Tag: 26. September 2025

Zoran Drvenkar | Asa

Zoran Drvenkar | Asa

Du bist nicht zufällig hier gelandet.
Du hast instinktiv reagiert und Klarheit gesucht.
Sieh dich um, klarer geht es nicht.
Du befindest dich in einem zugefrorenen See, vier Meter unter dem Eis, und du hast keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Du weißt nur, dass du nicht mit ihrer Gnade rechnen kannst. Nur wer Gnade erfahren hat, kann Gnade walten lassen. Das sind nicht deine Worte, das hat dein Vater zu Beginn deiner Ausbildung zu dir gesagt. Und da du noch nie mit Gnade in Berührung gekommen bist, erwartest du auch nicht, dass sich heute etwas daran ändert.
Und so löst du dich vom Seegrund und steigst auf. (Auszug E-Book Pos.19).

Autor Zoran Drvenkar macht keine Gefangenen, sondern beginnt seinen Roman mit zwei Paukenschlägen. Im 1. Kapitel führt er ein junges Mädchen ein – Asa Kolbert, 14 Jahre alt, wie wir später erfahren werden -, die sich offenbar einer monströsen Prüfung unterziehen muss. Sie ist auf der Flucht in einen zugefrorenen See gesprungen und sieht sich nun vier Jägern ausgesetzt, die vor dem Eisloch auf sie warten. In Kapitel 2 ist es dreißig Jahre später: Asa hat ein Treffen mit ihrem Paten, einem einflussreichen Rüstungsunternehmer, in einem Skilift in Finnland. Sie haben sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, es gibt ein Zerwürfnis, es geht um den Tod von Asas Vater vor 29 Jahren. Am Ende der Begegnung ist Asas Pate tot und es ist klar: Asa ist auf einer Rachemission.

Und so beginnt ein Familienepos, das Drvenkar auf 700 Seiten genüsslich und detailliert ausbreitet. Wir erfahren schnell, dass Asas Vater ermordet wurde, dass sie selbst nur knapp mit dem Leben davonkam und was ihre Großeltern und der Rest der Familie damit zu tun haben. Doch das war noch längst nicht alles, das Bedürfnis nach Rache ist noch viel stärker und nach und nach werden weitere Hintergründe enthüllt. Große Zeitsprünge werden gemacht, bis in die Zeit vor und während des ersten Weltkriegs. Die Familiengeschichte der Kolberts spielt eine große Rolle in diesem Roman, zweimal hat die Familie großes Leid erfahren und hat daraus gelernt, dass man sich nur auf selbst verlassen kann und dass man sich wappnen muss, um in der Welt zu bestehen. Daraus resultierend werden die Kinder der Familie und befreundeter Sippen mit großer Härte einem Überlebenstraining inklusive realistischer Prüfung ausgesetzt. Ein Ritual, das die Überlebensfähigkeit der Teilnehmenden auch in Ausnahmesituationen herstellen soll, das aber mit großer Gewalt und Rücksichtslosigkeit einhergeht. Etwas, was Asa nicht mehr akzeptieren will.

Viel mehr sollte man über den Inhalt nicht verraten. Der Roman ist ein Epos, das mehr als 100 Jahre umspannt und bei dem es hin und her und vor und zurück geht. Um Asas Rachefeldzug zu verstehen, wird ganz tief in der Historie gekramt. Erzählt wird die Geschichte übrigens in weiten Teilen von Jasper, Asas Mann, sodass in Asas Kapiteln ungewöhnlicherweise in der 2. Person Singular erzählt wird. Ein Stilmittel, dass der Autor allerdings regelmäßig verwendet.

Du lächelst nicht. Ich weiß, warum du nicht lächelst. In den letzten Tagen ist dir bewusst geworden, dass es für dich kein Zurück mehr gibt. Alle Türen sind hinter dir zugefallen, als du dich bei dem Mord an deinem Paten hast filmen lassen. Damit hast du deine eigene Endlichkeit betreten. (Auszug E-Book Pos.3307)

Zoran Drvenkar hat sich lange Zeit gelassen, um wieder einen Roman für das erwachsene Publikum zu verfassen. Seit „Still“ vor etwa zehn Jahren wurde von ihm nichts mehr in diesem Bereich veröffentlicht, allerdings ist Drvenkar schon immer ein Kinder- und Jugendbuchautor gewesen und hat sich seitdem eher dort getummelt. „Asa“ ist nun ein echter Schinken geworden und kein Werk, das man mal so eben einordnen kann. Die hohe Schlagzahl zu Beginn zieht sich nicht durchs ganze Werk, das wäre auch schwer machbar, sodass der Thriller zwischendurch in ein Familiendrama wechselt und wieder zurück. So oder so entfaltet er eine ungeheure Wucht, ist ein fesselnder Pageturner. Spannend ist zudem Drvenkars Umgang mit seinen Figuren, denen er enorm viel Schmerz und Trauma zumutet und die eine gewisse Unnahbarkeit und Undurchschaubarkeit umgibt, obwohl man teilweise tief in ihre Seelen eindringt.

Die Kritiker sind jedenfalls begeistert und wählten „Asa“ direkt auf die Nummer 1 der Krimibestenliste. Auch ich kann diesen Roman über Familienbande, Traumata, Schmerz, Wut und Rache wärmstens empfehlen. Warum ich trotzdem nicht die Höchstwertung vergebe? Vor allem sind mir ein paar Details aus der Familienchronik dann doch zu konstruiert und außerdem hat mich eine Sache massiv irritiert. Die Familie Kolbert siedelt sich nach dem 1. Weltkrieg in der Uckermark an, die beschriebene Landschaft ist allerdings eher gebirgig und erinnert mich an einigen Stellen überhaupt nicht an die allerhöchstens hügelige Uckermark. Das hat mich permanent gestört. Aber möglicherweise hatte der Autor dazu einen Hintergedanken? Das wäre interessant zu erfahren.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Asa | Erschienen am 18.08.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47511-9
700 Seiten | 23,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-518-78387-0 | 19,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe