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Kate Atkinson | Nacht über Soho

Kate Atkinson | Nacht über Soho

Nellie war müde. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erschöpfte sie der unbarmherzige Tatendrang, der notwendig war, um ihre Leben voranzutreiben. Der anker des Amethyst, das Gewicht ihres gesamten Imperiums, zog sie nach unten. (Auszug E-Book Pos. 650).

Frühjahr 1926: Nach einer kurzen Haftstrafe wegen Verstöße gegen Schankbestimmungen wird Nachtclubkönigin Nellie Coker aus der Haft entlassen. Unter einem großen Menschenauflauf kehrt sie standesgemäß in ihr Reich aus mehreren Clubs zurück. In den Jahren des ersten Weltkriegs fiel ihr Hehlerware bestehend aus kostbarem Schmuck in die Hände, welche sie geschickt eingesetzt hat und nach und nach zur Besitzerin erfolgreicher Nachtlokale wurde. Sie bewegt sich allerdings natürlich immer noch im Dunstkreis der kriminellen Gangs von London. Ihre fünf Clubs namens Pixie, Foxhole, Sphinx, Crystal Cup und Amethyst zählen zu den angesagtesten Locations des Londoner Nachtlebens. Mitglieder der Königsfamilie, Stars und solche, die werden wollen und die sonstige High Society tummeln sich dort. Doch die Clubs sind auch im Visier von anderen: Von Rivalen, die sich das Imperium gerne unter den Nagel reißen würden oder alte Rechnungen beglichen haben wollen. Und von der Polizei, konkret von John Frobisher. Ihm missfällt das halblegale Reich, dass sich Nellie Coker aufgebaut hat. Vor allem aber glaubt er, dass die Königin von Soho irgendetwas mit den zahlreichen Mädchen zu tun hat, die in der Londoner Nacht verschwinden und von denen einige ertrunken aus der Themse gezogen werden.

Frobisher möchte hierzu undercover die ehemalige Krankenschwester und Bibliothekarin Gwendolen Kelling bei den Cokers einschleusen. Gwendolen hat sich dazu bereit erklärt, weil sie tatsächlich nach zwei Mädchen aus ihrer Heimat York sucht. Freda und Florence sind ausgerissen und nach London gefahren, um hier – wie so viele minderjährige Mädchen – im Glück als als Tänzerinnen zu versuchen. Doch von den beiden fehlt jede Spur (der Leser begleitet die beiden allerdings durch den Moloch London) und so will Gwendolen Frobisher helfen. Das Vorhaben scheint zu funktionieren, denn als es in einem Club zu einem Schusswechsel kommt, kann sich Gwendolen als Ersthelferin profilieren und erhält ein Jobangebot von Nellie Coker. Doch wie entwickelt sich ihr Verhältnis zu Nellies ältestem Sohn Niven, der Gwendolen einige Tage zuvor zufällig behilflich war, als sie von Diebinnen ausgeraubt wurde?

„Sagen Sie, Miss Kelling, was bedeuten sie Ihnen? Diese Mädchen.“
„Es sind Mädchen, die vermisst werden, Miss Shelbourne, das bedeuten sie mir.“
„Ich würde es in den Nachtclubs versuchen, wenn ich Sie wäre. Mädchen wie Freda sind Frischfleisch für die Nellie Cokers dieser Welt. Sie verschlingen sie. […]“ (Auszug E-Book Pos. 2069).

Und so spannt Kate Atkinson ein faszinierendes Panoptikum über London in den Goldenen Zwanzigern. Dabei schöpft sie aus einem üppigen Figurenpersonal. Neben Nellie Coker, Inspektor Frobisher, Gwendolen Kelling und Freda sind dies vor allem Nellies fünf erwachsene Kinder Niven, Ellen, Betty, Shirley und Ramsey. Sie sind alle in den Familienbetrieb involviert, allerdings in unterschiedlicher Tiefe und mit unterschiedlichem Engagement. Über einen allwissenden Erzähler, mit multiperspektiver Erzählweise und teilweise zeitlichen Rückblicken wird ein enger Einblick auch in das Private der Figuren gewährt.

Die Britin Kate Atkinson ist seit nunmehr dreißig Jahren erfolgreiche Autorin, die ihre Romane, wenn nicht direkt dem Krimigenre zugerechnet (etwa ihre Jackson Brodie-Reihe), oft am Rande des Genres ansiedelt. So ist auch „Nacht über Soho“ kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern ein historischer Roman mit klaren Genrebezügen. Als deutscher Leser fällt als Bezugspunkt natürlich die Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher ein oder eher noch die Serienadaption „Babylon Berlin“. Anders als dort legt Atkinson allerdings keinen Schwerpunkt auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Stattdessen konzentriert sie sich beim Setting auf den konkreten historischen Moment. Inspiriert wurde sie, wie sie im Nachwort erwähnt, vom Leben von Kate Meyrick, die damals für viele Jahre Königin der Clubs von Soho war und der die Figur Nellie Coker nachempfunden ist.

„Nacht über Soho“ ist ein schillernder historischer Roman, der tief ins Nachtleben Londons der 1920er Jahre führt und eine vergnügenssüchtige Gesellschaft porträtiert, die der traumatischen Vergangenheit nur allzu gerne entfliehen will. Pulsierende Nachtclubs, Künstlerbohéme, das harte Leben auf Londons Straßen, rivalisierende Gangs, korrupte wie integre Polizisten. Dabei beeindruckt vor allem das üppige Personal, das Kate Atkinson gekonnt durch den Roman leitet, und bei dem eindeutig die Frauenfiguren die Handlung dominieren. Insgesamt ein spannender, mitreißender Roman, der die Roaring Twenties nochmal stilecht auferstehen lässt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Nacht über Soho | Erschienen am 13.05.2025 im Dumont Verlag
ISBN 987-3-9505744-0-1
560 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Shrines of Gaiety | Übersetzung aus dem Englischen von Anette Grube
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Angie Kim | Happiness Falls

Angie Kim | Happiness Falls

„Also ist Dad nie nach Hause gekommen. Eugene ist allein heimgekommen, unser Vater war den ganzen Tag weg und dir ist es nicht mal aufgefallen“, sagte John. (Auszug E-Book Position 354 von 7427)

Im Mittelpunkt dieses tragischen Familiendramas stehen die Parksons, eine 5-köpfige Akademikerfamilie mit südkoreanischen Wurzeln, die in einem Vorort von Washington lebt. Mutter Hannah ist koreanischer Abstammung und Professorin für Linguistik. Vater Adam hat seinen Beruf aufgegeben und kümmert sich seit einigen Jahren um Haushalt und Kinder. Das sind die 20-jährigen Zwillinge Mia und John, beide studierend, zurzeit wegen der Corona-Pandemie zu Hause. Intensive Betreuung benötigt der 14-Jährige Eugene. Er befindet sich im Autismus Spektrum und leidet zusätzlich an dem Angelmann Syndrom, das sich in einem ungewöhnlich fröhlichen Verhalten mit häufigen Lächeln und Lachen äußert. Seine Motorik ist dadurch eingeschränkt und er kann nicht sprechen.

Eines Tages kehrt Eugene allein und ungewöhnlich aufgewühlt und mit Blut unter den Fingernägeln von seinem täglichen Spaziergang im naheliegendem River Falls Park mit seinem Vater zurück. Vorher war er verstört auf die Straße gestolpert und hatte einen Autounfall verursacht. Während Adam selbst spurlos verschwunden bleibt, kann Eugene aufgrund der speziellen Art seiner Behinderung nicht erklären, was passiert ist.

Heute, wo ich weiß, was sie gerade entdeckt hatte und vor uns verheimlichte, habe ich den Verdacht, dass sie genau das bezweckt hatte – den guten Cop zu spielen, sich unser Vertrauen zu sichern -, aber damals dachte ich, dass sie einfach nur nett sein wollte. (Auszug E-Book Pos. 611 von 7427)

Vom Verschwinden ihres Vaters berichtet die blitzgescheite Mia rückblickend aus der Ichperspektive. Ihr Erzählstil ist analytisch und sehr ausschweifend. Davor warnt sie die Lesenden auch gleich zu Anfang. Das wird vielleicht nicht jedem Lesetyp zusagen, ich mochte diese ausführlichen Erläuterungen, denn Mias mäandernde Gedankengänge und Fußnoten sind intelligent, reflektiert und oft sehr witzig. Dabei bleibt der Spannungsbogen stets straff gespannt, denn wir erleben durch Mia nicht nur die folgenden Stunden und Tage auf der Suche nach Antworten, sondern kommen einer Reihe von schockierenden Geheimnissen auf die Spur, die Adam anscheinend vor seiner Familie verborgen hatte. Adams Tagebuch gibt Rätsel auf und ein im Park aufgenommenes Handyvideo lässt Schreckliches vermuten. Jede neu gewonnene Enthüllung überrascht und erhöht die Spannung. Je mehr ans Licht kommt, desto mehr gerät jedoch Eugene ins Zentrum der Ermittlungen. Zusätzlich zur Sorge um den vermissten Vater, versuchen die Parksons nun, Eugene vor den sich verschärfenden Verdächtigungen der Polizei zu beschützen, auch weil sie Angst haben, das Sorgerecht zu verlieren.

Mir ging auf, dass die Vorstellung tatsächlich auf eine zutiefst tragische Art irgendwie amüsant war, dass unser Vater ein geheimes Zweitleben hatte und damit durchkam, weil er sich darauf verlassen konnte, dass Eugene nicht sprach. (Auszug E-Book Pos. 2461 von 7427)

Neben dem Vermisstenfall geht es auch um Kommunikation, Sprache und unsere voreingenommene Wahrnehmung von Menschen mit einer Sprachbehinderung, bei denen oft einfach eine kognitive Beeinträchtigung vermutet wird. Da Eugene seine Gedanken nicht in Worte fassen kann, wird er als geistig zurückgeblieben wahrgenommen, sogar seine ihn liebende Familie behandelt ihn wie ein Kleinkind. Um ihn zu beruhigen, verbringt er viel Zeit damit, sich Zeichentrickfilme auf dem IPad anzusehen.

Doch Mia gelingt es, ihre Sicht zu überdenken, als sie sich an die Zeit erinnert, als die Familie mehrere Jahre in Süd-Korea gelebt hatte. John, der optisch nach seinem weißen Vater kommt, wurde auch schon für die bescheidensten Koreanisch-Kenntnisse überschwänglich gelobt, während seine Zwillingsschwester, die mehr ihrer koreanischen Mutter ähnelt, als dumm angesehen wurde, wenn sie Fehler im Koreanischen machte. Auch ihre Mutter Hannah wurde in ihrer Anfangszeit in den USA aufgrund ihrer sprachlichen Schwierigkeiten als geistig minderbemittelt angesehen.

Angie Kim behandelt in „Happiness Falls“ mit den Herausforderungen einer Mischlingsfamilie, elterlichen Geschlechterrollen, Rassismus-Erfahrungen in zwei Ländern, Eugenes Handicap und den Kontaktverbot während des Lockdowns 2020 sehr viele Themen. Auch die Glücksforschung nimmt Raum ein, da Adam sich von seiner Familie unbemerkt damit beschäftigt hatte. Die schriftlich in seinem Tagebuch dokumentierten Experimente an seiner eigenen Familie werden durch Studienergebnisse untermauert. Mias Zynismus steht dabei im Kontrast zum Optimismus ihres Zwillingsbruders John. Die Relativität von Glück zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Für mich ein mit interessanten psychologischen Beobachtungen gespickter, vielschichtiger und tiefgründiger Pageturner mit gut entwickelten Charakteren, den ich kaum aus der Hand legen konnte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Happiness Falls | erschienen am 15 April 2025 bei hanserblau
ISBN 978-3-4462-7965-0
Printausgabe: 544 Seiten | 24,00 Euro
Originaltitel: Happiness Falls | Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu Angie Kims Roman „Miracle Creek“

