Simon Beckett | Totenfang ♬
„Der menschliche Körper, selbst zu über sechzig Prozent aus Wasser bestehend, ist nicht von sich aus schwimmfähig. Er treibt nur so lange an der Wasseroberfläche, wie Luft in den Lungen vorhanden ist. Sobald sie den Körper verlässt, sinkt er langsam auf den Grund. Wenn das Wasser warm genug ist, um Bakterien Lebensraum zu bieten, verwest er. In den Eingeweiden entstehen Gase, die dem Körper Auftrieb geben, so dass er an die Oberfläche zurückkehrt. Dann erheben sich ganz buchstäblich die Toten.“ (Anfang des Romans)
Im fünften Fall der Reihe um den Anthropologen Dr. David Hunter ist dieser immer noch an einer Londoner Uni angestellt. Der Witwer hat den Verlust seiner Frau und Tochter durch einen Unfalltod einigermaßen überwunden, aber um seine sozialen Kontakte ist es immer noch nicht gut gestellt. Beruflich eine Koryphäe, hat sein Ruf Schaden durch den Fall im letzten Band genommen, so dass er erst mal nicht mehr als Forensiker zu Rate gezogen wird. Deshalb freut er sich, als er einen Anruf von der Ostküste Englands von einem ihm unbekannten Detective bekommt. DI Bob Lundy bittet ihn um Mithilfe bei der Bergung einer Wasserleiche in einem abgelegenen Küstengebiet nördlich der Themsemündung, den sogenannten Backwaters. Überrascht und neugierig macht sich Hunter sofort auf in das von Kanälen und Prielen durchsetzte Mündungsgebiet von Essex, da der den Gezeiten ausgesetzte Körper bei unsachgemäßer Behandlung schnell in Einzelteile auseinanderfallen könnte.
In den Backwaters
Weit draußen im Sumpfgebiet gelingt es mit Hunters Hilfe die auf einer Sandbank angespülte, stark verweste Leiche zu heben. Unter den Schaulustigen, die sich auf dem Gelände einer ehemaligen Austernfischerei eingefunden haben, befindet sich auch Sir Stephen Villiers. Der vermögende, einflussreiche Gutsherr aus der Gegend befürchtet, der Tote könnte sein seit mehreren Wochen verschwundener Sohn Leo sein. Und obwohl Hände und Füße fehlen, wird anhand der Kleidung und der Uhr des Toten schnell vermutet, dass es sich tatsächlich um den vermissten Leo Villiers handelt. Eine Schussverletzung am Kopf deutet auf einen Selbstmord des jungen Lokalpolitikers hin, der aufgrund seines lockeren Lebenswandels auch das schwarze Schaf der Familie war. Eine Obduktion am nächsten Tag, zu der auch Hunter geladen ist, soll genauere Erkenntnisse liefern.
Auf dem Weg zurück verliert Dr. Hunter in dem unübersichtlichen Labyrinth aus Wasserwegen die Orientierung und bleibt mit seinem Fahrzeug in einer Furt stecken. Ein vorbeikommender Autofahrer hilft ihm aus seiner misslichen Lage. Da sein Wagen schweren Schaden genommen hat, kann er in dem Bootshaus seines Retters unterkommen. Trotzdem wirkt Andrew Trask abweisend und verbittert. Er lebt mit seinen beiden Kindern und seiner Schwägerin Rachel in einem einsamen Haus in den Backwaters. Seine Frau Emma, eine Fotografin und Innenarchitektin, wird nach einer lautstarken Auseinandersetzung mit Leo Villiers, mit dem ihr ein Verhältnis nachgesagt wird, auch seit einiger Zeit vermisst. Als Hunter kurz darauf einen Turnschuh mitsamt Fuß aus dem Treibgut im Flussbett angelt, ist er sich ziemlich sicher, dass dieser zu einer anderen Leiche gehört. Am nächsten Tag wird in einem Flussarm, eingewickelt in Stacheldraht, eine zweite Leiche entdeckt, und Dr. Hunter vermutet hier, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um den gesuchte Villiers handelt.
