Monat: September 2025

Zoran Drvenkar | Asa

Zoran Drvenkar | Asa

Du bist nicht zufällig hier gelandet.
Du hast instinktiv reagiert und Klarheit gesucht.
Sieh dich um, klarer geht es nicht.
Du befindest dich in einem zugefrorenen See, vier Meter unter dem Eis, und du hast keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Du weißt nur, dass du nicht mit ihrer Gnade rechnen kannst. Nur wer Gnade erfahren hat, kann Gnade walten lassen. Das sind nicht deine Worte, das hat dein Vater zu Beginn deiner Ausbildung zu dir gesagt. Und da du noch nie mit Gnade in Berührung gekommen bist, erwartest du auch nicht, dass sich heute etwas daran ändert.
Und so löst du dich vom Seegrund und steigst auf. (Auszug E-Book Pos.19).

Autor Zoran Drvenkar macht keine Gefangenen, sondern beginnt seinen Roman mit zwei Paukenschlägen. Im 1. Kapitel führt er ein junges Mädchen ein – Asa Kolbert, 14 Jahre alt, wie wir später erfahren werden -, die sich offenbar einer monströsen Prüfung unterziehen muss. Sie ist auf der Flucht in einen zugefrorenen See gesprungen und sieht sich nun vier Jägern ausgesetzt, die vor dem Eisloch auf sie warten. In Kapitel 2 ist es dreißig Jahre später: Asa hat ein Treffen mit ihrem Paten, einem einflussreichen Rüstungsunternehmer, in einem Skilift in Finnland. Sie haben sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, es gibt ein Zerwürfnis, es geht um den Tod von Asas Vater vor 29 Jahren. Am Ende der Begegnung ist Asas Pate tot und es ist klar: Asa ist auf einer Rachemission.

Und so beginnt ein Familienepos, das Drvenkar auf 700 Seiten genüsslich und detailliert ausbreitet. Wir erfahren schnell, dass Asas Vater ermordet wurde, dass sie selbst nur knapp mit dem Leben davonkam und was ihre Großeltern und der Rest der Familie damit zu tun haben. Doch das war noch längst nicht alles, das Bedürfnis nach Rache ist noch viel stärker und nach und nach werden weitere Hintergründe enthüllt. Große Zeitsprünge werden gemacht, bis in die Zeit vor und während des ersten Weltkriegs. Die Familiengeschichte der Kolberts spielt eine große Rolle in diesem Roman, zweimal hat die Familie großes Leid erfahren und hat daraus gelernt, dass man sich nur auf selbst verlassen kann und dass man sich wappnen muss, um in der Welt zu bestehen. Daraus resultierend werden die Kinder der Familie und befreundeter Sippen mit großer Härte einem Überlebenstraining inklusive realistischer Prüfung ausgesetzt. Ein Ritual, das die Überlebensfähigkeit der Teilnehmenden auch in Ausnahmesituationen herstellen soll, das aber mit großer Gewalt und Rücksichtslosigkeit einhergeht. Etwas, was Asa nicht mehr akzeptieren will.

Viel mehr sollte man über den Inhalt nicht verraten. Der Roman ist ein Epos, das mehr als 100 Jahre umspannt und bei dem es hin und her und vor und zurück geht. Um Asas Rachefeldzug zu verstehen, wird ganz tief in der Historie gekramt. Erzählt wird die Geschichte übrigens in weiten Teilen von Jasper, Asas Mann, sodass in Asas Kapiteln ungewöhnlicherweise in der 2. Person Singular erzählt wird. Ein Stilmittel, dass der Autor allerdings regelmäßig verwendet.

Du lächelst nicht. Ich weiß, warum du nicht lächelst. In den letzten Tagen ist dir bewusst geworden, dass es für dich kein Zurück mehr gibt. Alle Türen sind hinter dir zugefallen, als du dich bei dem Mord an deinem Paten hast filmen lassen. Damit hast du deine eigene Endlichkeit betreten. (Auszug E-Book Pos.3307)