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Dolores Redondo | Wenn das Wasser steigt

Sie würde darauf eingehen, weil er ganz zauberhaft war, weil sie mit dem Bus gekommen war und weil alle einen Freund mit einem Auto haben wollen. Sie würde darauf eingehen, obwohl in den Zeitungen ständig von den vielen Frauen zu lesen war, die spurlos verschwanden, obwohl man ihnen mit Sicherheit tausendmal gesagt hatte, dass sie nicht zu Unbekannten ins Auto steigen sollte. (Auszug S. 15).

Der Serienmörder Bible John ist vielleicht der bekannteste Cold Case der schottischen Kriminalgeschichte. Von Februar 1968 bis Oktober 1969 erdrosselte der Täter drei junge Frauen, die er zuvor im Glasgower Tanzclub „Barrowland Ballroom“ kennengelernt hatte. Der Schwester eines Opfers, die ebenfalls im Tanzclub gewesen war und anschließend sogar noch mit ihm und ihrer Schwester ein Taxi teilte, hatte er sich als John vorgestellt und der Taxifahrer sagte aus, dass er sich im Gespräch mehrfach auf die Bibel bezogen habe. Somit wurde er als „Bible John“ bezeichnet. Zu ersten Mal in ihrer Geschichte veröffentlichte damals die schottische Polizei ein Fahndungsfoto. Doch obwohl es einige Zeugenschilderungen und das Phantombild gab, wurde trotz großer Anstrengungen und mehreren tausend Vernehmungen kein Täter ermittelt. Mehrfach wurde in den Jahrzehnten danach nochmal mit moderneren Methoden Anstrengungen unternommen, doch ohne Erfolg. Der Fall des Bible John hat mehrere Autoren zu einer fiktiven Auseinandersetzung inspiriert, etwa Ian Rankin in „Das Souvenir des Mörders“ oder zuletzt Liam McIlvanney in „Ein frommer Mörder“. Nun nimmt sich auch die spanische Autorin Dolores Redondo dieses ungeklärten Kriminalfalles an.

Im Glasgow des Jahres 1983 ist der Fall des Bible John natürlich immer noch präsent und der aufstrebende Inspector Noah Scott Sherrington versucht auf eigene Faust einige Verdächtige näher zu beleuchten. Noah ermittelt außerhalb der Dienstzeit und hört auchh nicht auf Warnungen seines Körpers. Er treibt sich in den Diskotheken rum und beschattet einige seltsame Gestalten. Unter anderem auch einen gewissen John Clyde, den er im Verdacht hat, auch mit weiteren Fällen verschwundener Frauen zu tun zu haben. Eines Abends kommt Noah das Auto von John Clyde zufällig mit hoher Geschwindigkeit an einem Bahnübergang entgegen. Instinktiv folgt Noah dem Wagen bis zum Haus des Verdächtigen an einem See. Im Kofferraum des Wagens findet er tatsächlich ein frische Frauenleiche. Als er im tosenden Gewitter den Verdächtigen festnehmen will, bricht Noah plötzlich zusammen. Er wacht im Krankenhaus wieder auf und erhält die Diagnose, dass er ein todkranker Mann ist, seine Form der Herzschwäche ist nicht wirklich heilbar, kann nur durch Medikamente etwas verzögert werden. Bible John ist allerdings über alle Berge.

Doch Noah will nicht aufgeben. Die Zeit, die ihm noch bleibt, will er nutzen, um Bible John aufzuspüren. Eine Spur führt ihn auf ein Schiff nach Bilbao, dass Bible John wohl zwei Wochen zuvor ebenfalls genutzt hat und sich möglicherweise die Identität des Reedereimitarbeiters John Murray verschafft hat. In Bilbao versucht John trotz seines schlechter werdenden Gesundheitszustands, diesen John Murray im Blick zu behalten. Ist er tatsächlich der Gesuchte? Noah will ganz sicher gehen und gerät doch immer mehr in Zweifel. Währenddessen verschwinden auch in Bilbao junge Frauen und tagelange Regenfälle sorgen für weiteres Unheil.

