Kategorie: Ermittler

Rezensent

John Brownlow | Seventeen

John Brownlow | Seventeen

Ich tue das Einzige, was mir einfällt. Als ich an der Küche vorbeikomme, schnappe ich mir die Kaffeekanne und werfe damit nach der Frau. Praktisch im selben Moment schleudert sie mir das Telefon entgegen. […]
Ich weiß nicht, woher die Frau die Kraft nimmt, aber Wut und Kummer haben ihr einen Arm verliehen, mit dem sie für jede Baseballmannschaft ein Gewinn wäre. Das Gerät fliegt mit wild herumwirbelnden Kabeln auf mich zu wie eine Art überdimensionierter Wurfstern. Und trifft mich mitten auf der Stirn. (Auszug S.28)

Der Mann, der da gerade ziemlich peinlich zu Boden geschickt wird, ist übrigens ein Auftragskiller. Und nicht irgendeiner, sondern der Beste der Branche. Sein Name ist eine Nummer – Seventeen. Er ist der 17. einer illustren Reihe absoluter Profis. Ein Freelancer, der Aufträge von überall her durch seinen Agenten Handler annimmt. Gerade hat er in einer Vorstandsetage eines Unternehmens in Berlin einen Job ausgeführt, als er auf unerwartete Probleme beim Abgang stößt. Doch er wird fliehen können und wenige Stunden später sogar noch einen zweiten Job annehmen. Einen sehr blutigen sogar, weil die Zielperson glaubt, mit dem Schlucken eines Datenträger noch irgendetwas verhindern zu können. Die Art und Weise des zweiten Auftrags machen Seventeen etwas skeptisch, was für eine Art Auftrag das gerade war, aber ihm bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Handler vermittelt ihm seine nächste Aufgabe. Eine verdammt heikle und unangenehme. Vor ihm als No. 17 gab es entsprechend sechzehn andere Auftragskiller an der Spitze. Fünfzehn sind tot, die meisten nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Nur Sixteen lebt noch und ist ein Mysterium. Vor vielen Jahren hat er sich einfach aus dem Staub gemacht, ist spurlos von der Bildfläche verschwunden. Nun erhält Seventeen den Auftrag, ihn aufzuspüren und zu erledigen. Andernfalls könnten andere denken, dass die Zeit für No. Eighteen gekommen sei. Doch Seventeen weiß, dass Sixteen eine verdammt schwierige Aufgabe sein wird.

Als ich an meinem Versteck vorbeikomme, halte ich den Atem an. Fast rechne ich damit, dass er dort wartet und an meiner Stelle schießt.
Als das nicht geschieht, bin ich fast enttäuscht.
Vielleicht ist dieser Kerl trotz allem nur ein Mensch. (Auszug S.123)

Autor John Brownlow hat unter anderem das Drehbuch für die Fernsehserie „Fleming“ über Ian Fleming und die Entstehung von James Bond geschrieben. Für sein Romandebüt „Seventeen“ bewegt er sich in ähnlichen Gefilden. Im Gegensatz zu 007 ist Seventeen auf der dunklen Seite der Branche. Was allerdings nicht heißt, dass die meisten seiner Aufträge nicht von irgendeiner Regierung kommen, die sich aber nicht exponieren will. Seventeen ist ein absoluter Profi, seine Aufträge erledigt er kühl und zuverlässig, hinterfragt sie auch nicht groß, versucht allerdings, Kollateralschäden zu vermeiden. Seine Tarnung ist größstmögliche Auffälligkeit. Er hat es an der Spitze geschafft, aber seine Nachfolger sind stets auf der Lauer, Unachtsamkeit wird in der Branche grausam bestraft.

Das äußerst Unterhaltsame an diesem Roman ist die gewählte Perspektive und Erzählweise. Brownlow lässt Seventeen als Ich-Erzähler durch den Plot führen, der den Leser auch direkt anspricht und Einblicke ins Business und seinen Gemütszustand gibt. Das ist streckenweise zynisch, großspurig, aber auch ironisch und komisch. Rasante Action und brutale Szenen werden durch Slapstick und Komik gebrochen. Nach einer kurzen Einführung gibt Brownlow mit der Story direkt Vollgas und bleibt fast ununterbrochen auf dem Gaspedal.