Zoran Drvenkar hat sich lange Zeit gelassen, um wieder einen Roman für das erwachsene Publikum zu verfassen. Seit „Still“ vor etwa zehn Jahren wurde von ihm nichts mehr in diesem Bereich veröffentlicht, allerdings ist Drvenkar schon immer ein Kinder- und Jugendbuchautor gewesen und hat sich seitdem eher dort getummelt. „Asa“ ist nun ein echter Schinken geworden und kein Werk, das man mal so eben einordnen kann. Die hohe Schlagzahl zu Beginn zieht sich nicht durchs ganze Werk, das wäre auch schwer machbar, sodass der Thriller zwischendurch in ein Familiendrama wechselt und wieder zurück. So oder so entfaltet er eine ungeheure Wucht, ist ein fesselnder Pageturner. Spannend ist zudem Drvenkars Umgang mit seinen Figuren, denen er enorm viel Schmerz und Trauma zumutet und die eine gewisse Unnahbarkeit und Undurchschaubarkeit umgibt, obwohl man teilweise tief in ihre Seelen eindringt.

Die Kritiker sind jedenfalls begeistert und wählten „Asa“ direkt auf die Nummer 1 der Krimibestenliste. Auch ich kann diesen Roman über Familienbande, Traumata, Schmerz, Wut und Rache wärmstens empfehlen. Warum ich trotzdem nicht die Höchstwertung vergebe? Vor allem sind mir ein paar Details aus der Familienchronik dann doch zu konstruiert und außerdem hat mich eine Sache massiv irritiert. Die Familie Kolbert siedelt sich nach dem 1. Weltkrieg in der Uckermark an, die beschriebene Landschaft ist allerdings eher gebirgig und erinnert mich an einigen Stellen überhaupt nicht an die allerhöchstens hügelige Uckermark. Das hat mich permanent gestört. Aber möglicherweise hatte der Autor dazu einen Hintergedanken? Das wäre interessant zu erfahren.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Asa | Erschienen am 18.08.2025 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-47511-9
700 Seiten | 23,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-518-78387-0 | 19,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Sophie Morton-Thomas | Das Nest

Sophie Morton-Thomas | Das Nest

In einem kleinen englischen Küstenort lebt Fran Redlock mit ihrem Mann Dom und dem 10-jährigen Sohn Bruno. Während Dom im naheliegenden Norwich arbeitet, kümmert sich Fran um den Campingplatz. Sie hat in eine Wohnwagensiedlung investiert und lebt nun von der Vermietung der Mobilheime. Frans Alltag ist von Routine und einer tiefen Bindung zur Natur geprägt. Zu ihrer großen Leidenschaft in der trostlosen Alltagsroutine gehört das akribische Beobachten von Vögeln, fast besessen ist sie von einem Nest seltener Zwergseeschwalben mit wertvollen weil seltenen Eiern.

Erste Unruhe kommt auf, als ihre Schwester Ros mit Partner Ellis und der 11-jährigen Tochter Sadie vorübergehend in einem Mobilheim Unterschlupf finden. Die Familie hat finanzielle Probleme, Ellis sucht nach einem Alkoholentzug nach einer neuen Arbeit. Bruno freut sich, zum Schulbeginn neben seiner Nichte Sadie sitzen zu können. Eine neue Lehrerin übernimmt eine Mutterschutzvertretung. Diese Ms. McConnell erfüllt mit ihrem unkonventionellen Aussehen nicht die Vorstellung aller Eltern. Besonders mit der aufmüpfigen Sadie gibt es Probleme und das Mädchen wird kurzzeitig von der Schule verwiesen.

Das große Mysterium ihrer Herkunft. Ihr Akzent ist nicht von hier, genauso wenig wie meiner. Aber ich kann sie keinem Ort zuordnen, mit ihren lang gezogenen Vokalen und kehligen Formulierungen. (Auszug Seite 129)

Als die umstrittene Lehrerin überraschend verschwindet und später tot aufgefunden wird, gerät Frans fragile Welt endgültig aus den Fugen. Zur gleichen Zeit verschwindet ihr Schwager Ellis, nach dem später sogar gefahndet wird. Die Polizei geht von Mord aus und plötzlich sind alle verdächtig – auch Fran selbst. Alte Konflikte brechen auf, insbesondere in Bezug zu ihrer Schwester, mit der sie ein angespanntes Verhältnis pflegt, auch die Beziehung zu ihrem Mann wird immer schlechter.
Zeitgleich hat sich eine Gruppe Roma neben der Wohnwagensiedlung niedergelassen. Die Kinder Bruno und Sadie finden Vertrauen zu der Community und verbringen viel Zeit bei Tad, dem Ältesten der Roma-Gemeinschaft und seinem jüngeren Bruder Charlie. Fran findet bei ihren täglichen Vogelbeobachtungen immer öfter offensichtlich von Menschenhand getötete Vögel. Und dann ist das Nest mit den wertvollen Eiern leer.

