Daves Ehefrauen und seine irgendwann erwachsene Tochter Alafair – es war eigentlich nicht allzu sehr problematisch, einzelne Bände nicht in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Für Neueinsteiger bietet es sich allerdings nie an, mit dem letzten Band zu beginnen. Dieses Mal kommt außerdem hinzu, dass dieser Roman sich für meinen Geschmack nochmal sehr an die eingeweihten Kenner des Robicheaux’schen Kosmos richtet. „A Private Cathedrale“ ist eine Quintessenz der gesamten Reihe, in der Dave und Clete als Aufrechte und Gerechtigkeitsfanatiker einen zwar von kleinen Erfolgen gekennzeichneten, aber letztlich scheinbar vergeblichen Kampf gegen „das Böse“ führen, diesmal noch stärker begleitet von metaphysischen, übernatürlichen Elementen, eingebettet in die traumhafte Landschaft Lousianas..

„Willst du dir noch etwas von Seele reden, Streak?“
„Ich habe ‚Warn-Träume‘. Stürmische See, eine Galeere mit Strafgefangenen, die an die Riemen gekettet sind. Sie sehen aus, als wären sie in der Hölle.“
„Du hast mir gerade eine Scheißangst eingejagt.“
„Warum?“
„Ich hatte den gleichen Traum.“
Es fühlte sich an, als hätte er mir in die Magengrube getreten. (Auszug S.71)

Wie die meisten Romane der Reihe ist eine Inhaltsangabe eher schwierig, denn Burke schickt seine Hauptfiguren in einen sehr komplexen Plot, in dem die Suche nach der Quelle der menschlichen Grausamkeit sich als rote Faden durch die Seiten zieht. Durch eine zufällige Begegnung an einem Pier in Texas lernt Dave die junge Isabell Belangie kennen, Tochter eines Mafiaso, die angeblich an den rivalisierten Clan um den skrupellosen Mark Shondell als Faustpfand „abgegeben“ wurde. Dies ruft Dave auf den Plan, der diesen „Menschenhandel“ hinterfragt und in ein Nest von Soziopathen stößt. Es geht um kriminelle Machenschaften, Grausamkeiten und ein Wiedererstarken rassistischer Politik. Und dann taucht der noch ein „Zeitreisender“ auf, Gideon Richetti, ein grausamen Rächer, allerdings auf der Suche nach Erlösung. Das klingt nicht nur biblisch-mystisch, sondern ist es auch. Das Fantastische, das den traumatisierten Dave (und auch Cletus) immer wieder mal in den Romanen begegnet, wird hier auf die Spitze getrieben, steht aber immer im Kontext zum zentralen Thema des Romans.

Ich hatte ihn für jemanden gehalten, der von grausamen Kräften angetrieben wurde, doch in Wirklichkeit war er eher Opfer als Täter; und meine weltliche Erfahrung hatte mich meiner Meinung nachder Erkenntnis kein Stück nähergebracht, warum die Menschen so eine Vorliebe für Unmenschlichkeit hatten. Unabhängig von Gesellschaft oder geschichtlicher Epoche scheinen sich der Sukkubus und Inkubus ihren Weg in unsere Mitte zu bahnen oder waren latent oder als Keim von Beginn an in uns vorhanden. (Auszug S.279)

„Verschwinden ist keine Lösung“ ist ein brutaler, harter Thriller und zugleich ein zutiefst philosophisch-ethisch-religiös geprägter Roman. Autor James Lee Burke schickt seine Protagonisten auf eine finale Tour de Force, einen letzten, wütenden Kampf gegen die Sklavenhalter, Menschenschänder, Rassisten und Faschisten dieser Welt. Und auch wenn manches Bild und manches Übernatürliche den Leser verwirren mag, halte ich es letztlich mit Kritiker Tobias Gohlis, der zu diesem Buch meinte: „Man muss nicht alles verstehen, um dieses Meisterwerk großartig zu finden.“ Ein Lob verdienen zudem Übersetzer Jürgen Bürger und Jochen König für sein sehr lesenswertes Nachwort, in dem er diesen Roman nochmal in die Gesamtreihe einordnet.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Verschwinden ist keine Lösung | Erschienen am 26.07.2023 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-755-0
466 Seiten | 24,- €
Originaltitel: A Private Cathedral | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Alle Rezensionen zur Robicheaux-Reihe auf Kaliber.17
Weiterlesen II: Beitrag zu „Verschwinden ist keine Lösung“ und Rückblick auf die Reihe von Hanspeter Eggenberger im Crimemag

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Matt Query & Harrison Query | Old Country – Das Böse vergisst nicht

Es war ein fremdartiges Gefühl von Furcht, wie eine Ansteckung, ein Panikvirus, der nicht aus dir selbst kommt, sondern sich von außen einen Weg in dein Bewusstsein bahnt. Ich spürte einen Druck auf meinen Ohren. (Auszug Seite 309)

Eine eigene kleine Farm in der weiten Natur, Ruhe in der ländlichen Abgeschiedenheit. Für das junge Paar Harry und Sasha Blakemore geht ein Lebenstraum in Erfüllung, als sie den Zuschlag für eine Ranch in Idaho bekommen. Voller Vorfreude machen sie sich mit Jagdhund Dash auf den Weg in die Abgeschiedenheit, weit weg von ihren Familien. In den Bergen angekommen sind sie überwältigt von der traumhaft schönen Landschaft direkt vor den Ausläufern der Rocky Mountains. Die nächsten Nachbarn Dan und Lucy Steiner wohnen einige Meilen entfernt. Das ältere Ehepaar steht mit Rat und Tat zur Seite und hilft den Neuankömmlingen, sich in das Leben als Farmer einzufinden.

Das Grauen in der Idylle
Als sie die Blakemores allerdings mit einem uralten Geist konfrontieren, der in jeder Jahreszeit in unterschiedlicher Manifestation die Bewohner des Tals heimsucht, sind Harry und Sasha mehr als skeptisch. Es gibt genaue, auch schriftlich fixierte Anleitungen, um den Geist in Schach zu halten. Wenn die beiden Neufarmer sich an diese Anweisungen halten und die Rituale genauestens befolgen, würde ihnen nichts passieren. Besonders Harry weist die bevorstehenden Heimsuchungen brüsk als abwegige Spinnerei ab und fühlt sich veräppelt. Doch während Harry und Sasha sich langsam einrichten, zum Reiten, Fischen und zur Moorhuhnjagd gehen, bricht das Grauen über die Idylle herein.

Die Handlung ist in 5 Abschnitte unterteilt und folgt der Dramaturgie der Jahreszeiten. Die Perspektive, die kapitelweise zwischen Harrys und Sashas Sicht hin und her wechselt, ist in der Ich-Form verfasst. Dadurch entsteht eine dichte Psychologisierung des jungen Paares. Die Figuren sind sympathisch und authentisch, nahbar und mit Hintergrund gezeichnet. Harry ist ein Afghanistan-Veteran, in Rückblenden erfahren wir viel über die traumatischen Geschehnisse, die er auch noch nicht endgültig verarbeitet hat. Selbst mit seiner Frau, zu der er eine sehr innige und intensive Beziehung pflegt, spricht er nicht über seine Zeit als Marine in den Kriegsgebieten. So liebevoll Harry zu seiner Frau und dem Golden Retriever ist, kann er aber auch schon mal sehr hitzig und impulsiv handeln und wenn er Gefahr für seine Liebsten wittert, fühlt er sich schnell provoziert.

„Ich habe bereits Menschen erschossen, Lucy. Echte Menschen. Dass dieser verdammte … Geist echt ist, beunruhigt mich weit mehr, als einen Kerl abzuknallen, der meine Frau und mein Zuhause bedroht.“ (Auszug Seite 158)

Old Country ist ein mystischer Spannungsroman mit Gruselelementen, wobei die gruseligen Abschnitte doch überschaubar waren. Dabei schleichen sich die schaurigen Szenen langsam an und waren für mich eher skurril als gänsehauterzeugend. Das vorhersehbare Regelwerk konterkariert unweigerlich den Spannungsbogen. Das liegt daran, dass wir aufgrund der Anleitung von Dan und Lucy ja immer schon genau wissen, was passiert. Auch wenn durch Harrys teilweise ungestümes Verhalten das ein oder andere Unvorhergesehene passiert, werden die Gefahren allzu gleichförmig erzählt. Die Zeit zwischen den übernatürlichen Ereignissen war mit detaillierten Beschreibungen des alltäglichen Lebens, traumatischen Erinnerungen und Rückblenden gefüllt.

Horror im Winter
Im letzten Drittel wächst die Bedrohung und das Tempo zieht an. Die Horror-Momente im Winter werden sehr bildhaft und plastisch geschildert und zumindest meine Nackenhaare stellten sich auf. Als klar wird, dass kein Entkommen möglich ist, die Farm verlassen und irgendwo anders neu anzufangen, keine Option darstellt, spitzt sich alles zu.

Old Country ist gradlinig in einer gefälligen Sprache und einer fast heimeligen Erzählweise geschrieben. Der weitläufige Schauplatz wird anschaulich geschildert, die Verbundenheit zur Natur ist omnipräsent. Die Brüder Matt und Harrison Query nehmen sich viel Zeit für Setting und Charaktere. Ich habe immer wieder gerne zum Buch gegriffen, auch wenn es sich eher um eine gemütliche, zurückhaltende Spannung mit einer subtil bedrohlichen Aura handelt. Eine Verfilmung kann ich mir gut vorstellen und das Erfolgsteam Shawn Levy und Dan Cohen, die Macher von Stranger Things, sollen schon ihr Interesse bekundet haben.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Old Country – Das Böse vergisst nicht | Erschienen am 15. Februar 2023 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-45332-231-8
432 Seiten | 15.- Euro
Originaltitel: Old Country | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Pfingstl
Bibliografische Angaben & Leseprobe

 

Jacob Ross | Shadowman (Band 2)

Jacob Ross | Shadowman (Band 2)

Letztes Jahr erschien mit „Die Knocherleser“ Band 1 dieser exotischen Krimireihe, die Autor Jacob Ross auf einer Karibikinsel mit dem fiktiven Namen „Camaho“ angesiedelt hat. Die Beschreibung des Settings weisen jedoch sehr stark auf Grenada hin, die Heimat des Autors, der inzwischen seit langem in London lebt. Michael „Digger“ Digson und Miss Stanislaus bilden ein unkonventionelles Ermittlerduo, das sich zahlreichen Widerständen entgegentreten muss. Wie schon in Band 1 bildet die männlich geprägte Gesellschaft, die Unterdrückung von Frauen, Korruption und das Zusammenspiel von öffentlichen Personen und Kriminellen den allgemeinen Hintergrund der Geschichte.

Das Ermittlerduo steckt von Beginn an in der Klemme: Miss Stanislaus wurde in ihrer Jugend auf einer kleinen Nachbarinsel Camahos vom Gangster Juba Hurst missbraucht. Als sie mitbekommt, dass sich eine junge Frau, ein weiteres Opfer Hursts, das Leben genommen hat, bedroht sie Hurst vor Zeugen mit ihrer Waffe, Digger kann sie gerade noch von einer Dummheit abhalten. Doch wenig später greift Juba Hurst die beiden in einem nächtlichen Hinterhalt an, diesmal erschießt ihn Miss Stanislaus aus Notwehr tatsächlich. Dumm nur, dass ihr niemand glaubt, und der männlich dominierte Polizeiapparat die Chance nutzen will, um Miss Stanislaus loszuwerden und Diggers Einheit aufzulösen. Über seine letzten Verbündeten gelingt es Digger, eine Frist von sechs Wochen auszureizen, um Miss Stanislaus‘ Unschuld zu beweisen. Dabei hat Digger zeitgleich noch einen weiteren Fall zu lösen: Die Ermordung eines Mannes, der offensichtlich in Drogengeschäfte verstrickt war. Und irgendwie scheint auch Juba Hurst eine Rolle in diesem Drogen- und Schmuggelnetzwerk gespielt zu haben.

„Camaho ist klein. Wir haben schon eine etablierte Schmuggelkultur, wir haben haufenweise junge Männer, die keine Arbeit finden. Wir haben tausende von kleinen Buchten und Grotten, in denen man ein Boot verstecken kann. Und wir haben den passenden Charakter – die Heimlichtuerei liegt uns im Blut.“ (Auszug S. 298)

Eine packende Lektüre mit einem außergewöhnlichen Schauplatz und einem markanten Ermittler-Duo, das seine Päckchen aus der Vergangenheit zu tragen hat. War es im Auftaktroman Digger und nach wie vor nicht aufgeklärte Verschwinden seiner Mutter in direktem Zusammenhang mit polizeilichen Gewaltexzessen, so ist es diesmal die Vergangenheit von Miss Stanislaus als Missbrauchsopfer. Durch die Figur der Miss Stanislaus, ihrer charakterlichen Stärken und Fähigkeiten als polizeiliche Ermittlerin erzählt der Autor indirekt auch eine Geschichte weiblichen Empowerments.

Mir gefiel dieser Roman sogar noch besser als Band 1, er war für meinen Geschmack fokussierter und souveräner im Einsatz der Figuren und Entwicklung des Plots. Erwähnenswert ist zudem die Übersetzung durch Karin Diemerling, die erfolgreich versucht hat, den karibischen Slang ein Stück weit in den Dialogen zu transportieren. Insgesamt ein kurzweiliger Krimi aus der Karibik, mit grimmigem Ernst, Witz und auch so manchen cleveren Weisheiten.

„[…] Aus meiner Sicht sind Frauen, hm, Ökosysteme. Greift man irgendwo ein, wirkt sich das auf ‚ andern Teil aus. Ist das, was Lazar und so Typen nich verstehn.“
„Und was sind Männer?“
„Auch Ökosysteme.“ Er senkte den Blick, lächelte. „Nur nicht so komplex.“ (Auszug S. 173)

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Shadowman | Erschienen am 17.07.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47336-8
462 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: Black Rain Falling | Übersetzung aus dem karibischen Englisch von Karin Diemerling
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Band 1 „Die Knochenleser“

Erin Flanagan | Dunkelzeit

Erin Flanagan | Dunkelzeit

Erin Flanagans Debüt führt uns ins ländliche Nebraska in ein kleines beschauliches Örtchen. Gunthrum wird Mitte der 80er Jahre zum Schauplatz eines tragischen Ereignisses, als die junge Peggy Ahern spurlos verschwindet. Mit Hal, einem 25-jährigen, geistig beeinträchtigtem Mann ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Der junge Mann ist mit routinierten Arbeiten auf der Farm von Alma und Clyle Costagan beschäftigt und war zum ersten Mal mit Freunden zum Jagen gewesen. Sehr zum Leidwesen von Alma, die befürchtet, dass Hal von den anderen nur verarscht wird. Alma und Clyle hatten den jungen Mann eingestellt und kümmern sich auch sehr liebevoll um ihn, fast wie um das eigene Kind, das ihnen bisher verwehrt blieb.

Wie befürchtet war auf dem Fußboden im Haus ein hässlicher rosa Fleck. Clyle stemmte die Hände in die Hüften. „Wo ist sie?“ „Wer?“ „Die Hirschkuh.“ Hal biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab sie zum Müllplatz gebracht.“ … „Wie hast du sie dort hinbekommen?“ „Mit der Schubkarre.“ Clyle seufzte. „Die müssen wir also auch noch sauber machen.“ (Auszug S. 40- 41)

Nachdem Hal ohne seine Kumpels mit einem blutverschmierten und verbeulten Pick-Up von der Jagdtour zurückkehrt, erzählt er eine nicht ganz schlüssige Geschichte mit einer illegal erlegten Hirschkuh. Unfähig die Konsequenzen seines Handelns nachzuvollziehen, verstrickt er sich immer mehr in Widersprüche. Im alkoholisierten Zustand neigte er in der Vergangenheit auch schon mal zu Gewaltausbrüchen und schwärmte für die hübsche Peggy. Als dann rauskommt, dass die 17-Jährige letztmalig in der Kneipe „Castle Farm“ gesehen wurde und auch Hal sich angeblich an dem Abend da aufgehalten haben soll, ist für die Anwohner die Sache klar. Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer und Hal sieht sich ersten Vorwürfen und offenen Anfeindungen ausgesetzt.

Alma und Clyle werden mit einer unbequemen Realität konfrontiert und fragen sich, ob Hal tatsächlich in der Lage wäre, einem Mädchen etwas anzutun. Trotzdem versuchen sie alles, um Hal zu schützen und vor Unrecht zu bewahren. Die beiden sind vor 14 Jahren aus Chicago nach Gunthrum gezogen, um nach dem Tod von Clyles Eltern die Farm zu übernehmen. Clyle bewirtschaftet die Farm einschließlich Schweinezucht und die ehemalige Sozialarbeiterin Alma fährt den Schulbus.

Clyle beugte sich vor und kraulte eines der Ferkel hinter dem Ohr, und die anderen kamen herbeigelaufen. Sie schnüffelten wie eine Hundemeute an seiner Hand und hofften auf seine Zuneigung. „Immer noch unglaublich niedlich“, sagte er, und sie fragte sich, wie zwei Menschen so unterschiedliche Sichtweisen haben konnten. (Auszug S. 7)

Erin Flanagan konzentriert sich in ihrem Debüt-Roman auf die Ehe zwischen Alma und Clyle, die durch lang verdrängte Probleme und eine große Kommunikationslosigkeit gekennzeichnet ist. Alma ist nur Clyle zuliebe aufs Land gezogen. Es sollte nur für eine Saison sein und obwohl die Landwirtschaft sich immer weniger rentiert, sind sie geblieben. Während Clyle sich sehr wohl fühlt, ist Alma todunglücklich. Sie findet hier keinen Anschluss, eckt mit ihrer schroffen, mürrischen Art oft an und kommt mit den kleinstädtischen Strukturen und den Geschlechterrollen nicht zurecht. Alma ist verbittert und hat sich in eine aggressive Sturheit geflüchtet, wenn es um ihren geliebten Hal geht. In einer weiteren Erzählperspektive erfahren wir von Milo, dem 12-jährigen Bruder von Peggy. Der introvertierte Junge hofft, dass seine lebenslustige Schwester einfach mal abgehauen ist und schnell wieder auftauchen wird. Er ist sogar erst sauer, dass die allseits beliebte Peggy mal wieder alle Aufmerksamkeiten bekommt. Dabei entgeht ihm nichts und in seiner ruhigen Art blickt er hinter die Fassade der Erwachsenen.

Eigentlich ein Roman, der vom Setting und Plot genau meins ist. Dass der Kriminalfall nur untergeordnet und polizeiliche Ermittlungen nur am Rande stattfinden, stört mich gar nicht. Flanagan, eine Professorin für Englische Sprache und Literatur betreibt mehr eine Milieu- und Sozialstudie über eine typische Kleinstadtidylle in den 80ern, in der jeder über jeden Bescheid weiß und Gerüchte sich schnell herumsprechen. Aber der mehrfach ausgezeichnete Roman konnte mich nicht richtig packen und irgendwie sprang der Funke nicht über. Ich habe das einfach schon zu oft gelesen und vor allen Dingen besser.

In vielen Dialogen offenbart die Autorin die Vergangenheit einzelner Dorfbewohner und wir erfahren von ihren Sorgen und Nöten, ihren Geheimnissen, Sehnsüchten und Affären. Die persönlichen Dramen lesen sich wie aus dem Leben gegriffen und sind weniger spektakulär als vielmehr banal. Dabei vernachlässigt sie die Spannungskurve und versäumt es, die Situation sich zuspitzen und eskalieren zu lassen. Es plätschert einfach so vor sich hin und endet in einer beliebigen Überführung des Täters.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Dunkelzeit | Erschienen am 18. Mai 2023 im Atrium Verlag
ISBN 978-3-85535-145-9
368 Seiten | 25,- Euro
Originaltitel: Deer Season | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
Bibliografische Angaben und Leseprobe