„Seventeen“ ist nicht der ganz hintergrundfreie Actionroman. Es geht natürlich um Täuschung und Verrat und die ganzen Manöver haben irgendwie mit einem drohenden Krieg und dem noch fehlenden Anlass (man erinnere sich an Massenvernichtungswaffen) zwischen den USA und dem Iran zu tun. Doch das Politthrillerelement wird nicht überstrapaziert. Im Allgemeinen ist „Seventeen“ einfach ein famoser, äußerst unterhaltsamer Thriller, der einfach nur Spaß macht und unkonventionell über weite Strecken ein Feuerwerk abbrennt (das Ende hätte hingegen vielleicht noch unkonventioneller ablaufen können).

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Seventeen | Erschienen am 18.04.2023 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00851-1
396 Seiten | 13,- €
Originaltitel: Seventeen | Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Kestrel | Fünf Winter

James Kestrel | Fünf Winter

„Ich glaube, er hatte Hilfe.“ „Warum?“ „Nur so ein Gefühl.“ „Haben Sie auch ein Gefühl, was dieses Bett betrifft?“ McGrady warf einen Blick auf das Feldbett. Jetzt wurde es von beiden Taschenlampen angestrahlt. Schmutzige Decken und alte Kleidungsstücke stapelten sich darauf. „Was ist damit?“ „Es blutet.“ (Auszug Seite 36)

Ende November 1941 in einer Bar in Honolulu. Detective Jo McGrady ist eigentlich schon im Feierabend, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten ereilt. Auf der anderen Seite der Insel Oahu wurde in einem Geräteschuppen in der Nähe einer Rinderfarm ein Leichenfund gemeldet. Personal ist knapp, es ist der Tag vor Thanksgiving, und so soll der Militärveteran McGrady hinfahren. Er ist kein Einheimischer und gilt immer noch als Außenseiter im Honolulu Police Department. Er sieht seine Chance, sich nach 5 Jahren auf Haiwaii mit seinem ersten Mordfall die nötige Anerkennung zu verdienen und macht sich auf in die Berge Honolulus. Am Tatort in die Nähe der Kahana Bay findet er einen weißen, jungen Mann, der kopfüber an einem Fleischerhaken hängt und brutal ausgeweidet wurde. Erst auf den zweiten Blick findet McGrady eine zweite Leiche, eine junge japanisch-stämmige Frau, die ebenfalls auf grausamste Weise gefoltert wurde. Es stellt sich heraus, dass beide mit einem Grabendolch aus dem ersten Weltkrieg ermordet wurden. Der Fall wird zum Politikum, da es sich bei dem ermordeten Jungen um den Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte, Admiral Kimmel handelt, während die Identität seiner mutmaßlichen Freundin, der getöteten Asiatin erst mal ungelöst bleibt.

Zur falschen Zeit am falschen Ort
Relativ schnell zeichnet sich die Spur eines Tatverdächtigen mit dem offensichtlich falschen Namen John Smith ab, die nach Hongkong führt. Während sein Vorgesetzter, Captain Beamer ihn an der kurzen Leine halten will, setzt Kimmel alles dran, den Detective in geheimer Mission an Smiths Fersen zu heften und inoffiziell ermitteln zu lassen. Trotz der unruhigen Zeiten, die Welt befindet sich im Krieg, gelingt es McGrady über Manila nach Hongkong zu fliegen. Allerdings scheint der übermächtige Killer ihm immer einen Schritt voraus zu sein. In der britischen Kronkolonie Kowloon angekommen gerät McGrady alsbald in eine Falle und wird unter einem Vorwand verhaftet. Während er in der Zelle schmort, erreicht der Weltkrieg die Pazifikregion. Am 07. Dezember 1941 überfallen die Japaner Pearl Harbour und die USA tritt in den zweiten Weltkrieg ein. Als die Japaner auch Hongkong einnehmen, wird McGrady mit anderen westlichen Gefangenen per Schiff nach Tokio deportiert, wo er als angeblicher Spion auf seine wahrscheinliche Hinrichtung wartet.

Überraschend wird er von dem stellvertretenden Außenminister Takahashi Kansei befreit. Der Diplomat, der heimlich gegen die Kriegspolitik Japans arbeitet, ist ebenfalls an der Aufklärung des Mordfalls interessiert und versteckt Jo McGrady in seinem Haus in der Nähe Tokios. Tatsächlich kümmern sich Kansei und seine Tochter Sachi bis zum Kriegsende um den Detective und riskieren dabei ihre Leben. Dieser darf das Haus nicht verlassen, nutzt die Zeit um Japanisch und viel über die japanische Kultur zu lernen und überlebt den Feuersturm, den die amerikanischen Bomber in der japanischen Hauptstadt entfesseln. Dabei verzehrt er sich die ganze Zeit nach seiner Freundin Molly, von der er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Hawaii nicht verabschieden konnte.

Er würde herausfinden, dass sich zu dem Zeitpunkt, an dem er die Badewanne verließ und sich fragte, wann Sachi zurückkommen würde, in zweitausend Kilometern Entfernung die Bomber von den Startbahnen drängten …. Es waren so viele Maschinen, dass es dreieinhalb Stunden dauerte, bis alle in der Luft waren und Richtung Norden schwenkten …. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen. Auszug Seite 284

Erst nach der Kapitulation Japans gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat und hier beginnt wieder die alte Jagd nach dem Killer, auch weil er sich an sein Versprechen gegenüber Takahashi gebunden fühlt. Auf Hawaii hat sich nach fünf Jahren vieles verändert, an der Aufklärung der Mordfälle zeigt auch keiner mehr Interesse.

Meine Meinung
Der rasante Einstieg hat mich sofort in den Bann gezogen. Aufgrund der bildhaften Erzählweise war ich gleich mitten in der Geschichte, saß mit den Matrosen an der Bar, schmeckte den Whiskey und spürte die tropische Hitze. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend, der Erzählton hart und militärisch kühl, die Dialoge lakonisch und trocken. Ein klassischer Noir eben!

Spätestens in Hongkong ändert sich die Tonalität der Geschichte und wird zu einem historischen Roman, wobei das Kriegsgeschehen im Pazifik den geschichtlichen Hintergrund bildet. Viele zeithistorische Aspekte werden in den Roman eingewoben, es entsteht jedoch keine trockene Geschichtsstunde, sondern ein intensives Bild jener Zeit. Die Gräueltaten des Krieges werden ohne Beschönigung geschildert, jedoch erzählt James Kestrel sein großartiges Drama mit nüchternen Worten, sachlich kühl und ohne große Sentimentalitäten, passend zu seinem Protagonisten.

Jo McGrady ist der typisch hartgesottene Held, zynisch und desillusioniert. Kein Freund großer Worte, leidensfähig, schlau und absolut verbissen, die einmal aufgenommene Fährte wird auch nach fünf Jahren nicht losgelassen. Dabei auch zu großen Gefühlen fähig, denn der Roman ist auch eine bittersüße, nie kitschig werdende Liebesgeschichte. Selten habe ich einen Roman gelesen, auf dem die Beschreibung „episch“ besser gepasst hätte. James Kestrel schlägt einen wirklich großen Bogen in seinen mehrfach ausgezeichneten Roman, aber das ist durchgehend fesselnd, süffig zu lesen und beeindruckend mit exotischen Schauplätzen und einem unbeirrbaren Helden in Szene gesetzt. Hut ab vor diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze.

James Kestrel ist das Pseudonym des amerikanischen Autors und Anwalt Jonathan Moore, der mit seiner Familie auf Hawaii lebt. Und erfreut stellte ich fest, dass ich seinen Roman „Poison Artist“ auch noch auf dem SuB habe.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

Fünf Winter | Erschienen am 12. März 2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51847-317-7
499 Seiten | 22,- Euro
Originaltitel: Five Decembers | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Carl Nixon | Kerbholz

Carl Nixon | Kerbholz

Am Anfang steht ein Verkehrsunfall. „Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde“, so der beeindruckende erste Satz. Am 4.April 1978 kommt der Wagen der Chamberlains in einer einsamen Gegend auf Neuseelands Südinsel vom Weg ab und stürzt in eine Schlucht. Die Familie hatte erst vor Kurzem England verlassen, der Vater soll in zwei Wochen seinen neuen Job in Wellington antreten. Bis dahin wollen die Chamberlains die neue Heimat erkunden. Bis sie in einer regnerischen Nacht vom Weg abkommen und in eine Schlucht stürzen. Vater, Mutter und das jüngste Kind Emma, noch ein Baby kommen beim Absturz, den Nixon in seiner ganzen Ausführlichkeit beschreibt, ums Leben. Drei Kinder überleben: Der 14jährige Maurice, die 12jährige Katherine und der siebenjährige Tommy. Doch der Unfall bleibt unbemerkt und bis zum Dienstantritt des Vaters wird sie auch von niemandem vermisst.

32 Jahre später erhält Suzanne Taylor, die Tante der Kinder, einen Anruf aus der neuseeländischen Vertretung in London. Vor kurzem wurden an der Westküste Neuseelands die menschlichen Überreste ihres Neffen Maurice gefunden. Für Suzanne folgt die größte Überraschung aus dem Obduktionsbericht. Demnach war Maurice zum Zeitpunkt seines Todes 17 oder 18 Jahre alt.

Beim Sprung zurück ins Jahr 1978 erfährt der Leser das Schicksal der Kinder, die teilweise schwer verletzt, nach wenigen Tagen vom Jäger Peters gefunden werden. Er nimmt die Kinder mit in ein einsames Tal, wo er und eine weitere Einsiedlerin, Martha, leben. Die beiden versorgen die Kinder und Martha heilt den schwer verletzten Maurice. Doch als die Zeit vergeht, müssen die Kinder feststellen, dass Martha und Peters sie nicht gehen lassen wollen. Martha präsentiert Maurice und Katherine ein Kerbholz, auf dem ihre Schulden eingekerbt sind, die sie begleichen müssen, bevor sie gehen dürften.

Auf mehreren zeitlichen Ebenen begleitet der Autor nun in der Folgezeit die weitere Entwicklung der Kinder im Tal und Suzanne im Jahr 2010 sowie ihre mehrfachen Reisen 1978 und in den Folgejahren nach Neuseeland, um irgendeine Spur der Familie ihrer Schwester zu finden. Es entwickelt sich ein Drama, das eher effizient als ausschmückend erzählt wird, allerdings ein wenig mystisch-schaurig. Dieses Tal mitten im wilden, bergigen Waldland wird für die Kinder zu einem abgeschlossenen Raum. Das Verbot, diesen Raum zu verlassen, wird von der beflissenen, empathischen Katherine befolgt, die sich zunehmend mit der Situation arrangiert, während der wütende, zornige Maurice alles daran setzt, sein Gefängnis zu verlassen. Dabei verhalten sich Peters und Martha hart und unerbittlich, wenngleich sie die Kinder nicht vernachlässigen.

Doch eines Tages würde er den König fangen. Er würde lachen, während er ihn tötete, und er würde seinen Kopf herbringen und zu den anderen legen. Danach würde er keinen Grund mehr haben, weiterhin Rache zu nehmen. Von diesem Tag an würde er sich besser fühlen, davon war er überzeugt. (Auszug E-Book Pos. 2472)

Die Geschichte hat viele interessante Facetten, die Carl Nixon manchmal nur anreißt und nie überdehnt. Im Vordergrund steht sicherlich das Wesen von Familie und menschlichen Beziehungen. Die Frage, was man einem anderen schuldet oder nicht. Ebenso Überlebenswille, Widerstand, Anpassung und Transformation in Extremsituationen. Aber auch Dinge wie Identität und (Post-)Kolonialismus werden ebenso angerissen. Daneben gibt es wirklich großartige Beschreibungen der neuseeländischen, von menschlichem Einfluss noch wenig berührten Landschaft.