Die Ereignisse werden abwechselnd in kurzen Kapiteln von Fran und Tad erzählt. Dabei wirken die Ausführungen von Tad, der mit einer nüchternen Distanz das Geschehene beobachtet, reflektiert und klar, während man bei Fran das Gefühl einer unzuverlässigen Erzählerin hat. Fran steigert sich immer mehr in einen übergriffigen Beschützerinstinkt hinein, da sie sich vor allem um ihre Nichte sorgt. Dabei scheint Sadie einfach in einem schwierigen Alter zu sein und sich mit ihrem Benehmen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung zu sehnen.

Die britische Autorin Sophie Morton-Thomas schreibt in einem ruhigen, teilweise poetischen Stil. Von Beginn an entwickelt sich eine subtile Bedrohung, die sich immer mehr steigert und über die Seiten zuspitzt. Spannung entsteht dabei nicht aus Action oder Tempo, sondern aus der immer bedrückender werdenden Handlung. Der Roman, eher Familiendrama als Krimi ist nicht handlungsgetrieben oder rasant, eher bestimmen die präzise beobachteten Figuren den Plot. Dabei scheint das raue Marschland mit seinem ständigen Nebel und Regen zu einem eigenen Charakter. Sophie Morton-Thomas bricht mit einfachen Gut-Böse-Konstruktionen und vorhandenen Vorurteilen. Zum Schluss weiß sie noch mit einer furiosen Auflösung zu überraschen, die schwer zu fassen ist und mich zwiegespalten und etwas ratlos zurücklässt.  Zu wenig konnte ich mit den Figuren mitfühlen und emotionalen Kontakt herstellen. Zu groß ist mein Unverständnis über Frans mangelnde Handlungsbereitschaft und Kommunikationslosigkeit. Die exzessiven Vogelbeobachtungen und eindrucksvollen Naturbeschreibungen nehmen viel Raum ein, auf Kosten des eigentlichen Geschehens, dass recht zäh daherkommt.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Das Nest | Erschienen am 02. Juli 2025 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-865-32909-7
304 Seiten | 22,00 €
Originaltitel: ‎Bird Spotting in a Small Town | Übersetzung aus dem Englischen von Lea Dunkel
Bibliografische Angaben & Leseprobe

James Lee Burke | Clete (Band 24)

James Lee Burke | Clete (Band 24)

Das Attribut „lebende Legende“ wird allzu oft inflationär gebraucht. Im Krimigenre gibt es allerdings einen Mann, bei dem diese Ehrerbietung ohne Zweifel angebracht ist. James Lee Burke ist inzwischen 88 Jahre und scheinbar kein bisschen müde. Über vierzig Romane und Erzählbände hat er inzwischen veröffentlicht und auch im hohen Alter veröffentlicht er zuverlässig jedes Jahr einen neuen Roman. Hinzu kommt die weiterhin große Wertschätzung, die Burke unter den Leser:innen, Kritiker:innen und Kolleg:innen genießt. Sein historischer Roman „Flags On The Bayou“ (erscheint in wenigen Tagen in deutscher Übersetzung als „Im Süden“) gewann im letzten Jahr sogar einen Edgar Award, zum dritten Mal in seiner schriftstellerischen Karriere. Ebenfalls 2024 wurde er beim britischen Dagger für sein mit dem „Diamond Dagger“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Herausregend in Burkes Schaffen ist sicherlich die Reihe um den hartgesottenen Cop/Privatermittler Dave Robicheaux aus New Orleans und New Iberia in Louisiana. Die Reihe gehört auch zu meinen absoluten Favoriten und wurde hier auf dem Blog regelmäßig gewürdigt. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass Band 23 „A Private Cathedral“ (Dt. „Verschwinden ist keine Lösung“) aus dem Jahr 2020 den Abschluss der Reihe bildet. Doch James Lee Burke hatte anderes im Sinn und hat sich eines oft vorgetragenen Wunsches von Fans der Reihe erinnert: Eine Geschichte aus der Sicht von Clete Purcel, des unerschrockenen, treuen Freundes von Dave. Wie Burke in einem Interview mit David Masciotra auf crimereads.com zugibt, war er immer davon ausgegangen, dass eine Geschichte mit Clete ohne Dave nicht funktioniert, weil beide zwei Seiten derselben Medaille seien. Auf das Offensichtliche, dass Dave gar nicht wegbleiben müsse, sei er lange gar nicht gekommen.

Nun hat dies nachgeholt und das Werk auch schlicht „Clete“ genannt. Es spielt chronologisch in den 1990ern, irgendwo angesiedelt bei den Bänden 5-10. Die Geschichte beginnt damit, dass irgendwelche schräge Typen Cletes Cadillac Eldorado auseinandernehmen, ehe Clete dazukommt und es in einer wüsten Prügelei endet. Der Eldorado war kurz zuvor in einer Autowäscherei und scheinbar hat sich irgendjemand den Wagen ausgeliehen, um etwas zu transportieren. Es ist nicht ganz klar, was da Illegales verschoben wurde, aber Clete ist vor allem alarmiert, weil ein Neonazi und Antisemit sowie ein neureicher Unternehmer in die Sache verwickelt scheinen. Irgendwann schaltet sich auch ein Ermittler des FBI ein, der Clete und Dave eröffnet, dass es wohl um einen hochgradig tödlichen Kampfstoff handelt, den diese Gruppe offenbar freisetzen will.

Ohne eigenes Zutun, was in meinem Leben selten genug vorkam, war ich zu einem Ziel geworden. Ich hatte einfach nur meinen Eldorado Cadillac in Eddys Waschanlage gebracht, und jetzt könnten unschuldige Menschen deswegen verletzt oder getötet werden. Wie konnte das sein? Es war, als hätte man sich einen Kaugummi aus einem Automaten gezogen und dabei versehentlich eine Zyanidkapsel erwischt. (Auszug S. 98-99)

Die ganze Geschichte ist – wie üblich bei Burke – natürlich etwas verzwickter, es spielen noch diverse Frauen eine Rolle, eine female sheriff, eine undurchsichtige Nachtclubtänzerin, eine verschleppte, asiatische Drogenabhängige, eine Filmproduzentin – und Jeanne d’Arc. Denn bei James Lee Burke ist auch auf eines Verlass, es geht immer auch ein Stück mystisch und transzendent zu. Von Dave Robicheaux ist das ja bekannt, doch diesmal wird Clete Purcel regelmäßig von Visionen der Jungfrau von Orleans heimgesucht.

Obwohl der Roman in den 1990ern spielt, bleiben die Themen hochaktuell. Drogenhandel, Sexhandel, Hassverbrechen und insbesondere Antisemitismus. Ein Thema, bei dem Clete Purcel ganz allergisch reagiert, hat er doch als Mahnung ein aus einer Zeitschrift herausgerissenes Foto immer bei sich, dass eine Mutter mit ihren Kindern auf dem Weg in ein Konzentrationslager zeigt. James Lee Burke erzählt in dem Interview, dass er sich Sorgen um sein Amerika macht, den Hass auf Einwanderer, eine Tendenz in Richtung Faschismus, geschürt von Donald Trump, den er offen einen Psychopaten nennt.

Stilistisch ist „Clete“ tatsächlich einen Tick anders erzählt, ein wenig geradliniger und weniger lyrisch, Clete als Ich-Erzähler ist direkter, spricht mehr mit dem Leser. Trotzdem bleibt es eine starke, kraftvolle „hardboiled novel“, die sich in der Reihe nicht verstecken muss. Und auch wenn Clete nun der Ich-Erzähler ist, bleibt es ein Robicheaux-Roman, denn die beiden, sowas wie Don Quijote und Sancho Panza Louisianas, die Jugend von heute würde einfach Ehrenmänner sagen, gehören einfach fest zusammen.

Dave kratzte sich am Hals und blieb einfach stehen.
„Was ist los?“ „Ich ertrage diesen Kerl nicht. Ich bleibe draußen.“
„Weißt du noch, was du über Pronomen gesagt hast?“, fragte ich. „Es gibt kein ‚du‘ und kein ‚ich‘. Es gibt nur die Bobbsey Twins von der Mordkommission.“ (Auszug S. 43)

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Clete | Erschienen am 03.09.2025 im Pendragon Verlag
ISBN 987-3-86532-908-0
346 Seiten | 24,- €
Originaltitel: Clete | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Weitere Rezensionen zu Romanen von James Lee Burke
Weiterlesen II: Interview mit James Lee Burke auf crimereads.com