Jean-Claude Izzo | Total Cheops

Jean-Claude Izzo | Total Cheops

Aber was dann kam, war wie im Western. 16.59 Uhr. Er zog das Helmvisier herunter. Die Pistole lag gut in seiner Hand. Und die Hände waren trocken. Er gab kaum merklich Gas und fuhr am Bürgersteig entlang, die linke Hand am Lenkrad geklammert. Der Pudel tauchte auf, hinter ihm Zucca. Eine innere Kälte stieg in ihm auf. Zucca sah ihn kommen. Er blieb am Kantstein stehen und hielt den Hund zurück. Er begriff, aber zu spät. Sein Mund öffnete sich, ohne dass er einen Laut von sich gegeben hätte. Die Augen weiteten sich. Die Angst. Das hätte schon gereicht, dass er sich in die Hose geschissen hätte. Er drückte auf den Abzug. Angewidert. Von sich. Von ihm. Von den Menschen. Und von der Menschheit. Er leerte das Magazin in seine Brust. (Auszug Seite 24)

Innerhalb kurzer Zeit sterben zwei alte Freunde des Polizisten Fabio Montale im Marseiller Gangster-Milieu. Kurz darauf verschwindet die junge Studentin Leila, eine Freundin Montales, und wird wenig später vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Fabio begibt sich mitten in einen tobenden Kampf der Marseiller Banden, um die Taten zu rächen.

Fabio Montale ist ein alleinstehender Mittvierziger mit italienischen Wurzeln. Er lebt in einer Fischerhütte etwas außerhalb von Marseille. Zu Beginn erzählt Fabio von seiner Freundschaft zu Manu und Ugo. Die drei begannen als Halbstarke ihre ersten krummen Dinger zu drehen. Als bei einem Überfall ein Mann ernsthaft zu Schaden kommt, ist dies ein Wendepunkt. Manu bleibt ein Gangster, Ugo bleibt beim Militär und der Fremdenlegion, Fabio wird Polizist. Er wird abkommandiert, um die Vorstädte zu befrieden, doch er ist kein „Null Toleranz“-Bulle, sondern versucht, im Dialog die Dinge zu regeln. Doch das Klima wird zunehmend rauer. Neben den schon immer dagewesenen Reibereien, schleicht sich zunehmend der Rassismus in die französische Gesellschaft. Privat ist Fabio ein Melancholiker, der seinen verflossenen Lieb- und Freundschaften nachtrauert. („Es fehlte mir nicht an Mut. Ich hatte kein Vertrauen. Nicht genug, nicht ausreichend, um mein Leben und meine Gefühle in irgendjemandes Hand zu legen. Und ich rieb mich mit dem Versuch auf, alles selbst zu lösen. Der Stolz eines Verlierers.“, Seite 127)

Der Kriminalroman ist zum einen ein knallharter französischer Krimi über den Kampf um die Vorherrschaft über die Marseiller Unterwelt. Marseille wird seit jeher von neapolitanischen Clans beherrscht, daneben mischen in bestimmten Zweigen auch arabische Gangster mit. Durch die Inhaftierung eines Mafia-Bosses in Italien gerät das fragile Gleichgewicht aus der Waage. Einige nutzen die Chance, um aus dem Hintergrund aufzusteigen und um alte Rechnungen zu begleichen. Fabios alte Kumpels Manu und Ugo werden in diesem Machtkampf als Bauernopfer verheizt. Fabio kann das nicht so einfach hinnehmen. Sein Kollege Pérol fasst zusammen: „Es ist einfach dieses Gefühl, dass es Dinge gibt, die man nicht durchgehen lassen kann. Weil du sonst nicht mehr in den Spiegel schauen kannst.“ (Seite 207)

Daneben ist der Roman aber auch eine Ode an Marseille. Marseille war seit jeher ein Schmelztiegel, eine Stadt der Einwanderer. Zahlreiche Nationen prägen noch heute die kulturelle Vielfalt der Stadt. Dabei ging und geht es aber auch durchaus rau zu. Doch Autor Jean-Claude Izzo hat eine große Bedrohung für seine Stadt ausgemacht: Der beginnende Vormarsch der Neo-Faschisten des „Front National“. Izzo benutzt seine Hauptfigur Fabio Montale, um uns die Hafenstadt am Mittelmeer mit allen Sinnen näher zu bringen. Fabio zieht durch die Straßen Marseilles und zeigt dem Leser dabei aber nicht nur die Schokoladenseiten. Er kehrt in zahlreiche Bars ein, um kurz einen Pastis, einen Cognac oder Lagavulin zu trinken. Daheim lässt er sich von seiner verwitweten Nachbarin bekochen. Fabio zitiert Gedichte oder Songtexte und hört zuhause Platten von Thelonious Monk oder Paolo Conte.

Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt dort nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren. Sie teilt sich mit. Hier muss man Partei ergreifen. Sich engagieren. Dafür oder dagegen sein. Leidenschaftlich sein. Erst dann wird sichtbar, was es zu sehen gibt. Und dann ist man, wenn auch zu spät, mitten in einem Drama. Einem antiken Drama, in dem der Held der Tod ist. In Marseille muss man sogar kämpfen, um zu verlieren. (Seite 31)

Das Buch wurde im Original im Jahr 1995 veröffentlicht und bildet mit den nachfolgenden Bänden Chourmo und Solea die sogenannte Marseille-Trilogie. Der 2000 verstorbene Izzo meinte hierzu selbst: „Der Kriminalroman ist ein exzellentes Mittel, die komplexe Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, ein perfektes Werkzeug, sie ins Licht zu rücken. Und Marseille ist eine schillernde Stadt, ein Knäuel von Fantasien und Lügen, Trugbildern und Täuschungen“ (Seite 251). Der Originaltitel Total Khéops ist übrigens ein Songtitel der bekannten Marseiller Hip-Hop-Band IAM, veröffentlicht auf dem Mixtape „Concept“ im Jahr 1990, und steht sinngemäß für eine verworrene, komplizierte Situation.

Ein Regionalkrimi – aber was für einer! Eine Hommage an eine raue, ungestüme und komplexe Stadt. Gleichzeitig persönlich-emotional und allgemein politisch. Formidable!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

Total Cheops

Total Cheops | die gelesene Ausgabe erschien am 14. Januar 2013 im Unionsverlag (aktuell erschien am 9. März 2015 eine Taschenbuch-Jubiläumsausgabe für 7,95 Euro)
ISBN 978-3-293-20609-0
256 Seiten | 9,95 Euro

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Fabio Morales Musik – Eine Discographie von Stephan Güss

Jean-Claude Izzo über Izzo, Marseille, Schreiben und Essen

6 Replies to “Jean-Claude Izzo | Total Cheops”

  1. Ich habe diesen Roman vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der „Marseille Trilogie“ gelesen (Ausgabe 2004).
    Ich kann diese Krimis nur empfehlen, bin aber der Meinung, dass man diese drei Romane nicht auseinanderreißen sollte. Insgesamt zeichnen sie ein Bild von Marseille und den dort lebenden Menschen, das seinesgleichen sucht …

  2. Die Marseille Trilogie hat mich auch in ihren Bann gezogen. Musste lachen als mir dank deiner Besprechung auffiel, dass es sich tatsächlich um einen Regionalkrimi handelt. Damit diese, für mich sonst lesetechnisch eher zu meidende, Kategorisierung doch mal ausnehmend positive Vibes 😉

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