Im Vorwort weist der Autor selbst darauf hin, dass er die Story der drei Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt, unter widrigen Bedingungen zurechtkommen müssen, als „Spiegelbild der Geschichte Neuseelands“ begreift. „Kerbholz“ überzeugt als kleiner, feiner Roman, der auf nicht allzu vielen Seiten eine dramatische, berührende und dabei psychologisch-ausgefeilte Geschichte erzählt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Kerbholz | Erschienen am 08.05.2023 im Culturbooks Verlag
ISBN 978-3-95988-156-2
304 Seiten | 24,- €
Originaltitel: The Tally Stick | Übersetzung aus dem Englischen von Jan Karsten
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Rocking Horse Road“ von Carl Nixon

Steve Cavanagh | Thirteen & Fifty-Fifty ♬

Steve Cavanagh | Thirteen & Fifty-Fifty ♬

Thirteen (Eddie-Flynn-Reihe Nr. 4)

Bobby Solomon, ein junger, attraktiver und aufgehender Kinostar in Hollywood ist dringend tatverdächtig, seine Ehefrau, die Schauspielerin Ariella Bloom und ihren Bodyguard und Liebhaber Carl Tozer ermordet zu haben. Solomon beteuert seine Unschuld, doch die Beweislast ist erdrückend. Eddie Flynn, ein kleiner New Yorker Strafverteidiger und ehemaliger Trickbetrüger kann sein Glück nicht fassen, als der bekannte Staranwalt Rudy Carps ihn um Hilfe bittet. Eddie soll das Team der Anwälte unterstützen und die Anklage entkräften. Eddie glaubt Bobby und tut alles in dem bevorstehenden Prozess, um die Jury von der Unschuld seines Mandanten zu überzeugen. Auch als er ziemlich schnell begreift, dass er eigentlich nur als Bauernopfer herhalten soll, falls der Verlauf des Prozesses für Solomon ungünstig verläuft.

Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive des Strafverteidigers Eddie Flynn sowie aus der Sicht des Serienmörders Joshua Kane erzählt. Schon im Prolog erfahren wir, wie der gerissene Killer alles daran setzt, Teil der 12-köpfigen Jury zu werden. Obwohl der Täter von Beginn bekannt ist, mangelt es dem intelligent geplotteten Justizthriller nicht an Spannung. Auch weil man jederzeit sehr nah an der Gedankenwelt des Protagonisten und des Antagonisten ist. Diese werden von den beiden Schauspielern Thomas M. Meinhardt und Götz Otto sehr gut in Szene gesetzt. Steve Cavanagh bedient sich zwar an einigen genretypischen Figuren, wie den cleveren, mit allen Wassern gewaschenen Flynn, der das Herz am rechten Fleck hat, den perfiden, soziopathischen Kane mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit, dem eiskalten Staatsanwalt oder einer taffen und coolen Ex-FBI-Agentin. Trotzdem hat mich der Thriller aufgrund von vielen innovativen Überraschungsmomenten extrem entertaint. Dazu gehört auch, dass man genau wie die Ermittler bis zum Schluss nicht weiß, wer der Killer in der Jury ist. Es machte mir Spaß, im amerikanischen Rechtssystem den Aufbau des Prozesses, die Strategie der Verteidigung oder den raffinierten Schlagabtausch, den sich Verteidigung und Anklage vor Gericht liefern, zu verfolgen. Die Szenen, in denen die Jurymitglieder eingeschätzt und danach speziell ausgewählt werden, wirkten auf mich authentisch, auch aufgrund der Tatsache, dass der nordirische Autor selbst Anwalt ist. Obwohl einige Wendungen tatsächlich sehr abstrus daherkommen, konnte ich dieses meisterhaft inszenierte Katz- und Mausspiel atemlos genießen.

Thirteen ist der erste Thriller um Strafverteidiger Eddie Flynn, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. Tatsächlich handelt es sich aber bereits um den vierten Band der Reihe.

