Wendy Walker | Nichts ist je vergessen

Wendy Walker | Nichts ist je vergessen

„Die Entstehung und Speicherung von Erinnerungen ist ein Thema, bei dem selbst die medizinischen Fachkreise noch lange nicht ausgelernt haben. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien zu diesem Thema durchgeführt, und so tauchen in regelmäßigen Abständen neue Forschungsergebnisse auf. Unser Gehirn verfügt über ein Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Das Orten und Abrufen von Erinnerungen erfolgt aus Speicherorten, die Wissenschaftler inzwischen für unermesslich groß halten. Jahrzehntelang glaubten Neurowissenschaftler, Erinnerungen würden in den Synapsen gespeichert, die unsere Gehirnzellen miteinander verbinden, und nicht in den Gehirnzellen (oder Nervenzellen) selbst. Dies gilt inzwischen als widerlegt. Heute gehen die Forscher davon aus, dass es die Nervenzellen sind, die unsere Vergangenheit enthalten. Sie haben außerdem entdeckt, dass Erinnerungen nicht statisch sind. Im Gegenteil: sie verändern sich jedes Mal, wenn wir sie aus dem Archiv holen.“ (Auszug Seite 33)

Bei einer Party wird ein 15-jähriges Mädchen vergewaltigt. Die behandelnden Ärzte im Krankenhaus stimmen mit den Eltern des Mädchens ab, dass es einer Behandlung unterzogen wird, bei der alle Erinnerungen an diesen Vorfall ausgelöscht werden. Was nach einer perfekten Lösung klingt, ist es nicht. Jenny kann sich zwar an nichts mehr erinnern, aber genauso wenig kann sie ihre neuartigen Gefühle zuordnen. Nach einem Jahr ohne Besserung und einem knapp verfehlten Selbstmordversuch kommt Jenny in die Behandlung des Psychiaters Alan Forrester.

Alan versucht Jenny zu helfen, die Erinnerung Schritt für Schritt wiederzuerlangen. Dafür stellt er die Tatnacht so genau wie möglich nach. Jenny hat dieselben Klamotten an wie zur Party, im Behandlungszimmer wird die dieselbe Musik gespielt und es gibt Duftproben, zum Beispiel von den Getränken, die serviert wurden. Diese Methode hat auch schon bei Sean Logan funktioniert. Sean war Navy-Seal und bei einem Irak-Einsatz. Bei dem Einsatz wurde durch eine Bombe sein Kamerad getötet und Sean hat seinen rechten Arm verloren. Auch ihm wurde noch im Irak das Medikament gegeben, das alle Erinnerungen löscht. Als Sean zurück war, hatte auch er innere Unruhe und eine ziellose Wut. Durch das nachkonstruieren des Einsatzes, konnte dieses Verhalten verbessert werden. Jenny und Sean lernen sich in der Trauma-Gruppe kennen, die Alan leitet. Auch der gemeinsame Austausch hilft beiden.

Die Ermittlungen zu der Vergewaltigung gehen währenddessen weiter. Das treibt vor allem Tom Kramer, der Vater von Jenny, voran. Sein größtes Ziel ist es, den Täter zu finden und ihn verurteilt zu sehen. Er kann an nichts anderes denken und versteht nicht, warum die Polizeiarbeit so schleppend vorangeht. Jennys erster Therapie-Erfolg entsteht nach einer Chlor-Duftprobe. Sie hat in der Nacht Chlor gerochen. Außerdem haben die Untersuchungen des Tatortes ergeben, dass der Täter rasiert gewesen sein muss, es gab keinerlei Spuren von ihm. Diese beiden Indizien deuten darauf hin, dass es ein Mitglied aus dem Schwimmteam sein muss. Und dann erinnert sich einer der Partybesucher, im Wald jemanden mit einem blauen Sweatshirt gesehen zu haben. Alans Sohn Jason war auf der Party, ist im Schwimmteam und besitzt so ein Sweatshirt.

Dark Memories – Nichts ist je vergessen von Wendy Walker ist sehr spannend. Das liegt daran, dass man natürlich unbedingt wissen möchte, wer Jenny Kramer vergewaltigt hat, aber noch mehr an der Erzählperspektive. Das gesamte Buch wird aus Sicht des Psychiaters geschildert. Es fängt mit dem Tag an, als Jenny seine Patientin wird. Alles was davor passiert ist, erfährt er aus Erzählungen der Eltern und des ermittelnden Polizisten Parsons. Auch Charlotte und Tom, die Eltern von Jenny, sind einzeln bei Alan in Behandlung und so erfährt der Leser noch mehr Hintergründe, auch aus der Kindheit der beiden. Denn auch in der Ehe der Kramers trügt der Schein.

Tom besitzt ein schwaches Ego und ordnet sich seiner Frau unter. Er wollte die Entscheidung zur Auslöschung der Erinnerung auch eigentlich verhindern, hat aber dann nichts gesagt, da er Angst davor hatte, dass seine Frau ihn dafür verantwortlich macht, wenn es nicht richtig war. Tom hatte außerdem schwierige Eltern in seiner Kindheit. Wenn sein Schulzeugnis nur Einsen hatte, bekam er kein Lob oder dergleichen, sondern es wurde ausgewertet und durchgesprochen und Tom wurde daran erinnert, dass diese Leistung ausschließlich auf Fleiß zurückzuführen ist.

Jennys Mutter, Charlotte Kramer, ist hektisch, gesellig und fröhlich. Ihr ist es eher wichtig, dass nach der Vergewaltigung wieder Normalität und Alltag einkehrt und sie in ihr geordnetes Leben zurückkehren kann. Deshalb war sie auch eindeutig für die Behandlung von Jenny. Außerdem hat Charlotte eine Affäre mit Toms Chef. Diese Affäre hat auch mit ihrer Kindheit zu tun. Beides wird ausführlich in den Stunden bei Alan besprochen.

Alan selbst erzählt über seine Frau ziemlich nüchtern, es klingt eher wie „eine gute Partie“. Als dann aber sein Sohn Jason der Vergewaltigung verdächtigt wird, zeigt sich, dass beide ein eingespieltes Team sind und sie gemeinsam alles für ihren Sohn tun würden.

In den Sitzungen mit Jenny erklärt er dem Leser verständlich die fachlichen Hintergründe. Dazu benutzt er viele Metaphern. Zum Beispiel, dass sich jeder Jugendliche mit der Ausbildung sein Haus baut, in dem es den Rest seines Lebens drin wohnt. Oder dass die Erinnerungen, die durch die Medikamente ausgelöscht wurden, wie ein verschwundener Autoschlüssel sind, den man unbedingt wiederfinden möchte. Jenny beschreibt ihre Treffen mit Sean so, dass sie ihm dabei jedes Mal eine schwarze Mülltüte mit ihren negativen Gedanken gibt, er sie in seinen Kofferraum schließt und am Ende mitnimmt und sie so davon befreit.

Alan berichtet die gesamte Behandlung auch nicht wie bei einem langen Tagebucheintrag, sondern er kommuniziert mit dem Leser. Auf Seite 328 beispielsweise:

„Sie sind meine Beschreibungen der Tränen meiner Patienten bestimmt längst leid, aber ich versichere Ihnen, dass ich mich diesbezüglich noch zurückgehalten habe. (…) Auch Tom weinte nun. Falls Sie das nervt, keine Sorge: Wir verweilen nicht lange, denn es folgten gleich darauf die nächsten Ereignisse.“

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen. Es wird ja bereits gleichwertig mit Gone Girl gehandelt. Ich finde, dass es da nicht heranreicht, da die vermutete Wendung zwar vorhanden ist, aber nicht ganz so plötzlich und schockierend wie bei dem anderen Buch. Trotzdem ist es wirklich empfehlenswert.

Wendy Walker ist Anwältin für Familienrecht und Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in Connecticut und arbeitet im Moment an ihrem nächsten Buch. (Klappentext)

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

 

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Nichts ist je vergessen | Erschienen am 23. Juni 2016 bei Fischer Scherz
ISBN 978-3-65102-542-4
384 Seiten | 14,99 Euro
Bibliographische Angaben  & Leseprobe

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