Die Männergrippe
Simon Beckett punktet auch hier wieder mit seinem sympathischen Protagonisten David Hunter, der einfach ein netter Kerl ist. Der zurückhaltende, schicksalsgebeutelte Mann mittleren Alters ist gesundheitlich angeschlagen und hat sich auf See ziemlich erkältet. Fortan kämpft er mit Fieber und anderen Wehwehchen und denkt gleich an eine schlimme tödlich verlaufende Krankheit. Aufgrund der ständigen Hinweise auf seinen Gesundheitszustand konnte ich mir ein Augenrollen oft nicht verkneifen. Aber zumindest grübelt der schwermütige David nicht ganz so stark wie in anderen Bänden vorher und bändelt sogar mit der attraktiven Rachel an.
Hervorragend sind Becketts atmosphärisch dichten Beschreibungen des rauen Küstenstrichs. Eine unwirtliche Gegend, in der ständiger Regen und Sturmböen, sowie das Auf und Ab der Gezeiten eine bedrohliche, düstere Stimmung erzeugen. Das Marschland wird durch ein Gewirr von Kanälen und Bächen durchzogen, die bei Ebbe leerlaufen und dann Schlick und Schlamm freilegen. Nachdem die Austernfischerei nicht mehr das Leben der Bewohner in dem kleinen Küstenort bestimmt, bildet die menschenleere Einöde einen bedrückenden und deprimierenden Anblick. Die Beschreibungen von Land und Leuten sind einfach stimmig und erzeugen entsprechend passende Bilder.
Der erste bereits 2006 erschienene Band Die Chemie des Todes um Dr. David Hunter hatte mich damals sehr begeistert. Aber bereits bei den nachfolgenden Bänden waren die ersten Abnutzungserscheinungen nicht zu übersehen. Den fünften Teil verfolgte ich als Hörbuch auf meinem Arbeitsweg. Und dabei stört es mich meistens nicht sonderlich, wenn die Geschichte so ein bisschen dahin plätschert. Beckett glänzt in Totenfang nicht mit atemlosen Thrill oder actiongeladener Spannung. Es ist ein solider, spannender Plot mit einigen überraschenden Wendungen, den der britische Autor hier routiniert erzählt, vielleicht etwas behäbig aber immer noch besser als viele andere Autoren.
Seine Geschichten sind natürlich auch immer ein bisschen unappetitlich, obwohl so viele Beschreibungen der forensischen Details in Totenfang gar nicht vorkommen. Allerdings bin ich mit den gefundenen Leichenteilen auch ein wenig durcheinander gekommen. Erst ganz zum Schluss wird die Spannungsschraube noch angezogen und der temporeiche Showdown in einem verfallenen Wehrturm auf hoher See wartet mit einer unerwarteten Lösung auf.
Kino im Kopf
Johannes Steck hat sämtliche Krimis von Simon Beckett eingelesen und wurde dafür mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Mit seiner wohlmodulierenden Stimme gibt er allen Stereotypen wie dem gutmütigen Polizisten Lundy, dem mürrischen Trask oder dem arroganten Großgrundbesitzer eine individuelle Note. Man hat die Situationen und Figuren stets vor Augen und so entsteht Kino im Kopf.
Rezension und Foto von Andy Ruhr.
Totenfang | Als Hörbuch am 14. Oktober 2016 im Argon Verlag erschienen
ISBN: 978-3-8398-1535-9
ungekürzte Lesung von Johannes Steck
12 Audio-CDs
Laufzeit: 12 Stunden, 47 Minuten
Die Buchausgabe erschien bei Rowohlt
Bibliografische Angaben & Hörprobe | Trailer zu Totenfang | 55 Minuten XXL-Hörprobe
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