Das drückende Gefühl der verlorenen Zeit und die geistige Verwirrung sorgten dafür, dass die Theorien, die er mit so viel Mühe erarbeitet hatte, zerfielen wie Chimären. Irrwege, die dazu dienten, seinem Leben, das ihm zwischen den Fingern zerrann und von dem er nun wusste, dass es nutzlos war, einen Sinn zu geben. Vielleicht gab es keinen Mörder, vielleicht war Murray gar nicht Bible John, vielleicht war das alles das Hirngespinst eines todkranken, depressiven Mannes, der unter starken Medikamenten stand. (Auszug S. 358-359).

Ich hoffe, ich habe hier nicht schon zu viel verraten, aber vielleicht merkt man daran auch meine Begeisterung für diese äußerst spannenden und klug geplotteten Roman, in der die Autorin Dolores Redondo mehrere historische Ereignisse (die sich aber nicht immer genau so oder zeitgleich abgespielt haben) zu einem fulminanten historischen Thriller zusammengefügt hat. Mit einem allwissenden Erzähler werden mehrere Personen abwechselnd begleitet. Zudem wird auch mit regelmäßigen Zeitsprüngen ein Blick in Bible John Vergangenheit gegeben. Er wird nicht als gesichtsloser Serienmörder eingeführt, sondern erhält Raum und die Figur macht eine Entwicklung durch. Klarer Fokus liegt aber natürlich auf Noah Scott Sherrington, der als Ermittler ohne Privatleben eingeführt wird, was aber in Bilbao nicht so bleibt. Bei ihm sind es vor allem seine Ängste und Zweifel, was ihm noch vom Leben bleibt und was er damit noch Sinnvolles anstellen soll, die überzeugend herausgearbeitet werden.

Letztlich kommt auch der Schauplatz Bilbao immer mehr zur Geltung. Die stolze Stadt im Baskenland, die schwierige politische Lage Anfang der 1980er mit der ETA, die Stimmung und die Traditionen werden im Roman hervorragend eingefangen. Das Buch und auch die Jagd nach Bible John endet in einer schwarzen Stunde Bilbaos: Die große Überschwemmungskatastrophe vom 26. auf den 27. August 1983, als in der Region nach starkem Regenfall zahlreiche Flüsse über die Ufer traten und mehr als dreißig Menschen zu Tode kamen.

Autorin Dolores Redondo ist im Baskenland geboren und seit knapp 15 Jahren Schriftstellerin. Große Bekanntheit erlangte sie mit der äußerst erfolgreichen Baztan-Trilogie. Der Roman „Alles, was ich dir geben will“ erhielt 2016 mit dem Premio Planeta den derzeit wohl höchstdotierten Literaturpreis der Welt. Die Region des Baskenlands spielt in allen ihren Romanen eine besondere Rolle.

Final kann ich für „Wenn das Wasser steigt“ eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen. Ein Katz-und Maus-Spiel, zwei sich gegenüberstehende Figuren, die tief bis ins Innerste ausgeleuchtet werden, geschichtlicher Background und ein eindringlich beschriebener Schauplatz Bilbao sorgen für gepflegte und spannende Unterhaltung auf sehr hohem Niveau.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Wenn das Wasser steigt | Erschienen am 12.03.2025 im btb Verlag
ISBN 987-3-442-77400-5
556 Seiten | 17,- €
Originaltitel: Esperando al diluvio | Übersetzung aus dem Spanischen von Anja Rüdiger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Liz Moore | Der Gott des Waldes

Wenn das sein Junge wäre, der verschwunden war und mitten in der Nacht in dem kalten Wald herumirrte, vielleicht sogar verletzt irgendwo lag, dann wäre er, Carl, immer noch da draußen und würde nach ihm suchen. Er würde nicht aufhören, Bears Namen zu rufen, bis er selbst den Geist aufgab. (Auszug E-Book Pos. 2131 von 6988)