Fifty-Fifty  (Eddie-Flynn-Reihe Nr. 5)

Der ehemalige Bürgermeister von New York, Frank Avellino wird in seinem Schlafzimmer mit äußerster Brutalität erstochen. Anwesend sind seine Töchter Alexandra und Sofia, die auch fast zeitgleich entsprechende Notrufe absetzen, in denen sie sich gegenseitig der Tat beschuldigen. Der Staatsanwalt drängt auf einen gemeinsamen Prozess, um die Schuldfrage schnell zu klären. Ein mögliches Mordmotiv könnte die große Erbschaft in Millionenhöhe sein.

Eddie Flynn übernimmt die Verteidigung von Sofia Avellino und steht im Gericht der Anwältin Kate Brooks von der Societät Levy, Bernhard & Croff gegenüber, die Alexandra Avellino vertritt. Beide sind von der Unschuld ihrer Mandanten überzeugt. Die Indizien sind nicht eindeutig, im Verlauf des Verfahrens versuchen beide, die Glaubwürdigkeit der anderen Angeklagten in Zweifel zu ziehen. Eine große Herausforderung für die Geschworenen, auch da manche Zeugen auf mysteriöse Weise verschwinden.

Nachdem mich Thirteen so gut unterhalten hat, habe ich mir gleich ein weiteres Hörbuch aus der Anwaltsserie um Eddie Flynn vorgenommen. Thomas M. Meinhardt spricht wieder Eddie und Susanne Schroeder, Schauspielerin und Theatercouch die Anwältin Kate Brooks. Beide machen ihre Sache hervorragend und ich konnte mir die Charaktere gut vorstellen. Mit Kate Brooks wird ein neuer, vielversprechender Charakter eingeführt. Die junge Anwältin arbeitet erst seit kurzem bei einer renommierten Kanzlei, wird aber von ihrem Chef nicht für voll genommen. Nach sexuellen Belästigungen kündigt sie und übernimmt ganz alleine die Verteidigung der tatverdächtigen Alexandra.

Und dann ist da ja noch der sympathische Eddie Flynn, der für seinen Job lebt, auf Kosten seines Privatlebens. Vor Gericht läuft er regelmäßig zur Hochform auf und für seine Mandanten gibt er alles, zur Not auch mal nicht ganz vorschriftsmäßig. Er übernimmt nur Fälle, wenn er von der Unschuld seines Mandanten überzeugt ist, auch wenn er in der Vergangenheit einen Mandanten mal komplett falsch eingeschätzt hatte. Mit katastrophalen Folgen.

Auch Fifty-Fifty ist wieder durch ständige Perspektivwechsel raffiniert und packend konstruiert. Cavanaghs Schreibstil ist kurzweilig, flüssig und an den richtigen Stellen temporeich oder auch emotional. Nach und nach kommen Hintergründe zutage, bevor der irische Autor wieder die Spannungsschraube anzieht.

 

Foto & Rezensionen von Andy Ruhr.

Thirteen | Das Hörbuch erschien am 24. Dezember 2021 bei Der Hörverlag
ISBN: B09J1CZLX1
Vollständige Lesung | Sprecher: Thomas M. Meinhardt + Götz Otto
Laufzeit: 13 Stunden 35 Minuten | bei Audible | als Download (Hörprobe): 25,95 €
Originaltitel: Thirteen | Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Goldmann

Wertung: 4,0 von 5

Fifty-Fifty | Das Hörbuch erschien am 28. November 2022 bei Der Hörverlag
ISBN: B0BLTCBG34
Vollständige Lesung | Sprecher: Thomas M. Meinhardt + Susanne Schroeder
Laufzeit: 13 Stunden 39 Minuten | bei Audible | als Download (Hörprobe): 25,95 €
Originaltitel: Fifty-Fifty | Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Goldmann

Wertung: 3,5 von 5

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Wir Kinder hatten einen eigenen Namen für unseren Ort, der offiziell Durton hieß: Dirt Town – irgendjemand hatte ihn sich ausgedacht und wahrscheinlich auf dem Schulhof damit angegeben wie mit einer glänzenden Murmel -, aber er war schon lange erprobt, als wir in die erste Klasse kamen. (Auszug S.62)

Durton ist eine vermutlich typische Kleinstadt im australischen Hinterland mit den typischen Problemen von steigender Arbeitslosigkeit und Landflucht. Ansonsten aber nichts Aufregendes, bis eines Freitags im November die 12jährige Esther Bianchi nicht von der Schule nach Hause kommt. Ihre Mutter Constance ist irgendwann besorgt, ruft die Freunde an, bei denen sie aber auch nicht ist, und wendet sich gegen Abend an die Polizei. Die Polizei reagiert schnell und schickt sofort zwei spezialisierte Beamte nach Durton. Was der Leser aber schon seit der zweiten Seite weiß: Die darauffolgende Suche wird erfolglos bleiben. Esther ist tot.

Damit ist der Ton des Romans bereits gesetzt und die Richtung klar, auch wenn die Polizei dies erst am Montag sicher weiß, als Esthers Leiche gefunden wird. Es wird nach einem Täter gesucht und der ist vermutlich innerhalb der kleinstädtischen Gemeinschaft zu finden. Auch wenn die Ermittlungen der zuständigen Polizistin Sarah mit ihrem Partner Smithy ausführlich beschrieben werden, das Hauptaugenmerk legt die Autorin im folgenden auf den verschiedenen Personenkonstellationen innerhalb und zwischen den beteiligten Familien. Es entwickelt sich ein Drama, ein Psychogramm einer Kleinstadt, in der zunehmend die Fassade bröckelt und die Wahrheit hinter Lügen und Geheimnissen verschleiert wird.

„Ronnie“, setzte sie an, aber ihre Stimme brach schon nach dem ersten Wort. „Sie haben Esther gefunden“, sagte sie schließlich.
Ihr Ton verriet mir, dass sie nicht alles gefunden hatten. Nicht ihr Lachen, nicht ihr lässiges Schlendern, nichts vonn dem, was ich an ihr liebte. Nichts davon würde zurückkehren. (Auszug S.300)

Die australische Autorin Hayley Scrivenor bedient sich dazu in ihrem Romandebüt „Dinge, die wir brennen sahen“ einer ausgefeilten multiperspektiven Erzählweise. Neben der Ermittlerin Sarah erhalten auch Esthers gleichaltrige Freunde Lewis und Veronika („Ronnie“) sowie Esthers Mutter Constance eine Erzählperspektive, Ronnie dabei als einzige in der ersten Person Singular. Spannend ist dabei, wie die Autorin an manchen Stellen die Perspektive wechselt und Ereignisse nochmal aus anderem Blickwinkel wiederholt. Zuletzt bringt Scrivenor noch eine Wir-Erzählerebene ein, als Stimme der Kinder von Durton. Selten gewählt und daher sehr spannend, wenn es gut gemacht ist, wie etwa beim neuseeländischen Autor Carl Nixon in seinem Roman „Rocking Horse Road“. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, dass die Autorin nur bedingt etwas mit dem „Wir-Erzähler“ anzufangen weiß und ihn teilweise stellvertretend als allgemeinen Erzähler benutzt, etwa bei der Auflösung am Ende.

Ansonsten weiß „Dinge, die wir brennen sahen“ aber durchaus zu gefallen. Das liegt nicht so sehr am Schauplatz, der insgesamt eine geringere Rolle spielt als sonst bei australischen Krimis. Sondern vielmehr in der akribischen Darstellung und Auflösung der Figurenkonstellationen, der gescheiterten Ehen, des gewalttätigen Vaters, der Probleme der Heranwachsenden mit sich selbst und untereinander. Eine tragische, sehr penibel und dennoch packend geschilderte Geschichte mit einem ziemlich banalem, aber dadurch nicht minder erschreckendem Ende.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Dinge, die wir brennen sahen | Erschienen am 31.03.2023 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Dirt Town | Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe