
Sara Paretsky | Wunder Punkt (Band 22)
Ich persönlich war die Verantwortung so leid. Ich war nicht Privatdetektivin geworden, um die Bürde von anderer Leute Sorgen zu tragen, sondern weil es mich reizte, die Hintergründe bestimmter Verbrechen aufzudecken. Mehr noch, ich genoss es, wenn ich für etwas Gerechtigkeit sorgen konnte. (Auszug S. 34)
V.I. Warshawski ist eine echte Veteranin. 1982 ermittelte die Privatdetektivin aus Chicago zum allerersten Mal in „Indemnity Only“ (Dt. „Schadenersatz“). Gibt es eigentlich eine aktuelle Ermittlerfigur, die länger permanent im Einsatz ist? Jedenfalls ist Vic Warshawski scheinbar unverwüstlich, denn in „Wunder Punkt“ schickt sie ihre Schöpferin Sara Paretsky in ihren 22. (!) Einsatz. Doch auch an Veteraninnen geht nicht alles spurlos vorüber.
Einer ihrer letzten Fälle hat Vic nämlich schwer mitgenommen. Für ihren Partner Peter spürte sie eine Studentin auf, eine Transfrau, die sich vor ihren Eltern versteckte. Diese wiederum beschuldigten Peter, für die Situation verantwortlich zu sein. Zwar schwieg Vic über den Aufenthaltsort, doch ein zweiter Detektiv spürte sie ebenfalls auf. Der Vater kam mit einer Waffe, er erschoss sein Kind und sich selbst. Vic kam zu spät, um das Blutbad zu verhindern. Doch die Tat hat sie schwer mitgenommen, zudem kam es zum Zerwürfnis mit Peter, der sich als Archäologe zu einer längeren Ausgrabung in Europa angeschlossen hat.
In dieser Situation war es für ihr Quasi-Patenkind Bernie schwer, Vic zu einem Trip nach Lawrence, Kansas zu überreden, um ihrer Mitbewohnerin Angela, einer erfolgreichen College-Basketballerin, bei einem Spiel zuzusehen. Und noch schwerer ist es, Vic am Morgen nach dem Spiel zu bitten, nach einer anderen Kommilitonin, Sabrina, zu suchen, die ebenfalls als Fan mitgekommen ist, aber nun in der Nacht verschwunden ist. Widerwillig nimmt sich Vic der Sache an, erfährt, dass Sabrina in einer Krise steckte und sucht in der begrenzten Drogenszene von Lawrence. In einem heruntergekommenen Haus außerhalb der Stadt, das offenbar für Drogenpartys genutzt wird, findet sie schließlich Sabrina in kritischem drogenberauschtem Zustand. Ihre Mutter, Angestellte eines hochrangigen Unternehmens in der Rüstungsbranche, beauftragt Vic, mehr herauszufinden. Also sieht sich Vic nochmal im Drogenhaus um und findet die Leiche einer Frau im Keller, die sie mehreren Tagen vermisst wurde. Inzwischen gerät Vic selbst ins Visier der Behörden, darf das County nicht mehr verlassen, sogar das FBI taucht in Lawrence auf.
Die Getötete Clarina Coffin hatte mehrfach für Aufsehen gesorgt, da sie sich in den Geschichtslehrplan an der Schule eingemischt hatte und Ungerechtigkeiten zu Zeiten der Staatsgründung von Kansas angeprangert hatte. Doch wer hatte ein Motiv, sie zu ermorden? Vic wird immer noch selbst verdächtigt und hat wenig Vertrauen in die örtlichen Ermittler. Somit nimmt sie selbst die Ermittlungen in die Hand, fast allein, nur eine hochmotivierte Lokaljournalistin und zwei alte Freunde, die einen Schrottplatz betreiben, stehen ihr zur Seite. Vic gräbt tief und begibt sich in große Gefahr, denn sie macht sich in Lawrence einige Feinde, denn die Machenschaften reichen bis in höhere Kreise.
Das alles wird zu einem (nicht ungewöhnlich für V.I. Warshawski) sehr komplexen Fall, in dem es um Landraub, illegale Grundstückgeschäfte und viel Geld in der Zukunft geht, sodass Besitzansprüche aus alten Zeiten eher lästig sind. Neueinsteiger in die Serie (der Einstieg ist durchaus möglich) sollten wissen, dass die Story sehr dezidiert und kleinteilig entwickelt wird, auf wohl dosierte Spannungsmomente muss allerdings keinesfalls verzichtet werden. Kenner schätzen allerdings die ausgereifte Entwicklung des Plots, die starken Dialoge und generell den Biss der unbeugsamen Privatschnüfflerin.
Verlegerin und Übersetzerin Else Laudan hat am Ende noch ein ausführliches Glossar angelegt, um die wichtigsten Begriffe nochmal für den Leser detaillierter zu erläutern. Denn Sara Paretsky greift hier Themen auf, die von der Gründung des Staates Kansas und seiner ambivalenten Rolle in Fragen der Sklavenhaltung bis hin zu Serverfarmen und Bitcoinmining reichen. Ein wenig hätte man die Geschichte vielleicht straffen können, aber sei es drum. „Wunder Punkt“ ist ein starker gesellschaftskritischer Krimi aus dem Herzen der Vereinigten Staaten, in dem die angeschlagene Vic Warshawski auch im 22.Fall unerschütterlich und mit großem persönlichem Einsatz für Gerechtigkeit einsteht. Die Autorin kommt im September übrigens nach längerer Zeit mal wieder nach Deutschland zu einer Lesetour, die Termine sollte man sich merken.
Foto & Rezension von Gunnar Wolters.
Wunder Punkt | Erschienen am 10.06.2025 im Argument Verlag
ISBN 987-3-86754-281-4
500 Seiten | 25,- €
Originaltitel: Pay Dirt | Übersetzung aus dem Englischen von Else Laudan
Bibliografische Angaben & Leseprobe
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