Hoch oben an der US-amerikanischen Ostküste in den dichten Wäldern der Adirondack Mountains liegt ein riesiges Naturreservat, bestehend aus einem dunklen Waldgebiet und einem großen See. Seit Generationen im Besitz der schwerreiche Familie Van Laar, die mitten im Reservat ein Sommer-Camp für Kinder der Oberschicht errichtet haben. Das elitäre Ferienlager bietet viele Aktivitäten in der Natur mit Lagerfeuer und nächtlichen Survivaltrainings im Wald.

Im Sommer 1975 verschwindet die 13-jährige Barbara aus dem Ferienlager. Die Betreuerin Louise findet morgens ihr Bett verlassen vor. Sie hat ein Problem, denn Barbara ist nicht nur die Tochter der Gründer-Familie Van Laar, die erstmalig am Camp unweit des imposanten Anwesens teilnimmt, sondern auch die Schwester von Bear, dem Jungen, der vor 14 Jahren spurlos verschwand. Zufall oder gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verlust der beiden Geschwister, die beide während der jährlich stattfindenden, einwöchigen Party der van Laars verschwanden? Eine großangelegte Suchaktion läuft an. Hat es etwas mit dem Serienmörder Jacob Sluiter zu tun, der gerade jetzt aus dem Gefängnis ausbrechen konnte?

Die Suche nach der verschwundenen Barbara van Laar und die Ermittlungsarbeiten über mehrere Tage hinweg nehmen einen großen Raum ein. Empathisch und mit präzisem Blick schildert Liz Moore ein Familiendrama, das seinen Anfang schon viele Jahre vor dem aktuellen Verschwinden Barbaras nimmt. In Rückblicken erfahren wir nicht nur von dem traurigen Schicksal des 5-jährigen Bear van Laar, sondern gehen auch ins Jahr 1950 zurück, als seine damals 17-jährige Mutter Alice auf einem Debütantinnenball den reichen Peter van Laar kennenlernt. Diese Ereignisse nehmen eine zentrale Funktion in der Geschichte ein.

Der Plot wird nicht linear sondern aus mehreren Zeitebenen erzählt. Gekonnt und mit einem verlässlichen Gespür für Timing werden die Perspektiven gewechselt und der Überblick behalten. Man muss konzentriert bleiben, der Roman ist aufgrund des großen Personentableaus und vielen Zeitebenen komplex, aber nie kompliziert. Die Kapitel werden jeweils mit einem Namen und einem Zeitstrahl versehen, was die Zuordnung erleichtert, die Spannung aber kontinuierlich nach oben schraubt. Das ist souverän und mit großer Erzählfreude gemacht. Liz Moore arrangiert die Berichte diverser Figuren und verleiht dabei jedem seine eigene Stimme, Perspektive und Geschichte. Von der jungen Ermittlerin Judyta Luptack, die sich in der von Männern dominierten Kriminalpolizei durchsetzen muss bis hin zum Serienmörder Jacob Sluiter, von den Bewohnern des naheliegenden Dorfes bis hin zu den Campbewohnern und Angestellten der Familie Van Laar. Die Autorin nimmt sich viel Zeit für ihre Protagonisten, macht sie vielschichtig und zeigt mir ihre inneren Konflikte. Jede Figur hat ein weiteres Detail zum Gesamtbild hinzuzufügen, und je weiter die Erzählung vorangetrieben wird, desto neugieriger wird man und je mehr klebt man an den Seiten. Ein Roman, der für mich von Seite zu Seite immer besser wird, je mehr man erfährt.

„Mir fällt nur ein, dass niemand in dieser Familie das Mädchen mag, Barbara. Vernachlässigung würde ich das nennen. Bevor sie runter ins Ferienlager gegangen ist, ist sie immer in die Küche gekommen, um sich was zu essen zu holen. Hat immer ganz verloren gewirkt, und das in ihrem eigenen Zuhause…“. (Auszug Pos 4450 von 6988)

Ich mochte auch, wie subtil Moore hier gesellschaftliche Kritik verwebt. Alle Personen stellen unterschiedliche gesellschaftliche Schichten dar. Es wird schnell klar, dass reiche Familien wie die van Laars und ihre Freunde sich mit Geld eine Menge Macht erkaufen können, auch Verschwiegenheit. Es geht um die Privilegien des Geldadels, deren Skrupellosigkeit und Mangel an Empathie. Es geht auch um Klassenunterschiede, soziale Ungleichheiten und um die Rolle der Frau in der Gesellschaft der 50er und 70er Jahre.

Manchmal hatte Alice das Gefühl, dass sie so schnell einen Jungen bekommen hatte (und dann auch noch einen so wunderbaren), war das Einzige an ihr, womit ihr Mann zufrieden gewesen war. (Auszug Pos. 1577 von 6988)

Durch die bildhafte Sprache waren das Feriencamp und das raue Klima der dichtbewaldeten Landschaft vor meinen Augen lebendig, das Camp in mitten des Gebirges ein geniales Setting. „Long Bright River“ war ein Highlight für mich und obwohl die Themen in „Der Gott des Waldes“ nicht ganz neu sind, sorgte der mitreißende Schreibstil dafür, dass ich das Buch, welches auch auf der Sommerleseliste 2024 des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama stand, nicht aus der Hand legen konnte. Ein richtig guter Schmöker, wie ich ihn schon lange nicht mehr gelesen habe.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Der Gott des Waldes | Erschienen am 28. Februar 2025 im Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-82977-2
590 Seiten | 26,00 Euro
Originaltitel: The God of the Woods | Übersetzung aus dem Englischen von Cornelius Hartz
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Die Meinung von Marius Müller auf buch-haltung.com zu „Der Gott des Waldes“

Jessica Knoll | Bright Young Women

Jessica Knoll | Bright Young Women

Der Mann öffnete die Tür und verschwand. Bei unserer nächsten Begegnung würde er Anzug und Krawatte tragen, sowohl Groupies als auch die New York Times auf seiner Seite haben, und auf die Frage nach meinem derzeitigen Wohnsitz wäre ich gesetzlich verpflichtet, ihm meine Privatadresse zu nennen. Einem Mann, der fünfunddreißig Frauen ermordet hatte und zweimal aus dem Gefängnis ausgebrochen war. (Auszug Seite 29)

In der Nacht zum 15. Januar 1978 dringt ein unbekannter Mann in ein Verbindungshaus auf dem Campus der Florida State University ein, misshandelt und tötet mehrere Studentinnen. Die Jura-Studentin Pamela Schumacher, Vorsitzende der Verbindung wird von Geräuschen wach und kann unbemerkt noch einen kurzen Blick auf den Täter werfen. Sie glaubt anfänglich sogar den Exfreund ihrer ermordeten Freundin Denise zu erkennen. Ein Irrtum, den sie sofort revidiert, der ihr aber später zum Verhängnis wird, da die Ermittlungen erst mal in die falsche Richtung gehen. Denn es handelt sich nicht um ein einzelnes Verbrechen. Der Täter ist ein Serienmörder, dem mehr als 30 Frauen zum Opfer fielen. Unzählige Ermittlungsfehler vereitelten über Jahre seine Verhaftung, bis er 1989 hingerichtet wurde, und seither in den Medien überhöht und glorifiziert wurde. Jessica Knoll nennt nicht einmal seinen Namen, ihr geht es um die Opfer und Überlebenden.

Pamela lernt Tina Gannon kennen, deren Freundin Ruth einige Jahre zuvor an einem heißen Sommertag von einem völlig überfüllten See verschwand. Tina ist davon überzeugt, dass Ruths Mörder auch für die Taten an Pamelas Kommilitoninnen verantwortlich ist, auch wenn Ruths Leiche nie gefunden wurde. Von den Behörden weitestgehend alleine gelassen, tun die beiden Frauen sich zusammen und stellen auf eigene Faust Nachforschungen an. Bei der Polizei und Justiz stoßen sie jedoch immer wieder auf Widerstände.

