Tag: 2. Juni 2021

Ling Ma | New York Ghost

Ling Ma | New York Ghost

Nach dem ENDE kam der ANFANG. Und am ANFANG waren wir acht, dann neun – das war ich -, eine Zahl, die nur abnehmen würde. Wir fanden einander, nachdem wir aus New York in die sichereren ländlichen Gefilde geflohen waren. Das hatten wir so in Filmen gesehen, auch wenn niemand sagen konnte, in welchen genau. Vieles verlief nicht so, wie wir es von der Leinwand kannten. (Auszug Romananfang)

Ling Mas bereits 2018 in den USA erschienenes Debüt erzählt von einem fiktiven Virus, der sich durch Globalisierung von Asien ausgehend schnell über den Erdball ausbreitet. Das aus China eingeschleppte sogenannte Shen-Fieber wird von Pilzsporen ausgelöst, die in die Atemwege gelangen. Die Infizierten sind dazu verdammt, bewusstlos gefangen in den immer gleichen Routinen ihres Lebens dahinzuvegetieren, bis sie schließlich verhungern. Der Verlauf ist meist tödlich, eine Heilung gibt es bisher nicht. Einige wenige Menschen bleiben verschont. Eine davon ist die Ich-Erzählerin Candace Chen.

Ein tödlicher Virus legt die US-Metropole lahm
In New York erlebt Candace, wie das tödliche Fieber über die Metropole hereinbricht, wie Geschäfte schließen, die U-Bahnen stillstehen und schließlich die Menschen fliehen. Seit einigen Jahren arbeitet sie im Verlagswesen und ist zuständig für die Produktion von Bibeln. Um die Herstellungskosten niedrig zu halten, wurde der Druck in Billiglohn-Länder im südlichen China ausgelagert. Die regelmäßigen Dienstreisen nach China nutzt Candace zu hemmungslosen Shoppingtouren in Hong Kong. Ihre Vorgesetzten überreden sie mit der Aussicht auf Beförderung, als Letzte die Stellung im Büro zu halten. So bleibt Candace in dem großen Büroturm in Manhattan und erledigt pflichtbewusst ihre eintönige Arbeit, obwohl diese ihr nie viel bedeutet hat. Vielmehr gibt die alltägliche Routine ihr Halt und sie benötigt scheinbar die auferlegten Rituale, um irgendwie weiterzumachen. Ihre Leidenschaft ist die Fotografie und so streift sie nach der Arbeit ziellos durch die fast ausgestorbenen Straßen von New York City und hält in Fotos den Zustand der sich immer mehr verändernden Stadt fest. Indem sie auf ihrem anonymen Blog NY Ghost diese Aufnahmen postet, ist sie für viele Menschen die einzige, die die aktuellen Entwicklungen dokumentiert.

Aufgrund des Klappentextes hatte ich erwartet, dass dieser Erzählstrang im Vordergrund stehen würde, aber das nimmt nur einen kleinen Teil der Geschichte ein. In Rückblicken erfahren wir, wie Candace als 6-jährige mit ihren Eltern aus China emigriert ist. Hier ist der Roman eine interessante Migrationsgeschichte und gewährt Einblicke in die Einwanderungsprobleme der Familie Chen. Die Eltern hofften auf ein besseres Leben und tun alles, um sich der neuen Kultur anzupassen sowie sich in der amerikanischen Arbeitswelt zurechtzufinden. Besonders die Mutter kämpft mit der Rolle der migrantischen Ehefrau, wirkt wie zerrissen zwischen den kapitalistischen Verlockungen und dem Wunsch, die eigenen Wurzeln nicht zu verlieren. Vielleicht greift die Autorin auch auf eigene Erfahrungen zurück, denn hier ist der Roman richtig stimmig und bewegend. Candace schlingert irgendwie plan- und orientierungslos durch ihr Leben. Sie studiert Kunst und lebt nach dem frühen Tod ihrer Eltern in einem kleinen Kellerappartement in New York, verliebt sich in den Nachbarn und verliert sich in den Routinen ihres Jobs und im Shopping. Ling Ma trifft den richtigen Ton um das Lebensgefühl der Mittzwanziger in einer Großstadt zu beschreiben, die Suche nach Liebe und Geborgenheit, den Einstieg in die Arbeitswelt, Enttäuschungen und Frustrationen.

Flucht aus New York
Irgendwann muss auch die junge Frau fliehen und schließt sich einer Gruppe Überlebender an. Die Truppe hat ihre eigenen, fast sektenähnlichen Regeln und wird von dem IT-Techniker Bob angeführt. Der selbsternannte Chef will sie zu einer „Anlage“ in der Nähe von Illinois führen, die sich als Shopping-Mall entpuppt, in der sie laut dem dominanten Bob alles zum Überleben finden. Hier ist der Roman richtig düster und dystopisch und beinhaltet auch Elemente eines Road-Movies. Die Szenen sind teilweise morbide und verstörend, wenn die Gruppe beispielweise auf ihrem Weg in Häuser einbricht um zu plündern und Bob sie zwingt, vom Fieber Befallene zu erlösen, sprich zu töten. Wobei von den Fieberzombies selbst gar keine Gefahr ausgeht. Suspense entsteht eher dadurch, weil es in der Gruppe zunehmend zu Spannungen bis zur Gewalt kommt, auch weil Bob absolut keinen Widersprich duldet. Das ist aber nicht besonders innovativ, hat man so schon gelesen und ich musste an „The Walking Dead“ denken.

Meine Meinung
New York Ghost bietet viele Themen an wie Kapitalismus – und Konsumkritik, Herkunft und Identitätssuche, Entmenschlichung, Leistungsdruck, Familie und erste Liebe, die aber gar nicht dröge, sondern raffiniert miteinander verknüpft werden. Die Endzeitgeschichte vor New Yorker Kulisse ist intelligent geschrieben mit gut beobachteten Figuren, der Ton ist ironisch-distanziert. Ein visionärer Roman, in dem sich vieles wie Homeoffice, Masken und Quarantäne gespenstisch vertraut liest und der von der Realität überholt wurde. Als melancholischer Endzeitthriller bietet er nur beliebiges, dafür funktioniert er als Drama, bissige Satire und als originelle Gesellschaftskritik. Einige Doppeldeutigkeiten wurden mir erst nach dem Lesen richtig bewusst.

Ling Ma wurde wie ihre Romanheldin 1983 in der chinesischen Provinz Fujian geboren und ist in den USA aufgewachsen. Ihr Debütroman, der von Zoë Beck übersetzt wurde, gewann zahlreiche Preise.

 

Foto & Rezension von Andy Ruhr.

New York Ghost | Erschienen am 23. März 2021 im CulturBooks Verlag
ISBN 978-3-959-88152-4
360 Seiten | 23,- Euro
Originaltitel : Severance (Übersetzung aus dem Amerikanischen von Zoë Beck)
Bibliografische Angaben