Kategorie: Kriminalroman

Dror Mishani | Drei

Dror Mishani | Drei

Sie war diejenige, die die Initiative ergriff, die die Sache beschleunigte, die kühn auftrat, ohne das bewusst entschieden zu haben, jedoch aus dem vagen Wissen heraus, dass es nur so klappen konnte, dass sie nur so das Gefühl haben würde, es zu wollen. (Auszug Seite 46)

In Tel Aviv hat die alleinerziehende Lehrerin Orna die Trennung von ihrem Ehemann noch nicht richtig verwunden und fühlt sich nach der Scheidung manchmal einsam und mit der Erziehung von Sohn Eran ein bisschen überfordert. Der introvertierte Neunjährige leidet sehr unter der Trennung von seinem Vater, mit dem er nur hin und wieder skypen kann. Denn Ronen lebt inzwischen weit weg und baut sich mit seiner neuen Partnerin und deren vier Kindern in Nepal ein neues Leben auf.

Dass bereits ein gemeinsames Kind unterwegs ist, bedeutet eine weitere Demütigung für Orna. Sie meldet sich mehr oder weniger enthusiastisch auf einem Dating-Portal an und lernt einen geschiedenen Anwalt kennen. Gil ist nicht unbedingt ihr Traummann, aber ein freundlicher, netter Typ, der gut zuhören kann. Der Vater zweier Mädchen ist geduldig und verständnisvoll und geht auf Orna ein, so dass sie sich tatsächlich langsam näher kommen.

Drei Frauen auf der Suche

Im zweiten Kapitel steht die Lettin Emilia im Mittelpunkt. Aus Riga stammend arbeitet die Neunundvierzigjährige in Israel als Pflegekraft. Zwei Jahre pflegt sie den 80-jährigen Nachum und wohnt bei ihm und seiner Frau Esther. Als der alte Herr stirbt, verliert sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Unterkunft. Zwar wird ihr eine schlecht bezahlte Teilzeitstelle in einem Seniorenheim einschließlich Schlafkammer angeboten, doch das Geld reicht hinten und vorne nicht und Emilia, kaum des Hebräischen mächtig, ist unglücklich und einsam. Sie sucht Zuflucht im Glauben, verliert aber langsam den Boden unter den Füßen. Sie würde gerne etwas dazu verdienen und wendet sich rat- und hilfesuchend an Nachums Sohn Gil, der Anwalt ist.

Was Emilia vor Esther zu verbergen suchte und auch vor anderen erfolgreich zu verheimlichen meinte, war, dass sie immer tiefer sank. Dass sie eine Hand brauchte, die ihr hingestreckt wurde und sie vor dem Ertrinken rettete. (Seite 141)

Und dann ist da noch Ella, eine siebenunddreißigjährige gestresste Mutter von drei kleinen Kindern, die noch zusätzlich an der Universität studiert. Um zwischendurch auch mal ohne Störungen an ihrer Masterarbeit schreiben zu können, flüchtet sie regelmäßig in ein kleines Café. Hier lernt sie den Anwalt Gil kennen und es entspinnt sich ein Flirt. Mehr will ich über den Inhalt gar nicht verraten, die Spoilergefahr wäre zu groß.

Der Titel ist Programm

Das Bemerkenswerte an Dror Mishanis Kriminalroman ist die ungewöhnliche dreiteilige Erzählstruktur. Der raffiniert konstruierte Plot ist in drei große Kapitel aufgeteilt, in dem je eine der total unterschiedlichen weiblichen Hauptfiguren im Mittelpunkt steht. Von Beginn an hat mir der literarisch anspruchsvolle Sprachstil gefallen, doch ich wusste lange nicht, wo der Autor hin möchte. Als es mir zum Ende des ersten Teils klar wurde, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und habe es in einem Rutsch durchgelesen.

Richtig beeindruckt hat mich Mishani mit seinen lebensnahen, authentischen Figurenzeichnungen. Mit präziser Beobachtungsgabe und großer Menschenkenntnis skizziert er die Seelenleben der Charaktere und lässt uns teilhaben an ihren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen. An einigen Stellen sind die Verletzlichkeiten und Schwächen praktisch mit den Händen greifbar. Ich denke da zum Beispiel an die sensible Schilderung, als Ornas Exmann Ronen wieder Kontakt zu seinem Sohn aufbauen möchte. Um ihn mit in den Urlaub zu nehmen, schlägt er mit seiner hochschwangeren Ehefrau und der ganzen Familie in Tel Aviv auf und bevölkert Ornas Wohnung und die hält es Eran zuliebe aus.