Fassungslos verfolgen wir, wie wenig Unterstützung die Überlebenden erhalten, wie Behörden und die Gesellschaft mit den Frauen umgehen, sie überhaupt nicht ernst nehmen. Der Täter ist noch auf freiem Fuß und die traumatisierten Studentinnen müssen wieder auf den Campus und in ihre Studentenzimmer zurückkehren. Es werden nur neue Schlösser besorgt und dazu der Tipp, sich nicht alleine mit jemandem zu treffen. Als der Killer schließlich gefasst wird und es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, verteidigt sich der gescheiterte Jurastudent selbst.

Der Angeklagte selbst würde mich befragen. Anders konnte es nicht sein – denn für gewöhnlich sagte man vor Gericht aus oder wurde in einer Kanzlei von zugelassenen Anwälten befragt, die nicht dazu neigten, dutzende Frauen zu erschlagen. (Auszug Seite 346)

Der Roman ist raffiniert mit verschiedenen Perspektiven und Zeitsträngen konstruiert. Eine ist die Rahmenhandlung in der jetzigen Zeit. Die Ich-Erzählerin Pamela, aus deren Sicht wir weite Strecken des Buches erleben, versucht zeitlebens, das Trauma der Tatnacht zu verwinden. Als Vorsitzende der Verbindung fühlte sie sich für die Kommilitoninnen verantwortlich. Dann gibt es Rückblenden auf die grausamen Morde 1978 und eine dritte Perspektive erzählt aus der Sicht der ermordeten Ruth 1974. Das fand ich einen cleveren Kniff, macht es aber auch etwas sperrig. Man benötigt volle Konzentration und kann es nicht einfach so weg lesen. Die junge Frau lernen wir am besten kennen, verfolgen ihre Suche nach einer Rolle in einer von Männern dominierten Gesellschaft und ohne Unterstützung ihrer Eltern den Kampf für ein selbstbestimmtes Leben. Anhand Ruths nuancierter Darstellung spürt man die Kritik an den patriarchalen Strukturen der 70er Jahre.

Im Klappentext erfährt man, dass Jessica Knoll hier ein wahres Verbrechen fiktionalisiert und dass es sich bei dem amerikanischen Serienmörder um Ted Bundy handelt. Dieser ist Thema zahlreicher Bücher, Filme, Netflix-Dokus und Serien, wurde in den Medien gefeiert und glorifiziert. Sein gutes Aussehen und sein angeblicher Charme wurden zum zentralen Teil seiner Legende, auch um die Inkompetenz der Polizei zu verschleiern. Knoll stellt sich dem Personenkult des Täters entgegen. Ihr ist es wichtig ihn als gewöhnlichen Frauenhasser zu schildern. Sehr überzeugend versucht sie den Mythos des jungen, verführerischen Mörders zu demontieren. Indem sie die weibliche Gewalterfahrung in den Fokus rückt, gibt sie in ihrem Roman allen Opfern stellvertretend eine Stimme. Der Roman, eine Mischung aus True Crime und Thriller bietet eine wütende Auseinandersetzung mit der voyeuristischen Ausschlachtung der Morde und der Mystifizierung von Mord und Gewalt gegen Frauen mit gesellschaftskritischem und feministischem Ansatz.

Jessica Knoll ist eine amerikanische Bestsellerautorin, dessen Debütroman „Ich.Bin.So.Glücklich“ bereits von Netflix verfilmt wurde. Inspiriert zu ihrem Roman „Bright Young Women“ wurde sie durch die Geschichte von Kathy Kleiner, einer der wenigen Überlebenden der Mordserie, die auch im Prozess aussagte.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Bright Young Women | Erschienen am 25. Oktober 2024 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-84790-189-1
464 Seiten | 18,- Euro
Originaltitel: Bright Young Women | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jasmin Humburg
Bibliografische Angaben & Leseprobe