Ahmed Mourad | Vertigo

Ahmed Mourad | Vertigo

„Und was, meinst du, sollen wir tun?“
„Wir lassen Sie hochgehen!“
„Ich verstehe nicht.“
„Die Fotos, die du gemacht hast, werden ihre Verbrechen an den Menschen nicht ans Licht bringen, aber sie werden dafür sorgen, dass die Menschen keinen Respekt mehr vor ihnen haben. Sie werden ihr Vertrauen erschüttern. Dieses schlafende Volk liebt den Aufruhr. Zerschneiden wir das Tischtuch! Geben wir dem Volk einen Skandal, um es aufzuwecken! Reißen wir denen das Handtuch von den Lenden! Zeigen wir den Menschen, wer ihnen Essen und Trinken gibt und wo sie ihr Geld hintragen! Sie sollen die Hure sehen, die sich erst für mehrere Tausender in Bewegung setzt und dann sieben auf einmal bedient, während sich manche Wissenschaftler mit dem Allernötigsten begnügen müssen. Sie sollen erkennen, dass es so nicht weitergeht, erfahren, dass es einen großangelegten Plan gibt, sie für dumm zu verkaufen und zu melken. Was ist das für ein Volk? Will es denn nicht endlich wach werden?“ (Auszug Seite 280)

Achmad Kamal ist als Hochzeitsfotograf in einem Kairoer Hotel tätig. Nach getaner Arbeit fährt er nach oben in die Bar im vierzigsten Stock. Dort arbeitet sein Freund Hussam als Barpianist. Als der Manager in Erwartung wichtiger Gäste die Bar inspiziert, verzieht sich Achmad auf den Balkon. Es finden sich kurz darauf zwei bekannte Geschäftsmänner samt Leibwächter in der Bar ein. Achmad ist immer noch auf dem Balkon, als plötzlich drei Bewaffnete die Bar stürmen, das Feuer eröffnen und ein Blutbad anrichten. Lediglich einer der Geschäftsmänner, der Waffenhändler Dhannun wird schwer verletzt zurückgelassen, ansonsten werden alle Zeugen, auch die Barangestellten und Hussam liquidiert. Nur Achmad bleibt auf dem Balkon unentdeckt und kann den Auslöser seiner Kamera betätigen.

Achmad kann entkommen, auf seinen Bildern kann zwar kein Angreifer identifiziert werden, dennoch schickt er die Bilder anonym zur Staatsanwaltschaft und zur Zeitung „Freiheit“, einem unabhängigen Boulevardblatt. Einige Bilder werden veröffentlicht, doch nicht um die Hintergründe aufzudecken, sondern um wilde, unhaltbare Spekulationen zu entfachen. Auch von der Polizei wird nach den unbekannten Tätern nicht gesucht. Nichts geschieht, ein ganzes Jahr lang. Achmad arbeitet inzwischen im Kasino Paris, einem Nachtclub, als Fotograf. Sein väterlicher Freund Guda führt ihn in die Szene der Reichen und Mächtigen ein, die manchmal bezahlen, damit man sie fotografiert und manchmal, dass man kein Foto macht. Einer der Gäste, die es sich gut gehen lassen zwischen lasziven Tänzerinnen, Alkohol und blutjungen Begleiterinnen, ist der Chefredakteur der „Freiheit“, Galal Mursi. Achmad beobachtet die Nächte und Vorgänge im Kasino mit zunehmendem Unbehagen. Eines Abends kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem Achmad von einem der VIPs beleidigt und geohrfeigt wird. Achmad ist tief gekränkt. Kurz darauf stirbt Guda bei einem Verkehrsunfall und hinterlässt Achmad sein Fotoarchiv voller Fotos wichtiger Persönlichkeiten bei ihrem fragwürdigen Tun im Nachtklub. Und noch eine Überraschung: Auch Guda hat Fotos vom Massaker im „Vertigo“ gemacht, von einem gegenüberliegenden Hotel. Und im Gegensatz zu Achmads Bildern ist auf diesen Fotos ein Killer erkennbar. Achmad entschließt sich, Mursi zu erpressen, damit dieser die Bilder erneut veröffentlicht und scheucht damit die Hintermänner von damals erneut auf.

Eine sehr klassische Hauptfigur für einen Thriller, dieser Achmad. Ein junger Fotograf, der in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters tritt, sich zu Höherem berufen fühlt und seine Arbeit als Hochzeitsfotograf nicht ausreichend gewürdigt sieht. Dieses Blutbad, in dem sein Freund getötet wird und das er nur durch Zufall unbeschadet übersteht, setzt ihm arg zu. In seinem neuen Betätigungsfeld im Nachtclub betrachtet er mit wachsendem Unbehagen und zunehmender Abscheu die allabendlichen Szenen der Reichen und Mächtigen. Im Grunde ist Achmad ein liebenswerter Träumer. Vor allem sind seine Annäherungsversuche und seine naiv-verliebte Turtelei mit der tauben Ghada amüsant. Doch auf einmal entwickelt er, hervorgerufen durch eine Demütigung, die ihm endgültig die Augen öffnet, Mut und Entschlossenheit. Begleitet wird er dabei von seinem Freund und Photoshop-Spezialist Omar, der immer wieder versucht, Achmad von weiteren riskanten Aktionen abzuhalten. Die beiden bilden vor allem in den freundschaftlich-gehässigen Dialogen ein wunderbares Gespann.

Ein kindlich wirkendes junges Mädchen öffnete ihm, das all den anderen Büromädchen ähnelte, die der Chefredakteur persönlich sorgfältigst auszuwählen pflegte, indem er jede einzeln interviewte, um festzustellen, inwieweit sie bereit war, eine Vorleistung auf erhoffte Wohltaten zu gewähren. (Seite 226)

Vertigo ist das Debüt des Autors Ahmed Mourad. Der Thriller ist im Baseler Lenos Verlag erschienen, der arabische Literatur als einen Schwerpunkt hat und bereits einen weiteren Roman des Autors (Diamantenstaub) verlegt. Mourad arbeitete wie sein Protagonist selbst als Fotograf, allerdings im Stab des ehemaligen ägyptischen Staatspräsident Mubarak. Der Thriller erschien 2007 im Original, spielt auch zu dieser Zeit und bietet einen tiefen Einblick in die Strukturen der ägyptischen Gesellschaft. Eine dekadente und korrupte Elite aus Staatsapparat, Medien und Wirtschaft, die das Land fest im Griff hat, das Volk täuscht und Abtrünnige gnadenlos bestraft.

Mourads Beschreibungen erinnerten mich sehr an die seines algerischen Kollegen Yasmina Khadra. Ebenfalls bedeutend ist der zunehmende Konflikt zwischen säkularer und religiöser Bevölkerung, in diesem Fall zwischen Achmad und seiner Schwester bzw. seinem Schwager. Der Titel bezieht sich übrigens auf den Namen der Hotelbar, in der das Massaker zu Beginn stattfindet, und diese selbstverständlich auf den bekannten Hitchcock-Thriller. Überhaupt baut Mourad zahlreiche cineastische Reminiszenzen ein, insbesondere des ägyptischen Films.

Vertigo ist ein über weite Strecken temporeicher und spannender Thriller, lediglich zur Mitte des Buches verliert sich der Autor ein wenig in der Beschreibung von Nebenfiguren. Ansonsten ist ihm aber auf jeden Fall ein lesenswerter Roman gelungen, der vor allem in der Gesellschaftskritik überzeugt.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Vertigo | Erschienen am 15. Februar 2016 im Lenos Verlag
ISBN 978 3-85787-463-5
398 Seiten | 22,-  Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

0 Replies to “Ahmed Mourad | Vertigo”

  1. Das Buch steht auch noch auf meiner Leseliste und deine Besprechung klingt sehr vielversprechend, meine Erwartungen gehen bei diesem Thriller vor allem in Richtung Einblicke in Kultur und Gesellschaft, wobei natürlich auch die Handlung stimmig sein sollte ;), aber bei mir überwiegt tatsächlich die Neugier auf einen ägyptischen Autor, es ist immer spannend zu schauen, wie das Genre aus anderen Blickwinkeln heraus erzählt wird.

    1. Das war auch mein Grund, das Buch zu lesen und das wurde auch erfüllt. Es ist sozusagen die Stimmungslage vorm Arabischen Frühling, vor den Demos auf dem Tahrirplatz. Wobei Ägypten inzwischen ja wieder in diese alten autokratischen Zeiten zurückfällt.

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