Kategorie: Gunnar Wolters

Arttu Tuominen | Was wir verschweigen

Arttu Tuominen | Was wir verschweigen

Paloviita weinte.
Ohne zu wissen, warum. Erst bemerkte er es gar nicht, dann konnt er die Tränen nicht mehr stoppen.
[…] Er wusch sich das Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Wohin entschwand die Zeit? Gab es sie noch, oder löste sie sich einfach auf wie platzende Seifenblasen? Er wusste es nicht, und es war ihm auch egal. (Auszug E-Book Pos. 782)

Jari Paloviita ist interimsweise Chef der Kripo im finnischen Pori. Er macht sich Hoffnung, den Job dauerhaft zu bekommen. Ein Tötungsdilekt in einer Waldhütte unter Betrunkenen und Bekifften überlässt er seinen Kollegen Henrik Oksman und Linda Toivonen. Die haben alle Hände voll zu tun, die Wetterverhältnisse sind widrig, die Zeugenaussagen widersprüchlich, das Tatwerkzeug verschwunden. Dennoch ist der Fall relativ klar: Antti Mielonen hat Rami Nieminen von hinten erstochen, die Polizei kann Mielonen später voller Blut im Wald festnehmen. Ein Geständnis gibt es nicht, Mielonen behauptet, sich an nichts erinnern zu können. Dennoch ein vermeintlich schnell gelöster Fall, den Jari in den sicheren Händen der Kollegen weiß. Doch als Jari Namen von Opfer und Täter erfährt, fällt er aus allen Wolken. Der Tatverdächtige Antti Mielonen war zu Schulzeiten Jaris bester Freund – und wegen eines Vorfalls vor 27 Jahren steckt Jari noch tief in dessen Schuld.

Und auch das Opfer ist Jari bekannt: Rami Nieminen war schon in der Grundschule ein Tunichtgut und Schläger, er war Jaris und Anttis Erzfeind. Und auch später hatte Nieminen eine kriminelle Karriere eingeschlagen, saß wegen Todschlags bereits in Haft. Jari verschweigt das alles seinen Kollegen. Er versucht heimlich zu Antti Kontakt aufzunehmen, doch dieser lässt ihn abblitzen. Nun ist Jari allein mit seinen Erinnerungen und er ringt mit sich, wie weit er gehen will, um die alte Schuld beim alten Freund zu begleichen. Doch sein Kollege Henrik Oksman ahnt etwas und wird langsam misstrauisch.

Autor Arttu Tuominen erzählt in zwei zeitlichen Ebenen und in mehreren Perspektiven. In der Jetztzeit sind es im Wesentlichen Jari Paloviita und Henrik Oksman. Jari ist ein Mann in der Midlife Crisis, verheiratet, zwei Kinder, aber unglücklich. Lebt auf zu großem Fuß, den Job als Kripochef könnte er gut gebrauchen. Henrik hingegen ein Einzelgängerund Pedant, im Zwischenmenschlichen verkrampft, mit schwierigem Verhältnis zu seinem Vater. Dieses Motiv tritt dann vor allem in der Zeitebene von 1991 zutage: Hier verfolgt der Autor die drei Kinder Jari, Antti und Rami, die beiden letzteren leiden unter ihren gewalttätigen Vätern. Rami kompensiert das, in dem er seine Mitschüler terrorisiert. Die Rivalität zwischen ihm und Jari steigert sich ins Unermessliche, als beide sich in dasselbe Mädchen verlieben. Eine Geschichte, die sich immer weiter in der Dramatik steigert und bis in die Gegenwart ausstrahlt.

Tapani greift fester zu, und Sirpa jault auf. Jari weiß nicht, was er tun soll. Die eine Hälfte seiner Gehirnzellen befiehlt ihm davonzulaufen und Hilfe zu holen, die andere, sich nicht von der Stelle zu rühren. Die Worte seines Vaters hallen in ihm wider, dass es nicht schicklich sei, sich in die Angelegenheiten anderer Familien einzumischen, aber vielleicht hat er andere Sitautionen gemeint. (Auszug E-Book Pos. 3211)