Sie wahrte die Fassung. Alle Schreie waren schon getan, alle Verwünschungen ausgestoßen, alle Tränen geflossen. Alles war vorüber. (Seite 92)

Man spürt die große emotionale Verbundenheit Mashinis zu seinen Figuren auch in der empathischen Beschreibung der verzweifelten Emilia, die langsam den Halt verliert in einem für sie fremden Land ohne sozialen Anschluss. Dabei sind seine Schilderungen immer sachlich, nüchtern und ohne Larmoyanz. Während ich mich in Orna sehr gut reinversetzen konnte, war ich bei Emilia ziemlich erschüttert von ihrem Schicksal. Der Autor zeigt hier eine Welt, von der ich nicht viel weiß. Ihm scheint es wichtig zu sein, die Menschen um ihn herum zu sehen und wahrzunehmen. Dabei bleibt das Innenleben von Gil bis zuletzt für den Leser bewusst im Dunkeln. Gil scheint über keine eigenen Eigenschaften zu verfügen und kann sich daher perfekt auf die Bedürfnisse seines Gegenübers einstellen. Er ist wie ein Spiegel, der den Frauen genau das projiziert, was sie suchen.

Fazit

Der Roman fasziniert mich mit seinem ruhigen und distanzierten Schreibstil. Er entwickelt eine subtile Spannung, wird immer bedrohlicher und durch unerwartete Wendungen auch sehr fesselnd. Dabei kommt der Krimiaspekt tatsächlich erst zum Schluss zum Vorschein, wobei der Roman hier nicht mehr so stark ist wie in den anderen Teilen.
Der Literaturwissenschaftler Dror Mishani wurde 1975 in Israel geboren und lebt in Tel Aviv. Er beschäftigte sich insbesondere mit der Geschichte, der Definition und der Theorie des Kriminalromans. Berühmt wurde er mit der auch in Deutschland (bei dtv) veröffentlichten Krimireihe um Inspektor Avi Avraham.

Die beiliegende Notiz des Diogenes Verlages, in der inständig gebeten wird, in der Rezension nicht zu viel zu verraten, ist ein toller Marketing-Clou. Das schürt natürlich erst mal Erwartungen, hätte es für mich aber gar nicht gebraucht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Drei | Erschienen am 28. August 2019 bei Diogenes
ISBN 978-3-257-07084-2
336 Seiten | 24,00 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Anna Simons | Verborgen

Anna Simons | Verborgen

In Verborgen wird Eva Korell, die Hauptprotagonistin, erstmals als Gefängnisärztin in München tätig. Hierher gekommen ist sie, um einen Neuanfang zu wagen, der komplett andere Arbeitsbedingungen bietet als in ihrer bisherigen Position als Klinikärztin in der Notaufnahme – aber auch, um Dinge aus ihrer privaten Vergangenheit zu vergessen. Außerdem wohnt sie nun auch näher bei ihrer Freundin Ann-Kathrin, die sie auch zu dem Wechsel nach München ermuntert hat.

An ihrem letzten freien Abend vor dem Beginn ihrer Arbeit als Gefängnisärztin fährt sie nach einem Ausflug ins Umland eine Tankstelle an. Dort fällt ihr eine junge Frau auf, die schwerfällig den Gehsteig entlang läuft, taumelt und dann einfach umkippt. Eva kommt ihr sofort zu Hilfe, doch trotz der Platzwunde am Kopf lehnt die junge Frau, Nicole Arendt, eine Einlieferung ins Krankenhaus ab. Sie verschwindet, als Eva die Rechnung zahlt und ihren Wagen holt, um Nicole nach Hause zu fahren.

Wie sich später herausstellt, ist sie die Frau eines Häftlings, Robert Arendt. Sie hat zu Hause eine Entdeckung gemacht, die sie total verstört, einen Ring, der dem Opfer eines Gewaltverbrechens gehörte. Da sie einerseits nun ihren Mann verdächtigt, ihn andererseits aber trotz häuslicher Gewalt immer noch liebt und total abhängig von ihm ist, sucht sie Hilfe bei Eva. Von deren Dienstantritt als Gefängnisärztin sie aus einer Zeitungsnotiz erfahren hat – und taucht eines Abends bei ihr auf. Die lehnt aber sofort ab, als Nicole mit ihr über ihren inhaftierten Mann sprechen möchte, als Gefängnisärztin will sie sich korrekt verhalten und sich nicht über Insassen äußern, auch nicht der Ehefrau gegenüber. Im Laufe der weiteren Handlung verschwindet Nicole Arendt, nachdem in ihrer Wohnung ein Brand ausgebrochen ist. Eva ist nun doch nachdenklich geworden und beginnt, eigene Ermittlungen anzustellen – und gerät dabei selbst in Lebensgefahr.

Die Autorin Anna Simons hat hier einen guten Start für eine neue Serie auf die Beine gestellt. Im ersten Teil wird ihre Protagonistin Eva Korell und ihre Tätigkeit als Gefängnisärztin ausführlich vorgestellt. Man erfährt einiges über den teilweise durchaus riskanten Arbeitsalltag, schon am ersten Arbeitstag muss sie sich behaupten. Sehr schnell realisiert sie, dass auch das Wachpersonal und Kollegen im Klinikbereich durchaus mit Vorsicht zu genießen sind, lässt sich jedoch nicht einschüchtern.

Auch die private Eva lernt man kennen: einerseits noch verletzlich aufgrund der Erlebnisse in ihrer Vergangenheit (die jedoch nur angedeutet werden). Aber eben auch stark genug, um mit aufsässigen Häftlingen und anderen Anforderungen fertig zu werden und empathisch genug, sich trotz anfänglicher Bedenken um eine junge Frau zu kümmern, die körperlich und seelisch schwer geschädigt ist.

Die Spannung der Handlung baut sich zwar nur langsam, dann aber kontinuierlich auf. Gut dargestellt ist auch die psychische Situation von Nicole Arendt, die trotz allem nicht von ihrem Mann loskommt. Auch diese Protagonistin ist ein wichtiger Bestandteil der Handlung, durchaus lebensnah dargestellt, sie wirkt sowohl bemitleidenswert als auch stark. Insgesamt handelt es sich hier um einen Plot, in dem es nicht direkt zu Anfang schon mit einem Mord beginnt, sich dafür aber stetig steigert und psychologisch gut durchdacht der überraschenden Auflösung nähert.

Fazit: Die Person Eva Korell und ihre berufliche Tätigkeit bietet noch genügend Möglichkeiten für weitere Fälle, man darf gespannt sein!

Anna Simons ist erfolgreiche Sachbuchautorin, studierte Anglistin und Romanistin und schreibt Sachbücher zu zahlreichen Gesundheitsthemen. Sie ist verheiratet und lebt in Berlin.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Verborgen | Erschienen am 8. Oktober 2018 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10289-2
430 Seiten | 10.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Der lombardische Kurier, Moderner Klassiker von Giorgio Scerbanenco, neu entdeckt

Dem Folio Verlag aus Wien und Bozen ist es zu verdanken, dass die vier Romane um den Mailänder Ermittler Duca Lamberti in der bewährten Übersetzung von Christiane Rhein endlich wieder vorliegen. Geschrieben hat diese Bücher Giorgio Scerbanenco, der als Vladimir Šerbanenko 1911 in Kiew geboren wurde. Mit Ausbruch der Revolution flüchtete seine Mutter mit dem Baby in ihre Heimatstadt Rom. Zwar kehrten sie noch einmal in die Ukraine zurück, aber da war sein Vater bereits tot, ermordet in den Revolutionswirren. Die Mutter wanderte mit ihrem Sohn 1927 endgültig nach Mailand aus, wo sie nur zwei Jahre später starb. Giorgio Scerbanenco, wie er sich inzwischen nannte, musste die Schule abbrechen und allerlei Aushilfsjobs annehmen, um sich über Wasser zu halten. Finanzielle Sorgen sollten ihn lange Jahre begleiten, so dass er gezwungen war, als Journalist und Schriftsteller viele Genres zu bedienen, wobei er äußerst produktiv war. Unter anderem gründete er mehrere Frauen-Zeitschriften und wurde berühmt als Kummerkasten-Onkel „Adrian“. In dieser Funktion lernte er die Gemütsverfassung der Italienerinnen kennen, ihre geheimsten Wünsche und größten Nöte und Sorgen und damit viel über den Zustand der Gesellschaft.

