Óscar Martínez | Eine Geschichte der Gewalt

Óscar Martínez | Eine Geschichte der Gewalt

In dem Brunnen liegen Leichen. Vielleicht zehn, vielleicht zwölf, vielleicht sogar zwanzig. Bestimmt nicht weniger als vier. Wir befinden uns in der Gemeinde Turín im Westen El Salvadors. Man fährt über eine ungepflasterte Straße, an Bahngleisen entlang, an Lehmhütten vorbei, und dann, hinter einem Maisfeld, da gibt es einen Brunnen, und tief unten, auf dem Boden des Brunnens, liegen Leichen. (Auszug Seite 119)

El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua – vier Länder Mittelamerikas, die aktuell nicht unbedingt im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen. Das war mal anders als im Kalten Krieg die Amerikaner mit allen Mitteln ihren „Hinterhof“ sauber halten wollten und rechte Militärs im Kampf gegen linke Guerillas und Oppositionsgruppen unterstützten. Der Kalte Krieg ist vorbei, die Abhängigkeit von den Gringos ist geblieben, die Probleme auch. Alle diese Länder haben nach wie vor große soziale Probleme und hohe Kriminalitätsraten, denn sie liegen strategisch günstig an den zwei lukrativen Transitstrecken von Drogen und Flüchtlingen Richtung USA.

Óscar Martínez gilt als einer der renommiertesten investigativen Journalisten Zentralamerikas. Er schreibt zurzeit bei ElFaro.net. Die Internet-Zeitung mit Sitz in El Salvador bezeichnet sich selbst als die erste Online-Zeitschrift Lateinamerikas („El primer periódico digital latinoamericano“). Laut englischem Wikipedia-Eintrag ist „El Faro“ eher der politischen Linken bzw. den Antiautoritariern zuzuordnen und bildet damit einen Gegenpart zu den traditionell konservativen Medien El Salvadors. Einer der Schwerpunkte der Zeitung ist der investigative politische Journalismus („El Faro“ gehörte u.a. zu der globalen Medienkooperative bei den „Panama Papers“).

In Eine Geschichte der Gewalt fasst Martínez seine wichtigsten Reportagen (insgesamt 14) zusammen. Er hat sein Buch in drei Teile aufgeteilt: Einsamkeit, Wahnsinn und Flucht. Im Vorwort erläutert er die dahinterliegende Intention. ‚Einsamkeit‘ „handelt von der Abwesenheit des Staates“ in Gebieten, die vom organisierten Verbrechen kontrolliert werden. ‚Wahnsinn‘ „beschreibt die Sinnlosigkeit der extremen Gewalt“. „Flucht“ erzählt „von denen, die dem Wahnsinn entfliehen wollen“ und dabei meist auch wieder in die Fänge verbrecherischer Organisationen geraten.

Drogenhändler in schwachen Staaten wie denen Zentralamerikas gleichen Ersatzspielern in einem Team. Einer stirbt oder wird an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, und ein anderer tritt an seine Stelle, bis auch er stirbt oder ausgeliefert wird. Der Kampf gegen die Drogen ist endlos. In diesem Krieg – wie der ehemalige Präsident Mexikos, Felipe Calderón, genannt hat – gibt es eine lange Warteliste, die immer wieder aufgefüllt wird. (Seite 167)

Martínez betreibt für seine Reportagen einen hohen Aufwand, recherchiert vor Ort, befragt Ermittlungsbeamte, Kronzeugen, Täter und Opfer. Er benutzt Einzelfälle, um Gesamtzusammenhänge aufzuzeigen. Zu Beginn hatte ich ein paar Probleme in das Buch hereinzukommen wegen der Vielzahl an Personen, Bandennamen und Orten. Manchmal merkt man auch, dass die hier veröffentlichten Reportagen unabhängig veröffentlicht wurden, so dass hier und da Redundanzen vorkommen und ein etwas stringenterer roter Faden hilfreich wäre.
Jedoch wird man durch die einzelnen Reportagen entschädigt. Beeindruckend ist beispielsweise der Beitrag über die Gefängnisrevolten rivalisierender Banden. Oder die Geschichte von den Leichen in einem Brunnen und dem verzweifelten Gerichtsmediziner, der sie nicht bergen kann.

Martínez beschreibt schonungslos und desillusioniert die Machtlosigkeit der Staatsapparate, sei es durch Korruption, Ineffizienz oder Inkompetenz. Eine Geschichte der Gewalt ist insgesamt eine interessante Zusammenstellung von teilweise hervorragenden journalistischen Beiträgen über den scheinbar hoffnungslosen Kampf einiger Länder gegen die organisierte Kriminalität und die allgemeine Perspektivlosigkeit, die sonst eher selten in Europa wahrgenommen werden.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Eine Geschichte der Gewalt | Erschienen am 16. März 2016 bei Kunstmann
ISBN 978-3-95614-099-0
304 Seiten | 24,95 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Antonio Ortuño | Die Verbrannten

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