Ein interessanter Krimi aus Finnland, bei dem nicht die Mordermittlung im Vordergrund steht, sondern die Beziehung zwischen Täter und Kommissar. Eine spannende Coming-of-Age-Geschichte bildet sich Rückgrat für einen Mordfall 27 Jahre später. Der Leser wird zwangsläufig mit hineingezogen und man ringt mit dem Kommissar, ob er für den alten Freund alles aufs Spiel setzen soll. „Was wir verschweigen“ gewann 2020 den finnischen Krimipreis und trotz Unkenntnis der anderen nominierten Werke bin ich geneigt zu sagen, nicht zu Unrecht. Kleinere Schwächen mal ausgelassen, ist der Roman ein wirklich lesenswerter und gut arrangierter Krimi über häusliche Gewalt, das Erwachsenwerden und den Wert von Freundschaft.

Was wir verschweigen | Erschienen am 26.11.2021 im Lübbe Verlag
ISBN 978-3-7875-2761-4
415 Seiten | 16,- €
als E-Book: ISBN 978-3-7517-1003-9 | 12,99 €
Originaltitel: Verivelka (Übersetzung aus dem Finnischen von Anke Michler-Janhunen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Jahreshighlights 2021 | Gunnar

Jahreshighlights 2021 | Gunnar

Die Pandemie hatte uns in diesem Jahr immer noch im Griff, aber auf den Kriminalroman hatte das bislang noch keine große Auswirkung. Die meisten Autoren haben Corona noch nicht in ihre Texte eingebaut, mir ist dies lediglich in einem Roman aufgefallen, doch dazu später. Ich hatte mich in diesem Jahr nochmal speziell den Klassikern verschrieben, habe versucht in jedem Monat eine Rezension zu einem Klassiker zu schreiben und habe es nicht bereut: Michael Connelly, Ian Rankin, Graham Greene, Sjöwall/Wahlöö habe ich unter anderem mit Freuden gelesen. Was ist mir sonst aufgefallen? Meine Begeisterung für den schottischen Kriminalroman ist ungebrochen, acht Romane aus dem Norden Großbritanniens habe ich in dieses Jahr gelesen. Außerdem scheinen historische Krimis in diesem Jahr weiterhin hoch im Kurs zu sein, allerdings zunehmend auch abseits der von Volker Kutscher und Konsorten ausgetretenen Pfade.

Insgesamt habe ich rund 80 Bücher in diesem Jahr gelesen, davon etwa 85 % Krimis. Hiervon habe ich nun meine fünf Favoriten des Jahres ausgewählt (dabei zählten nur Neuerscheinungen) und diesmal auch eine Rangliste versucht. Mit einem Klick auf den Titel gelangt ihr außerdem zur ausführlichen Rezension.

Nr.5 Tana French | Der Sucher
Die Meisterin des subtilen Plots hat für ihren aktuellen Roman eine klassische Konstellation gewählt: Cal Hooper, ein Ex-Cop aus Chicago, lässt sich in einem kleinen irischen Dorf nieder. Scheinbar wird er gut von den Dörflern aufgenommen, doch als er sich auf die Spuren des verschwundenen 19jährigen Brendan macht, bekommt er auch die Schattenseiten des Dorfes zu spüren. Fast etwas spannungsarm, aber herausragend in Beschreibung der Dorfgemeinschaft, Natur und Landschaft. Ein Kriminalroman der leisen Töne, die um so stärker nachhallen.

Nr.4 Johannes Groschupf | Berlin Heat
Johannes Groschupf war tatsächlich der einzige Autor der von mir gelesenen Bücher, der Corona (in seinem Fall eine Post-Corona-Situation) thematisiert. Ansonsten ist „Berlin Heat“ ein überraschender und temporeicher Thriller mit dem liebenswerten Loser Tom Lohoff, der verzweifelt Geld aufzutreiben versucht, um Schulden bei einer albanischen Unterweltgröße zu bezahlen, und dabei in eine False-Flag-Aktion der AfD hineinplatzt. Coole Figuren, ein Ritt durch die Kieze der Hauptstadt, gesellschaftlich-politische Themen, „Summer-in-the-City“-Atmosphäre – für mich der beste deutschsprachige Thriller des Jahres.

Nr.3 Garry Disher | Barrier Highway
Was wäre eine Jahresbestenliste ohne Garry Disher? Der Australier hatte sogar wieder zwei starke Romane am Start, mit dem Wyatt-Krimi „Moder“ gewann er sogar den deutschen Krimipreis. Ich fand allerdings den dritten Band um den Outback-Polizisten Paul Hirschhausen noch etwas stärker. Ähnlich wie Tana French baut Disher den Krimi ganz behutsam auf, spinnt ein feines Netz und erzählt von den Menschen in der australischen Provinz. En passant kommen dabei diverse kleine und große Kriminalitätsstränge in den Plot, den Disher wie immer meisterhaft beherrscht.

Nr.2 Liam McIlvanney | Ein frommer Mörder
McIlvanney ist ein großer Name in der schottischen Kriminalliteratur: Liam ist der Sohn des großen William und tritt mit diesem Roman (ausgezeichnet als bester schottischer Krimi 2019) endgültig aus des Vaters Fußstapfen. Er bedient sich für seinen historischen Krimi Motive eines wahren Falls von Ende der 1960er. Hier sucht Detective McCormack den religiösen Serienmörder „Der Quäker“ und neben dem spannenden Krimiplot zeigt sich die Güte des Romans vor allem in der Beschreibung der Stadt Glasgow und ihrer Bewohner im gesellschaftlichen Umbruch.

Nr.1 Doug Johnstone | Der Bruch
Wir bleiben in Schottland, wechseln aber ins ach so pittoreske Edinburgh der Jetztzeit. Der 17jährige Tyler wohnt in einem heruntergekommenen Hochhaus im Problemstadtteil Niddrie. Die Familie ist dysfunktional, seine Mutter ein Alkoholwrack, sein älterer Bruder Barry zwingt ihn, an Einbrüchen teilzunehmen, er selbst kümmert sich hingebungsvoll um seine achtjährige Schwester Bean. Bei einem Einbruch in das Haus einer Gangstergröße läuft aber einiges schief und von nun an stehen Barry und Tyler auf der Abschussliste. Just in diesem Moment lernt Tyler die gleichaltrige Flick kennen, ein Mädchen aus gutem Hause, aber eine Seelenverwandte mit ebenfalls problematischen Familienverhältnissen. Der Autor führt den Leser zu den Schattenseiten des schönen Edinburgh, ein sozialkritischer Roman mit starken Figuren und einem mitreißenden Plot. Ein Noir mit einem Funken Hoffnung und eine tolle Coming-of-Age-Story. „Der Bruch“ ist für mich der Krimi des Jahres!

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2021

Abgehakt | Kurzrezensionen Dezember 2021

Unsere Kurzrezensionen zum Ende Dezember 2021

 

Agatha Christie | Das Geheimnis des Weihnachtspuddings – Geschichten zum Fest

Auf der Suche nach etwas Besinnlichem griff ich zu dem in Rot und Lebkuchenfarben gestaltetem Büchlein mit Kurzgeschichten zum Fest von Agatha Christie. Diese spielen zumindest alle in der Weihnachtszeit und in den ersten beiden dürfen natürlich ihre legendären Protagonisten, der Meisterdetektiv Hercule Poirot und die gewiefte Hobby-Ermittlerin Jane Marple nicht fehlen. Die titelgebende Geschichte „Das Geheimnis des Weihnachtspuddings“ ist eine ganz klassische Detektivstory um einen verschwundenen Edelstein und ein orientalischer Thronfolger in Nöten. Diese nimmt den Hauptteil des Buches ein und versprüht noch am meisten weihnachtliches Flair. Wir erleben traditionelle, britische Feiertage auf dem Land bei einer gutsituierten Familie mit Dienstpersonal. Der belgische Gentleman ist genau der richtige für diesen delikaten Fall, den er natürlich durch den Einsatz seiner grauen Zellen, clevere Beobachtungen und gerissenes Fallenstellen mit diplomatischem Geschick zu lösen weiß.

Sollte es ihm merkwürdig vorkommen, dass die meisten Hausbewohner draußen gewesen waren und Poirot in Schlafanzug und Mantel antanzte, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. (Auszug Seite 84)

In „Eine Weihnachtstragödie“ erzählt Miss Marple eine tragische Geschichte, die sie selbst erlebt hat und in der sie einen Mord zwar mit ihrem unerreichten Spürsinn erahnt, aber nicht verhindern kann. Komplettiert wird das durch eine weitere Kurzgeschichte und ein Märchen mit einem Esel als Hauptfigur zuzüglich eigenen Weihnachtserinnerungen, bei der die Queen of Crime mal ihre besinnliche Seite offenbart. Insgesamt sind das ganz nette Geschichten für einen Nachmittag, die mich zum Schmunzeln brachten und immerhin mal wieder richtig Lust auf Agatha Christie gemacht haben. Der feine Humor gepaart mit gepflegter Sprache, die britische Lebensart mit viel Nostalgie war genau das, was ich grade benötigte.

 

Das Geheimnis des Weihnachtspuddings | Erschienen am 04.10.2018 im Atlantik Verlag
ISBN 978-3-4550-0469-4
176 Seiten | 12,00 Euro
Zusammenstellung von Daniel Kampa (Übersetzung aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann, Michael Mundhenk und Lia Franken)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,0 von 5,0
Genre: Krimi

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

 

Max Annas | Der Hochsitz

Ein Dorf in der Eifel, unweit der luxemburgischen Grenze. Es sind Osterferien im Jahr 1978. Die beiden 11jährigen Mädchen Sanne und Ulrike durchstreifen aufmerksam die Gegend, ihr Lieblingsplatz ist ein Hochsitz am Waldrand. Und es passieren einige Dinge in diesen Tagen: Im Nachbarort wird eine Bank überfallen, die Grenzbeamten bereiten sich auf eine Aktion gegen Grenzschmuggler vor, ein Fremder klappert in einem Cadillac Bauernhöfe in der Gegend ab und macht unmoralische Kaufangebote und zwei fremde Frauen fahren durchs Grenzgebiet und wollen unerkannt bleiben. Dann geschieht ein Mord, nachts mitten auf der Dorfstraße – und Sanne und Ulrike haben ihn als einzige gesehen. Doch auf sie hört natürlich niemand, sodass die beiden selber auf Spurensuche gehen.

Nach seinen beiden letzten Romanen über Mordermittlungen in der DDR, bleibt Max Annas mit seinem neuen Roman „Der Hochsitz“ in der Vergangenheit. Diesmal aber in der BRD, im Jahr 1978 ist die Angst vor dem Terrorismus der RAF auch in der Eifel hochpräsent. Doch dass zwei Zwölfjährige das Fahndungsplakat aus der Post geklaut haben, ahnt niemand. Überhaupt gibt es so einige Dinge, die an der Polizei vorbei laufen. Max Annas entwirft mit verschiedenen Perspektiven und schnellen Wechseln ein eher tristes Panorama eines Landstrichs, der von Ängsten geprägt scheint: Angst vor Terroristen, vor Fremden, vor Existenzverlust, vor der Zukunft allgemein. Ein Leben im bundesdeutschen Mief der 1970er, bis sich auf einmal die Ereignisse überschlagen. Dabei wird der Plot in einzelne Stränge zerteilt, die sich ab und an treffen, aber oft auch etwas im Ungefähren bleiben. Dennoch eine anregende Lektüre, bei der vor allem das Setting überzeugt.

 

Der Hochsitz | Erschienen am 20.07.2021 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-00208-4
272 Seiten | 22,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5,0
Genre: Krimi

 

Stuart MacBride | Der Garten des Sargmachers (Band 3)

Ex-Polizist Ash Henderson und die Psychologin Dr. Alice McDonald sind Mitglieder einer externen Expertengruppe, die von der schottischen Polizei in speziellen Fällen aktiviert wird. Eigentlich sind sie gerade auf der Jagd nach einem Kindermörder, als sie kurzzeitig abkommandiert werden. In einer kleinen Siedlung an einer Steilküste sind in einem Sturm ein Teil der Klippen abgestürzt. Auch das verlassene Haus eines gewissen Gordon Smith befindet sich nun kurz vor dem Absturz, als man bemerkt, dass in seinem Garten offenbar zahlreiche Leichen vergraben wurden. Henderson kann zwar noch mal kurz ins Haus und einige Fotos sichern, doch die Bergung der Leichen ist unmöglich. Doch die Fotos genügen, um Hendersons Verdacht zu erhärten: Smith ist ein brutaler Serienmörder und er wird weitermorden. Was dem Fall besondere Brisanz verleiht: Offenbar war eine junge Frau, noch minderjährig, aus der Nachbarschaft schon seit Kindertagen mit Smith bekannt und befindet sich in seiner Gewalt.

Wenn man mal im Nachhinein ganz nüchtern an diesen Thriller herangeht, muss man schon gestehen, dass das Ganze ein teilweise abstruser Plot mit gleich zwei Serienmördern ist, was zumindest meine Lesegewohnheiten nicht mehr so richtig trifft. Das Gute daran ist allerdings, dass – anders als so manche (auch deutsche) Autorenkollegen – Stuart MacBride die ganze Nummer nicht so verkrampft und bierernst nimmt. Er schreibt, um zu unterhalten und täuscht keine Bedeutungsschwere vor. Das drückt sich vor allem in seiner skurrilen Figurenschar und im typisch schwarzen schottischen Humor aus. Insofern ist „Der Garten des Sargmachers“ ordentliche Thrillerunterhaltung, allerdings ohne zu brillieren und vielleicht auch einen Tick zu lang.

 

Der Garten des Sargmachers | Erschienen am 18.10.2021 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-49233-6
636 Seiten | 11,- €
Originaltitel: The Coffin Maker’s Garden (Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Jäger)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,0 von 5,0
Genre: Thriller

 

 

 

John le Carré | Silverview

In London übergibt eine junge Frau einen Brief ihrer an Krebs erkrankten Mutter Deborah Avon an einen Mr. Proctor, offensichtlich ein Mann vom Geheimdienst. Gleichzeitig erhält der junge Buchhändler Julian Lawndsley, der aus der Londoner City in ein kleines Kaff an der Küste von East Anglia gezogen ist, in seinem Laden Besuch von einem seltsamen Mann, Edward Avon. Dieser stellt sich als ehemaliger Studienfreund von Julians verstorbenem Vater vor und ermutert ihn, das bisher leerstehende Kellergeschoss seiner Buchhandlung zum Aufbau einer intellektuellen, philosophischen Bibliothek aufzubauen. Avon selbst hilft mit und nutzt Julians Computer zur weiteren Recherche. Währenddessen hat Stephen Proctor die Witterung aufgenommen, denn es gibt offenbar einen Maulwurf – und die Spuren führen nach „Silverview“, dem Landsitz der Avons.

Vor knapp einem Jahr starb der große Meister des Spionageromans John le Carré und hinterließ ein fast fertiges Manuskript, dass sein Sohn Nicholas Cornwell, selbst Autor unter dem Pseudonym Nick Harkaway, behutsam fertigstellte. Die Story breitet sich sehr langsam und behutsam aus – eine schwierige Ehe, beide Eheleute im Geheimdienst tätig, sie allerdings die erfolgreichere und nun offenbar ein Geheimnisverrat. Alternde Spione mit ihren letzten Winkelzügen und dazwischen die neue Generation, die das Ganze etwas kopfschüttelnd betrachtet. Le Carré packt nochmal die bekannten Themen aus: Lüge, Verrat, Liebe und Loyalität. Und natürlich die Desillusionierung der Geheimdienstarbeit. Le Carré war immer der Mann fürs Intellektuelle anstatt für Geheimdienstaction, so wird „Silverview“ auch zurecht als Roman und nicht als Thriller vermarktet. Denn für mich plätscherte es zum Teil schon etwas vor sich hin. Insgesamt aber dennoch ein solides Werk, dem man das Können le Carrés auch in den schwächeren Momenten anmerkt.

 

Silverview | Erschienen am 18.10.2021 im Ullstein Verlag
ISBN 978-3-55020-206-3
300 Seiten | 14,80 €
Als E-Book: ISBN 978-3-84372-635-1 | 19,99 €
Originaltitel: Silverview (Übersetzung aus dem Englischen von Peter Torberg)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,0 von 5,0
Genre: Spionageroman

Fotos und Rezensionen 2-4 von Gunnar Wolters.

Mavis Doriel Hay | Geheimnis in Rot

Mavis Doriel Hay | Geheimnis in Rot

Kurz vor Weihnachten wollen wir es etwas besinnlich halten und begeben uns auf eine Reise in ländliche, weihnachtliche England der 1930er Jahre. Wobei so ganz beschaulich geht es dann doch nicht, immerhin geschieht ein Mord am 1.Weihnachtstage auf Flexmere, dem Landsitz der Melburys.

Sir Osmond Melbury ist ein strenger Familienpatriarch, der zum tradionellen Weihnachtsfest die Familie um sich versammelt. Die Melburys haben durch eine erfolgreiche Keksfabrik Ansehen und Reichtum angehäuft. Sir Osmond hat einen Sohn und vier Töchter, bis auf die jüngste Tochter Jennifer alle bereits verheiratet und außer Haus. Die Ehefrau ist bereits verstorben. Das Haus führte zwischenzeitlich Sir Osmonds Schwester Mildred, inzwischen jedoch die Privatsekretärin Grace Portisham – zum Missfallen einiger Familienmitglieder. Ebenfalls zum Weihnachtsfest anwesend sind die Ehegatten der Kinder George, Edith und Eleanor und deren kleine Kinder. Die älteste Tochter Hilda ist bereits verwitwet, ihre Tochter Carol bereits volljährig. Die jüngste Tochter Jennifer ist mit Philip Cheriton verlobt, der allerdings von Sir Osmond nicht gern gesehen wird. Stattdessen versucht er Jennifer mit Oliver Witcombe zu verkuppeln, allerdings mit mäßigem Erfolg. Dennoch ist Witcombe eingeladen und darf sogar den Weihnachtsmann spielen. Zudem ist natürlich noch das Dienstpersonal auf Flexmere während der Weihnachtstage.

Es gibt zahlreiche offen und nicht offen ausgetragene Streitigkeiten. So hat es Sir Osmond es seiner ältesten Tochter Hilda scheinbar nie verziehen, dass sie früh und nicht standesgemäß geheiratet hat, seine Schwester Mildred hat er irgendwann auf dem Haus komplimentiert und auch seinen langjährigen Chauffeur hat Sir Osmond vor Kurzem entlassen. Über allem schwebt jedoch auch die Frage nach Sir Osmonds Testament. Im Sommer hatte er einen kleinen Schlaganfall, sodass die Wahrscheinlichkeit eines Erbes in greifbare Nähe rückt. Zuletzt gab es allerdings Gerüchte, dass Sir Osmond vorhatte, sein Testament zu ändern. Hat er dies bereits erledigt? Wer würde davon profitieren und wer nicht? Das Fest verläuft zunächst ganz so wie vom Hausherrn geplant, nach der Bescherung zieht er sich am Nachmittag in sein Arbeitszimmer zurück. Als Oliver Witcombe später ins Arbeitszimmer zurückkommt, findet er Sir Osmond erschossen mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch liegend vor.

Sie waren also alle da, fast alle mit einem guten Grund, Sir Osmond den Tod zu wünschen, wie wir später auf so unerfreuliche Weise feststellen mussten, und nur wenige mit einem Grund, ihm ein langes Leben zu wünschen. (Auszug S.22)

Ein klassisches Landhauskrimi-Setting mit zahlreichen Verdächtigen und dem bedächtigen Charme englischer Polizeiermittlungen. Diese übernimmt Colonel Halstock, ein Freund der Familie, der aber sorgfältig alle Indizien abklappert und keinen Anwesenden frühzeitig von der Täterschaft ausschließt. Aus Halstocks Ich-Perspektive sind auch die meisten Kapitel geschrieben. Eine besondere Note bringt die Autorin Mavis Doriel Hay hinein, indem sie einige Kapitel zu Beginn und am Ende aus der Sicht einiger Anwesenden schildern lässt. Dadurch werden die Ressentiments und Eifersüchteleien nochmal deutlicher.

„Geheimnis in Rot“ ist ingesamt ein cosy Krimi, der aber stimmungsmäßig gut in die Weihnachts- und Adventszeit passt. Ein typischer Rätselkrimi, der dem Leser es durchaus erlaubt, ebenfalls auf Mördersuche zu gehen. Mein früher Verdacht hat sich tatsächlich bestätigt, zum Schluss hin geht die Autorin auch zu offensichtlich in diese Richtung, da hätte mir eine klassische Konfrontation mit allen Beteiligten vielleicht noch besser gefallen. Nichtsdestotrotz ein solider Weihnachtskrimi mit dem Charme vergangener Zeiten.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Geheimnis in rot | Erstmals erschienen 1936
Erschienen als Taschenbuch am 14.09.2019 im Klett-Cotta Verlag
ISBN 978-3-608-98506-1
301 Seiten | 14,95 €
Originaltitel: The Santa Klaus Murder (Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Heller)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Andreas Pflüger | Ritchie Girl

Andreas Pflüger | Ritchie Girl

„Kannst du das? Zurückkehren?“
„Wohin?“ fragte sie. „Nach Deutschland? Das hier ist nicht Deutschland, das ist Pommerland.“
Als könnt ich dereinst wiederkehr’n, weil ich all dies verstand.
„Wäre gar nichts eine Heimkehr wert?“
„Doch“, sagte sie. „Dass einer bettelt: ‚Gott, vergib mir‘.“ (Auszug S.146)

Paula Bloom lebte bis 1937 in Deutschland. Ihr Vater war US-Amerikaner, einflussreicher Repräsentant zahlreicher US-Firmen in Nazideutschland. Ein Leben im luxuriösen Käfig, hofiert von den Größen des Regimes. Doch die bedrohlichen Anzeichen blieben der noch minderjährigen Paula nicht verborgen. Die Denunziation ihrer jüdischen Freundin Judith und den Tod des Vaters durch betrunkene SA-Schläger konnte sie nicht verhindern. Anschließend reiste Paula dann in die Heimat ihres verstorbenen amerikanischen Vaters aus. Kurz vor Kriegsende kehrt sie als Offizierin des Army-Geheimdienstes CIC und Dolmetscherin zurück nach Europa, zunächst nach Italien. Dort wird sie verwundet, schließlich gelangt sie 1946 ins Camp King in der Nähe von Frankfurt. Dort werden Nazis, Wissenschaftler, Kriegsverbrecher vernommen. Der aufkommende kalte Krieg lässt die Amerikaner zu Pragmatikern werden. Wer ist untragbar, aber vor allem: Wem kann man einen Persilschein ausstellen und für die anstehende Konfrontation mit den Kommunisten noch gut gebrauchen?

Paula wird auf Johann Kupfer angesetzt. Ein österreichischer Jude, der aber offenbar in Budapest für die deutsche Abwehr gearbeitet hat. Kupfer behauptet „Sieben“ zu sein, ein auch bei den Allierten legendärer deutscher Agent, der immer wieder geheimste Informationen über die Rote Armee oder aus dem Kreml durchgab. Wäre Kupfer der echte „Sieben“, wäre sein Netzwerk unbezahlbar im Kalten Krieg. Doch der Amerikaner sind skeptisch, denn im Camp King läuft auch Reinhard Gehlen umher. Der spätere Geheimdienstchef des BND-Vorläufers steht schon hoch im Kurs und hält Kupfer für einen Hochstapler (aus Eigennutz?). Paula gewinnt Kupfers Vertrauen und lässt ihn seine Geschichte erzählen. Doch stimmt sie auch? Paulas Problem wird größer, weil sie hofft, dass Kupfer ihr auch bei einer eigenen Sache weiterhelfen kann.

In Camp King trifft Paula ihren alten Freund Sam aus den Tagen der Ausbildung im Camp Ritchie. Sam ist ganz offensichtlich in Paula verliebt, doch sie will dies nicht zulassen. Denn sie hat damals jemanden in Berlin zurückgelassen: Ihre Beziehung zu Georg Melzer ist kurz vor Ihrer Abreise zerbrochen, doch nun ist sie auf der Suche nach ihm – in der Hoffnung, in ihm einen der Gerechten zu finden, die sich nicht gemein gemacht haben mit den Verbrechern, jemanden, der Reue zeigt und Deutschlands Schuld anerkennt – von denen es aber scheinbar niemanden gibt. „Ritchie Girl“ bezieht sich übrigens auf das Camp Ritchie in Maryland, in dem Deutsch-Amerikaner und Exil-Deutsche von der US Army gezielt auf Aktionen gegen die Nazis vorbereitet und eingespannt wurden – wie auch Paula.

Andreas Pflüger hat zuletzt mit der Jenny Aaron-Trilogie um eine blinde Superpolizistin neue Maßstäbe im deutschen Thriller gesetzt. Nun legt er mit „Ritchie Girl“ einen historischen Roman aus der unmittelbaren Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs vor. Während in Nürnberg die Hauptprozesse gegen die Nazi-Elite zu Ende gehen und später die Hinrichtungen vorbereitet werden, wird die zweite und dritte Garde der Nazis schon wieder taxiert, ob sie nicht brauchbar wären im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Das alles ist für Paula Bloom schwer ertragbar, sie glaubt an Recht, Gerechtigkeit, an Strafe und Sühne und muss doch schnell erkennen, dass es damit nicht weit her ist. Die Deutschen wiegeln scheinbar alle ab. Die Verbrechen – das waren die anderen. Und die Amis waten durch den Sumpf der Lügen und des Opportunismus und picken sich das Beste heraus, denn „Moral ist gerade im Ausverkauf und so billig, dass sie nichts mehr hermacht“ (S.442).

Der Autor vermittelt eine enorme Fülle an Fakten, was den Leser enorm fordert. Wer hier nicht alles auftaucht, zumindest in einer kleinen nebensächlichen Anekdote. Das geht auch ein wenig zu Lasten der Hauptfigur Paula Bloom, die gefühlt mit fast jeder bekannten Person (Dix, Klee, Schacht, Speer, Heym, Klaus Mann, Allen Dulles (der übrigens im Vergleich mit Adolf Eichmann nur knapp besser wegkommt), Graham Greene, Richard von Weizsäcker, Marlene Dietrich u.v.m.) der damaligen Zeit Kontakt hatte. Dadurch ist ihre Vita ziemlich artifiziell. Mir bleibt sie dadurch das ganze Buch über etwas fremd.

Das fällt aber nur wenig ins Gewicht, denn der Roman beeindruckt auf vielfältige Weise. Pflüger hat einen kraftvollen Roman über Schuld und Sühne, über Lügen und Verrat, aber auch über Liebe und Freundschaft geschrieben. Die bestechenden Dialoge und wahrlich viele philosopische oder poetische Passagen. Pflüger erweist sich als extrem sprachgewaltig, beispielhaft die eindrucksvollen Schilderungen der zerstörten Städte wie „Keine Form passte mehr auf die andere, alle Geraden waren gekappt, nur noch zerstörte Geometrie.“ (S.32) oder „Der Tiergarten eine Einöde in den Appalachen. […] Leichen auf der Spree, als wäre es der Styx, Berlin war ein verendetes, ausgeweidetes Tier, das nach Seuche und Zerfall stank“ (S.94).

Andreas Pflüger hat sich wahrlich viel vorgenommen, aber kann auch vieles einlösen. Er greift die Verflechtigungen der Amerikaner in die deutsche Rüstungs- und Vernichtungsindustrie (Standard Oil, IBM) und den Nachkriegsopportunismus der USA genauso auf wie die fehlende Einsicht der Deutschen, die Lügen, Ausreden und Ausflüchte, die Kontinuität der Nachkriegsjahre, in denen Nazis wieder Schaltstellen in Deutschland besetzen. Dabei beeindrucken vor allem die Gespräche Paulas mit Kupfer und dabei ragen insbesondere Kupfers Schilderungen von Adolf Eichmann in Budapest heraus, die keinen Leser kalt lassen dürften und das Bild des Bürohengsts Eichmann eindrucksvoll zerstören. „Ritchie Girl“ ist eine starke Mischung aus Fakten und Fiktion, dabei eine fordende Lektüre, deren Bandbreite ich hier längst nicht annähernd wiedergeben konnte. Ein Roman, der von Zynismus, Profitgier und Niedertracht erzählt, und dabei nur ganz sporadisch, aber immerhin, ein paar Hoffnungsschimmer verbreitet.

„Wenn jedoch keine Strafe groß genug wäre und es nichts gäbe, das Genugtuung brächte: kein Galgen, kein Verlust, keine Not, keine Erniedrigung, keine bitteren Tränen und keine falschen, dann war es vielleicht an der Zeit, nicht mehr zu hassen.“ (Auszug S.301)

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Ritchie Girl | Erschienen am 11.09.2021 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-43027-9
464 Seiten | 24,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Besprechungen der Jenny Aaron-Trilogie von Andreas Pflüger