In seinen Krimis, die seinerzeit hochgelobt und preisgekrönt waren, schuf Scerbanenco zwischen 1966 und 1968 den ersten originär italienischen Detektiv in wahrhaft italienischen Krimis, die treffend den Alltag ihrer unterschiedlichen Charaktere und deren Umgang miteinander beschreiben, und die sehr realistisch ihre Umgebung und ihre spezielle Atmosphäre abbilden, ein Mailand nicht als kuschelige, heimelige Kulisse wie sie heute in vielen Regionalkrimis gezeigt wird, sondern fast durchgehend als düstere, neblige, bedrohliche und gefährliche Stadt. Dennoch muten die Erfahrungen, die Duca in diesem Milieu macht, als gemächliche, fast gemütliche Abenteuer an. Dabei mag Der Lombardische Kurier zur Zeit seiner Entstehung durchaus als „harter“ Krimi gegolten haben, allein auf Grund des unerhört grausamen Verbrechens.

Der Leser wird unmittelbar hineingeworfen in das Geschehen. Das Eingangsbild zeigt Duca Lamberti im Krankenhaus am Bett einer jungen Lehrerin, aber er kann nicht mehr mit ihr sprechen, sie ist gerade verstorben, den zahlreichen schweren Verletzungen erlegen, die ihr von ihren Schülern zugefügt wurden. Die haben sie im Klassenzimmer überfallen und erniedrigt, gequält und brutal vergewaltigt. Der Anblick ihres entsetzlich zugerichteten Körpers ruft in Lamberti eine unbändige Wut hervor, und er ist fest entschlossen, für die Bestien, die schuld an diesem Massaker sind, die härteste möglich Bestrafung zu erreichen. Akribisch studiert er die Akten der verhafteten Schüler, die fast alle aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen und zum Teil schon vorbestraft sind. Er ist durchaus wichtig, die sozialen Hintergründe seiner Figuren zu erkennen und zu verstehen, sich in ihre triste, aussichtslose Situation hineinzuversetzen. Natürlich treibt ihn die Frage um, wie sie zu dem wurden, was sie sind, aber Mitleid mit den Burschen hat Duca nicht. Wenn er freundlich zu ihnen ist, dann ist das Mittel zum Zweck. Mit psychologischen Tricks und mit physischem Druck, den man durchaus Folter nennen kann, versucht er in Einzelverhören die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber er kann den elf Schülern ihr gemeinschaftlich begangenes Massaker nicht beweisen. Jeder behauptet, es seien die anderen gewesen. Am Ende beschleicht Duca der Verdacht, dass ein Erwachsener die Schüler angestiftet und das Verbrechen organisiert hat.

Als sich der einzige Junge, der vielleicht zu einer Aussage bereit gewesen wäre, in den Tod stürzt, wagen Lamberti und sein Vorgesetzter Carrua ein riskantes Experiment: Duca nimmt einen der Schüler mit nach Hause und hofft, sich sein Vertrauen zu erschleichen zu können. Zunächst scheint sein Plan aufzugehen, doch dann entschließt sich sein Schützling, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf ein besseres Leben und der Angst vor der Anstalt, zu fliehen. Er ahnt nicht, dass er beschattet wird und nimmt Kontakt auf zu der Person, die Duca unbedingt finden muss, weil sie der Drahtzieher in diesem Drama ist. Das gelingt letzten Endes, und damit ist dann auch schon die ganze Geschichte erzählt.

Duca hat also Recht behalten mit seiner Vermutung, aber es dauert lange, bis er die anderen und vor allem seinen Chef überzeugen kann, in diese Richtung zu ermitteln. Obwohl er wieder und wieder seine Theorie mit den immer gleichen Worten herunterbetet, begegnet man ihm mit Zurückhaltung. Ständige Wiederholungen sind als Stilmittel eigentlich verpönt, unterstreichen hier aber die Hartnäckigkeit und Sturheit des Ermittlers. Dass es schließlich genau so ist und genau so kommt wie er es erwartet hat, passt zu dem spannungsarmen Plot, der nüchtern, realistisch Fakt an Fakt reiht. Wahrlich kein Thriller, Spannung kommt bei Polizeiroutine mit scheinbar endlosen Verhören, Ortsbesichtigungen, vielen Befragungen und noch mehr Laufarbeit kaum auf. Und zunächst kommt Duca auf diese Art auch zu keinem Ergebnis, er bekommt zunehmend Zweifel am Sinn seiner Arbeit. Auch, weil ihn die Gleichgültigkeit seiner Umgebung und die abwehrende Haltung seines Chefs wütend machen. Der ist Pragmatiker, er mag Ducas Art nicht, sich in eine Sache hineinzusteigern und immer ein philosophisches Problem daraus zu machen, die Dinge mit seinem Eigensinn noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind.

Diese starke Figur Duca Lamberti ist hauptsächlich verantwortlich für den Erfolg der Romanreihe. Er ist Arzt, hat aber seine Approbation verloren, weil er wegen Sterbehilfe zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Für ihn war die Entscheidung, das Leiden einer alten Dame abzukürzen, ein Akt der Nächstenliebe. Desillusioniert, angeekelt vom Leben und verzweifelt am Zustand der Welt nimmt er nun aus Geldmangel seine Tätigkeit als Ermittler für Kommissar Carrua auf, einen ehemaligen Kollegen seines Vaters bei der Mailänder Polizei. Seine mit einem Kind sitzen gelassene Schwester versorgt er so gut er kann. Ihre kleine Tochter Sara liebt er zärtlich. Als aber das Mädchen plötzlich hohes Fieber bekommt, lehnt er es ab, an ihr Krankenbett zu kommen, ihm ist es wichtiger, ein vielleicht entscheidendes Verhör durchzuführen. Stattdessen schickt er einen befreundeten Arzt, der dem Kind allerdings nicht helfen kann, es stirbt im Krankenhaus.

Duca ist zwar betroffen vom Tod der Kleinen, aber Selbstvorwürfe oder Zweifel an seinem Handeln gibt es für ihn nicht. Er kann durchaus mitfühlend sein, aber genau so kalt und roh, geradezu bösartig. Er vereint völlig widersprüchliche Regungen in sich und entscheidet aus dem Bauch heraus. Er denkt durchaus differenziert über Schuld und Sühne nach, über den Rechtsstaat, seine Gesetze und Strafen, genauso aber kann er von Jetzt auf Gleich Verbrechern gegenüber gewalttätig werden. Dieses ambivalente Verhalten macht Duca so interessant, wenn auch nicht sonderlich sympathisch. Aber er ist ein fanatischer Sucher nach Gerechtigkeit, und sein Hass auf alle, die sich dem widersetzen, lässt ihn mitunter zur Selbstjustiz greifen. Anders lässt sich dem Gesindel nicht beikommen, mit dem er es zu tun hat, deshalb sind ihm alle Mittel recht, er ist stets bereit, Vorschriften in seinem Sinne auszulegen oder zu übergehen und sogar Gesetze zu übertreten. Lamberti weiß, dass das Böse, das Verbrechen nicht auszurotten ist, trotzdem nimmt er diesen Kampf an – mit Mitteln, die mehr als fragwürdig sind. Die Verbrecher, das ist ihm schmerzlich bewusst, nutzen jede Gesetzeslücke und beugen wo es geht mit Hilfe ihrer Anwälte das Recht. Duca verachtet die Kriminellen, und er hat eins gelernt: Dieses Gesindel versteht nur eine Sprache: Gewalt. Und die wendet er an, wenn es ihm opportun erscheint, Gesetzt hin, Moral her.

Scerbanenco überlässt es dem Leser, dieses Verhalten zu bewerten, er selbst fällt kein Urteil über seinen Hauptdarsteller, gibt keine Erklärung für sein Handeln. Wohl legt er ihm knochentrockene und ironische, ja sarkastische oder gar zynische Kommentare in den Mund, auch lässt er Duca skeptische, manchmal resignierte Gedanken äußern. Er redet, wie er denkt, und er denkt, was man damals so dachte. Political Correctness hat keinen Platz in dieser gar nicht so guten, alten Zeit Ende der sechziger Jahre mit ihren verklemmten Moralvorstellungen, verstaubten Weltanschauungen und engstirnigen Denkweisen. Das Frauenbild in Scerbanencos Romanen kann aus heutiger Sicht nur entweder verstören oder empören, und die Behandlung der schwulen und lesbischen Figuren ist nur entschuldbar vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund und seinen Einflüssen, denen sich auch der Autor nicht entziehen konnte. Fortschrittliche Empfehlungen zur Bewältigung der sozialen Probleme gelten allenfalls als Zeitverschwendung, pädagogische Ansätze als sinnlos. Resozialisierung ist ein Fremdwort, die Jugendlichen Straftäter werden in Besserungsanstalten gesteckt, in denen sie gezüchtigt werden, noch mehr verrohen, und wenn sie alt genug sind verschwinden sie im Knast.

Lediglich Livia Ussaro, die ihrer Zeit voraus ist und so gar nicht in diese Gesellschaft zu passen scheint, verkörpert einen Fortschritt, den die übrigen Figuren nicht erkennen und auch nicht wollen. Sie unterstützt ihren Freund Duca tatkräftig, auch nachdem sie dabei im ersten Roman der Reihe (Verräter und Verratene) von einem Mafioso mit zahlreichen Messerschnitten im Gesicht entstellt wurde. Livia ist eine starke, selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die streng rational und logisch denkt und handelt. Als Sozialforscherin beschäftigt sie sich mit der Ausbeutung der Frauen. Die Emanzipation steckt noch in den Kinderschuhen, Wir befinden uns am Vorabend der 68er-Bewegung, die auch in Italien und gerade in Mailand zu massenhaften Protestaktionen der Studenten und Arbeiter und letzten Endes zu etlichen sozialen Umbrüchen führen sollte.

Von solchen Veränderungen ist bei Scerbanenco noch wenig zu spüren, am ehesten noch kündigt sich der Wandel im Erscheinungsbild der Stadt an. Das alte, ursprüngliche Mailand geht gerade unter, noch ist es hier und da sichtbar und Duca schildert liebevoll die ärmliche Viertel mit ihren alten, zum Teil baufälligen Häusern, die leider keine Zukunft haben, ihren charakteristischen Schänken und deren typischen Gästen. Hier hat Mailand noch seinen ursprünglichen Charme. Aber das Italien der 1960er-Jahre hatte, wie auch die junge Bundesrepublik, ihr Wirtschaftswunder. Da dachte zunächst niemand an eine moralische Erneuerung, Aufarbeiten des Faschismus: Fehlanzeige. Genau wie in der Bonner Republik wurde verdrängt und verschwiegen, zumindest verharmlost. Die alten Kader tauchten aus der Versenkung auf und besetzten erneut hohe Posten in Politik, Justiz und Verwaltung. Lehren aus den Verbrechen der gerade untergegangenen faschistischen Regimes zog kaum jemand. Die neuen Republiken nannten sich zwar nun demokratisch und die Gesellschaft gab sich auch so, tatsächlich wurden die alten Strukturen nahtlos übernommen und verinnerlicht.

Scerbanenco lässt seinen Duca Lamberti daran verzweifeln. Ihm sind die moralisch korrupten Mitglieder der privilegierten Klasse zutiefst zuwider. Der wirtschaftliche Aufschwung war verbunden mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel. Mit der Folge, dass Mailand auch die Hauptstadt der illegalen Bordelle und der schäbigen Nachtclubs wurde, Anziehungspunkt für Verbrecher aller Art, sogar die Mafia machte sich breit. Scerbanenco beobachtet die Entwicklung mit Sorge, aber nüchtern, scharfsichtig und scharfzüngig, und er prangert die sozialen Probleme ohne jede Sozialromantik an.

Die Fälle, die Duca Lamberti beschäftigen sind ungewöhnlich, unerhört und doch alltäglich. Er hält sich schließlich häufig in den gesellschaftlichen Grauzonen auf, wo er viel gesehen und erlebt hat bei Begegnungen mit dem Bodensatz der Gesellschaft, in schummrigen Bars und Verbrecherkneipen, in einer Ambulanz für geschlechtskranke Huren und nicht zuletzt im Knast. Da trifft man dann eben auf Typen, denen man lieber nie begegnet wäre. In vielen Kriminalromanen seiner Zeit geben häufig eher schlichte, grob gezeichnete und daher leicht einzuordnende und einfach zu durchschauende Figuren den Ton an, gegen die Scerbanencos Charaktere schon recht vielschichtig und komplex erscheinen. Sein etwas hinkender Plot im vorliegenden Roman erscheint dagegen aus heutiger Sicht eher hausbacken und unspektakulär, ganz ohne erstaunliche Entdeckungen oder verblüffende Volten, dagegen schnörkellos, ehrlich und geradeaus.

Dass er nach fünfzig Jahren immer noch mit Vergnügen gelesen werden kann, liegt zum einen an Scerbanencos starken Figuren, Sie faszinieren, obwohl in ihrer Zeit verhaftet, mit zeitlosen Attributen und Attitüden. Zum anderen sind die Themen erstaunlich aktuell geblieben. Vor allem aber verblüfft der freilich punktuell überholte, gleichzeitig jedoch recht moderne Stil Scerbanencos. Hauptsächlich beeindruckt sein eleganter, fast unmerklicher Wechsel der Erzählperspektive, der Übergang von der personalen in die auktoriale Sicht und zurück. Seiner Titelfigur gibt das die willkommene Möglichkeit, sich höchst privat zu äußern, zu bewerten, zu beurteilen, zu verurteilen. Direkt, unmissverständlich, rigoros. Hier spricht ein Zweifler, ein Moralist und scharfsichtiger wie scharfzüngiger Kritiker. Ducas Kommentare triefen vor Sarkasmus, ja, Zynismus, manchmal böser Komik, aber es ist jederzeit klar, woher sein distanziertes, scheinbar unbarmherziges Auftreten rührt. In der Tat, Duca provoziert und polarisiert, und er fasziniert mit seiner unerschütterlichen und hochemotionalen Art.

Fazit: Trotz der erwähnten Schwachstellen allemal passabler, solider Krimistoff!

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Der Lombardische Kurier | Erschienen am 19. Februar 2019 im Folio Verlag
ISBN 978-3-85256-756-3
256 Seiten | 18.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Die Rezension zu Das Mädchen aus Mailand von Giorgio Scerbanenco

Alan Carter | Marlborough Man

Alan Carter | Marlborough Man

Der Himmel ist klar, die Sterne leuchten. Da oben ist das Kreuz des Südens, weiter westlich entdecke ich den Skorpion. Der Busch ist voller Vogelgeräusche und Rascheln. Ein seltsames Land. An manchen Tagen ist seine Schönheit atemberaubend, dann wieder nimmt einem die Hässlichkeit die Luft. (Auszug Seite 126)

Nick Chester leitet als Sergeant die Polizeistation in Havelock in den Marlborough Sounds an der Nordküste der Südinsel Neuseelands. Für seinen Dienstgrad eigentlich ein etwas unbedeutender Posten, gibt es dort doch hauptsächlich Trunkenheitsraufereien und Verkehrsdelikte. Und auch aktuell hat es Nick eher mit einem lästigen Fall zu tun: Die Yacht des Holzindustriellen McCormack wurde mit einem Graffito besprüht. Der großspurige McCormack besitzt große Waldflächen rund um Havelock, ist Hauptarbeitgeber der Gemeinde und nutzt dies auch aus, so dass Nick wenig Lust verspürt, den Sprayer zu ermitteln.

Allerdings gibt es in den Sounds nun auch einen großen Kriminalfall. Ein sechsjähriger Junge ist nach dem Schwimmunterricht verschwunden und wird missbraucht und ermordet aufgefunden. Doch Nick nimmt zunächst nur eine Nebenrolle in den Ermittlungen ein. Das liegt daran, dass ihn seine Vergangenheit als Undercover-Cop wieder einholt. In Sunderland in Nordengland hat er vor einigen Jahren die dortige Gangstergröße in den Knast gebracht. Dieser schwor Rache und so wurde Nick mit Ehefrau und Sohn mit neuem Namen versehen und quer über den Erdball verfrachtet. Doch im heutigen digitalen Zeitalter bleibt nichts geheim und so erhält der zunehmend paranoische Nick mehr und mehr Indizien, dass seine alten „Kumpels“ aus Sunderland es auf seinen Kopf abgesehen haben. Und nicht nur auf seinen.

Ich weiß, wer da kommt. Sammy Pritchard. Er lässt mich wissen, dass er mich endlich gefunden hat. Seine Macht reicht weit, noch aus dem Hochsicherheitsgefängnis streckt er seinen Arm nach mir aus. […]
Ich sehe Vanessa an, sie ist schlaftrunken und genervt. Ich denke an Paulie, der unten schläft. Wird sich Sammy mit mir begnügen und die beiden am Leben lassen? Nein. Natürlich nicht. (Seite 12)

Autor Alan Carter ist ein Mackem, also gebürtig aus Sunderland, lebt aber schon seit mehr als zwanzig Jahren in Australien und Neuseeland. Carter hat sich auch in Deutschland in der Krimibranche mit seinen beiden bislang auf Deutsch bei der Edition Nautilus erschienenen Romanen Prime Cut und Des einen Freund einen Namen gemacht, so dass nun sein neuer Roman im Suhrkamp Verlag erscheint. Marlborough Man gewann übrigens im letzten Jahr den Ngaio Marsh Award, den renommiertesten Krimipreis Neuseelands.

Der Protagonist Nick Chester wird hier auf einen wahren Parforceritt beruflich und privat geschickt. In Rückblenden erfährt der Leser von Nicks Undercoverjob und wer ihm aufgrund dessen immer noch auf den Fersen ist. Das belastet Nick selbstredend auch privat. Seine Frau Vanessa ist über den Umzug nach Neuseeland immer noch wenig begeistert, trotz der aus Herr der Ringe bekannten Landschaft. Der gemeinsame Sohn Paulie bedarf wegen seines Down-Syndroms zusätzlicher Aufmerksamkeit. Als dann noch Killer aus der Vergangenheit auftauchen, kriselt es in der Ehe gewaltig. Dies wird neben den Krimi- und Thrillerhandlungen glaubhaft erzählt. Außerdem nimmt auch die Māori-Kultur einen Raum in der Geschichte ein und das immer noch schwierige Verhältnis zwischen den Ureinwohnern und den Pākehā, den europäisch stämmigen Einwohnern.

Carter kreiert aus den Zutaten eine Mischung aus klassischem Whodunit mit (nicht immer) klassischer Ermittlungsarbeit und einem packendem Thriller. Dabei muss man klar zugeben, dass er das Rad nicht neu erfindet. Einige Motive sind aus anderen Romanen des Genres wohl bekannt. Überzeugend ist aber, dass der Autor die Klaviatur exzellent beherrscht, die (zahlreichen) Figuren bleiben nie oberflächlich, die Dialoge sind knackig und auch das Setting Neuseeland wird gebührend eingebaut. Insofern gibt es von mir eine klare Empfehlung!

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Marlborough Man |  Erschienen am 17. Juni 2018 im Suhrkamp Verlag
ISBN 987-3-518-46932-3
384 Seiten | 14.95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Karin Kehrer | Todesklang und Chorgesang

Karin Kehrer | Todesklang und Chorgesang

Die pensionierte Lehrerin Bee Merryweather lebt in dem beschaulichen South Pendrick in Cornwall, ihr Lieblingshobby ist das Singen im örtlichen Kirchenchor. In ihrem ersten Fall findet sie eines morgens den nicht sehr beliebten Chorleiter Peter Bartholomew tot in seinem Haus. Dann erfährt sie, dass er vergiftet wurde und kann es anschließend nicht lassen – wie einst Miss Marple – selbst Ermittlungen anzustellen. Das ist nicht ganz einfach, da anscheinend so ziemlich jedes Chormitglied und dazu einige Dorfbewohner einen Grund hatten, Peter ans Leben zu wollen. Zugute kommt ihr, dass sie sich mit dem Dorfpolizisten David gut versteht, auch dem Arzt des Dorfes, Dr. Strong, ist sie sehr sympathisch; beide helfen ihr auf unterschiedliche Weise, wenn auch teilweise unfreiwillig. Bis zur endgültigen Auflösung, die doch ziemlich überraschend daherkommt, erlebt Bee Einiges und lernt einige Geheimnisse der Dorfbewohner kennen; dabei gerät sie selbst allerdings auch in Gefahr.

Die Personen der Handlung sind sehr lebendig dargestellt. Allerdings macht es das dem Leser auch ziemlich schwer, selbst auf den Täter zu kommen. Zu viele der Dorfbewohner haben anscheinend ein Motiv und ausgerechnet der Pfarrer hat sich als Hobby einen Garten mit Giftpflanzen angelegt. Leider wurde ausgerechnet mit dem Extrakt aus einer dieser Pflanzen der Tod von Peter herbeigeführt.

Insgesamt gesehen hat die Autorin einen sehr stimmigen Plot aufgebaut und mit ihrem ansprechenden Schreibstil eine Dorfatmosphäre geschaffen, die einem das Gefühl gibt, selbst mittendrin zu sein. Man ist fast geneigt, seinen nächsten Urlaub in South Pendrick zu planen, um Bee kennen zu lernen und mit ihr eine Tasse Tee zu trinken. Vorerst darf man jedoch gespannt sein, wie es mit Bee – und Dr. Strong (!) – weitergeht.

Alles in allem für Liebhaber von Cosy-Crime-Romanen sehr zu empfehlen, tolle Kulisse und eine liebenswerte (wenn auch manchmal leicht unbeholfene) Hauptperson.

Karin Kehrer wurde 1965 im Mühlviertel in Oberösterreich geboren, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Sie schreibt vorwiegend Romane in den Genres Krimi, Fantasy und Thriller und lässt sich von Reisen auf die britischen Inseln inspirieren. Zu ihren Hobbys zählt auch das Singen, das spiegelt sich auch in ihrem ersten Roman um Bee Merryweather wieder.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Todesklang und Chorgesang | Erschienen am 30. November 2018 bei Ullstein
ISBN 978-3-95819-230-0
251 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe