Gudrun Lerchbaum | Lügenland

Gudrun Lerchbaum | Lügenland

Eine Schelmin will ich sein, keine Heilsfigur. Wenn sich jetzt gleich noch jemand meldet, der mich über den Mondsee hat wandeln sehen, dann schreie ich. Besser noch: Ich schieße den Erstbesten nieder, lasse mich neben der Leiche fotografieren und aus ist es mit der Dualität. Alles, um wieder wenigstens einen Faden in der Hand zu halten, ein wenig Kontrolle darüber zu gewinnen, was man in mir sieht. Wenn ich schon Ina sein muss, nicht Mattea sein darf.
Alles Quatsch natürlich. Ich habe nicht mal eine Waffe. Die Enge in der Brust treibt mich zum Fenster. Ich reiße es auf, möchte schreien und darf nicht. (Auszug Seiten 334-335)

Mattea verbringt ihren Junggesellinnen-Abschied mit ihren alten Freundinnen Julia und Kati am Donauufer mit Alkohol und Drogen. Morgen wird Mattea ihren Dienst bei der Miliz beenden und mit der Hochzeit ihre vaterländischen Pflichten erfüllen. In Mattea kommen alte, negative Gefühle gegenüber Kati wieder hoch. Als sie von einem bewaffneten Mann der Bürgerwehr bedroht werden, versucht Kati diesen zu beschwichtigen. Mattea zieht hingegen ihre Dienstwaffe – und erschießt Kati. Einen Tag später auf der Hochzeit erklärt Julia Mattea, dass sie sie gerade bei der Miliz verraten hat. Mattea muss Hals über Kopf fliehen.

Wie es der Zufall will, wird gerade die Oppositionelle Ina Matusek per öffentlichem Fahndungsaufruf gesucht und Mattea sieht ihn verblüffend ähnlich. Im Zug Richtung Linz bietet ein Mann ihr seine Hilfe an. Doch Mattea wird in eine Falle gelockt, vergewaltigt und begeht ihren zweiten Mord. Ihre Flucht geht weiter, immer wieder wird sie mit Ina Matusek verwechselt, auch nachdem die echte Ina offiziell bereits festgenommen wurde. Als Mattea schließlich Kontakt zu einer oppositionellen Gruppe kommt, befürchtet sie, dass sie im Falle einer Enttarnung ihrer Legende als Ina keine Hilfe mehr erhält. Doch als dies eintrifft, wird Matteas Potenzial schnell erkannt und ausgenutzt. Sie soll weiterhin als Ina Matusik auftreten und als volksnahe Revolutionärin den Kanzler und seine Regierung destabilisieren.

Es geschah, als die Leute begannen, ihre Gärten zu verminen, um sich und ihre Vorräte zu schützen. In den Unruhezeiten während des Zerfalls der Union war es auf einmal kein so großes Glück mehr, mit Kindern am Stadtrand zu wohnen. […]
Wie Gewitterwolken hingen Misstrauen, Angst und die Erwartung einer Katastrophe, eines großen Krieges, über unserer Kindheit, ohne dass wir ihnen mehr Bedeutung zugemessen hätten, als der Gefahr eines kräftigen Regenschauers.
Es ist ja dann auch nicht zum ganz großen Desaster gekommen. Nicht zu dem jedenfalls, auf das alle gewartet hatten. Gerade noch rechtzeitig hatten die Aufrechten die Macht übernommen und das Land gereinigt, jeden Einzelnen in die Pflicht genommen, Grenzen gezogen, Zäune errichtet. (Seite 13)

Autorin Gudrun Lerchbaum, geborene Wienerin, hat in ihrem Roman die aktuellen Krisen auf die Spitze getrieben und eine rechtspopulistische Einheitsregierung die Macht in Österreich übernehmen lassen. Das Ganze spielt in einer nicht genau bezifferten, aber nicht allzu fernen Zukunft. Die Autorin setzt futuristische Elemente auch äußerst sparsam ein. Die von ihr beschriebene austrofaschistische „Demokratur“ ist (trotz modernster technischer Überwachungsinstrumente) insgesamt auch ziemlich retro: Spielen mit den Ängsten, Bürgerwehren, Milizen, Abschottung, Ausweisung von Ausländern, entartete Kunst, Frauen an den Herd, Propaganda-Parolen, Indoktrination, Todesstrafe. Und während die unterdrückte Opposition die sozialen Netzwerke nutzt, setzt der Kanzler noch aufs Staatsfernsehen. Klingt irgendwie bekannt und wenig zukunftsträchtig. Dennoch ist man sich nicht sicher, ob sich die Geschichte nicht genauso wiederholen könnte.

Erzählt wird diese Dystopie aus der Sicht von Mattea, einer jungen, unsicheren Frau, die sich aber mit ihrer Rolle im System mehr oder weniger arrangiert hat. Ihr Vater war auch ein Aufständischer, wurde aber früh verhaftet und starb im Gefängnis. Mattea ist weitgehend unpolitisch, glaubt aber an die Propaganda der Regierung, fühlt sich trotzdem unfrei und eingeschränkt. Mit der Einwilligung in die Heirat und der Aussicht auf Kinder glaubt sie, sich dem unmittelbaren Druck entziehen zu können. Doch dann erschießt sie ihre alte Rivalin Kati in einer Mischung aus Rausch und Affekt. Auf der Flucht kommen ihr ihre bei der Miliz erworbenen Fähigkeiten zugute. Mattea kokettiert mit ihrer verwechselten Identität Ina Matusek. Sie verliebt sich in den Aufständischen Tom und gerät dadurch immer weiter in eine innerliche Zerrissenheit. Denn auch die Opposition hat ihre Pläne mit ihr, sie kann nicht einfach sie selbst sein, sondern muss weiter ihre Rolle spielen. Und so wird sie widerwillig zu Austrias Katniss Everdeen.

Erfreulicherweise verzichtet Gudrun Lerchbaum auf ein allzu ausgeleiertes Gut-/Böse-Schema (wobei die Bösen zumeist tatsächlich böse sind). Dies beginnt mit der Auswahl ihrer Protagonistin, die innerhalb der ersten Seiten direkt einen Mord begeht. Und auch wenn die politischen Ziele der Opposition selbstredend demokratisch sind, gibt es unter ihnen auch Intriganten, Opportunisten und Verräter. Und bei aller solidarischen Agenda gilt auch für sie: Der Zweck heiligt die Mittel.

Lügenland ist ein spannender Zukunfts-Politthriller, der mich vor allem in der Wahl seiner zerrissenen und ambivalenten Hauptfigur überzeugt. Nicht völlig überzeugt war ich von der Ausgestaltung des autokratischen Regimes (das war mir zu konventionell) und vom Showdown am Schluss, der mir zu wenig plausibel erschien. Aber alles in allem eine lesenswerte Lektüre, die man auch als Ruf der Kassandra in Zeiten der Krise deuten kann.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Lügenland | Erschienen am 20. Juli 2016 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-550-1
432 Seiten | 17,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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