Kerstin Ehmer | Der weiße Affe

Kerstin Ehmer | Der weiße Affe

„So sehr hast du versucht ein echter Deutscher zu sein, Shylock“, flüstert sie. „Ich könnt’s nicht glauben, würd ich’s nicht sehn. Dein Traum vom Deutschsein, das ist das hier, das alles. Deutscher, nicht Jude, nicht staatenlos herumgejagt durch die Jahrhunderte, sondern Ordnung, Anstand, Frieden, Ruhe, Heimat, Herkunft, Scholle, das haste dich was kosten lassen.“ Sie sinkt auf einen Sessel. „Ich wusste, dass er den Mut hatte für solche Träume. Und ich wusste nicht, dass wir ihm so gar nicht ausreichten, dass er sich wegstehlen musste in sein Privattheater.“ Sie weint jetzt haltlos, als könne sie nie wieder aufhören. „Es ist, als hätte ich ihn gar nicht gekannt. Plötzlich ist mein Vater ein Fremder und wird es immer bleiben, denn er ist ja tot und kann nichts mehr erklären.“ (Auszug Seite 76)

Berlin in den Goldenen Zwanzigern: Kommissar Ariel Spiro aus dem beschaulichen Wittenberge tritt seinen neuen Job bei der Kripo an. Auf seinen ersten Fall muss er nicht lange warten. In einem Mietshaus wird die Leiche des jüdischen Bankiers Fromm gefunden. Offenbar führte Fromm ein Doppelleben mit einer Geliebten in einer Wohnung im Haus.

Spiro ermittelt sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld des Toten und wird dabei vom Großstadtleben gehörig mitgenommen. Seine Ermittlungen führen den jungen Kommissar nicht nur in dunkle Hinterhöfe, Schwulenbars und Bankiersvillen, sondern auch zur Tochter des Toten, Nike Fromm, die Spiro prompt den Kopf verdreht und seine Ermittlungsarbeit deutlich erschwert. Hierbei ergeben sich verschiedene Ansätze. Verdächtig sind vor allem Ambros Fromm, der Sohn, der seine Homosexualität sehr zum Verdruss des Vaters ausschweifend auslebt, und Moses Silberstein, Vizedirektor der Bank, der sich offenbar in Anlagefragen mit Fromm uneinig war.

Doch dem Leser wird noch ein zweiter Handlungsstrang dargeboten. Dieser beleuchtet die Perspektive des 14-jährigen Alexander, der von seiner Mutter, einer exzentrischen Kostümschneiderin, von der Außenwelt abgeschirmt wird. Er darf nicht zur Schule, wird tagelang eingesperrt. Ein Besuch auf einem progressiven Internat wird von der Mutter schnell wieder abgebrochen, so verliert der Junge seinen einzigen Freund aus den Augen. Alexander flüchtet sich mehr und mehr in Fantasien, in denen er im Mittelpunkt von Initiationsriten eines Eingeborenenstammes in Neuguinea steht. Man ahnt bereits, dass es irgendwann zur Katastrophe kommen muss.

Diese Absätze sind deutlich kürzer gehalten, kursiv geschrieben und ihre Bedeutung ergibt sich erst nach und nach. Auch stilistisch ergibt sich ein deutlicher Bruch zu den übrigen Abschnitten, kaum Dialog, bildhafte Beschreibungen, ein enger Blickwinkel eines zunehmend in den Wahn abgleitenden Jungen. Irgendwie konnten mich diese Abschnitte nicht völlig überzeugen. Anfangs war ich sogar geneigt, sie zu überfliegen, da ich den Bruch zur übrigen Geschichte als zu deutlich und störend empfand, was sich nur teilweise besserte.

Am Ende werden die zwei Stränge zusammengeführt. Wie befürchtet geschieht dies aber eher nach dem Zufallsprinzip, was in der Realität vielleicht sogar nicht abwegig wäre, aber hier als Krimiplot mich nicht ganz zufriedenstellt. Dass ich am Ende dennoch zu einem ziemlich positiven Eindruck komme, liegt vor allem an zwei Faktoren. Zum einen ist da die Atmosphäre im Berlin der Zwanziger Jahre. Spiro ermittelt an vielen verschiedenen Ecken der brodelnden Hauptstadt und dies wird hervorragend transportiert. Sei es die Arbeiterkneipe, das ostjüdische Leben im Scheunenviertel oder die Schwulen-Tanzbar „Zauberflöte“. Außerdem lässt die Autorin Kerstin Ehmer so einige Einheimische berlinern, verwendet zeitgenössische Begriffe und bringt auch humorvolle Momente unter.

Sehr interessant und mir bis dato unbekannt war das Institut für Sexualwissenschaft von Dr. Magnus Hirschfeld, das prominenten Raum im Buch einnimmt. Auch wenn die Ermittlungen nicht unbedingt in die politische Richtung gehen, schwingen die gesellschaftlichen Verhältnisse und zukünftige bedrohliche Entwicklungen im Hintergrund immer ein wenig mit. Gerade die Identitätsfrage der deutschen Juden spielt eine nicht unerhebliche Rolle im Roman. Dies deutet auch der Titel an, handelt es sich bei dem weißen Affen doch um ein vermeintliches Stück „Judenporzellan“. Insgesamt also ein wirklich überzeugendes Setting.

Zum anderen ist Ariel Spiro eine sehr gelungene Hauptfigur. Sein Vorname sorgt für allerlei Aufsehen, wird er doch direkt für einen Juden gehalten, obwohl sein Name der Figur aus einem Shakespeare-Drama entliehen ist. Der junge Mann kommt zwar vom Lande, doch völlig ahnungslos ist er nicht. Er hat sich in Wittenberge an der Elbe bereits als Kommissar bewiesen, zeigt auch in Berlin direkt großen Einsatz. Dennoch ist Berlin ein anderes Kaliber, das muss er sehr schnell feststellen. Er verliert sich ein wenig im Großstadtdschungel – und in den grünen Augen von Nike Fromm. Spiro ist intelligent, ehrgeizig und ein wenig verbissen, aber fehlbar und gerade dadurch eine sympathische Figur. Ich weiß zwar nicht, ob die Autorin weitere Bücher mit ihm geplant hat, aber Ariel Spiro taugt als Protagonist durchaus für mehrere Bände.

Autorin Kerstin Ehmer hat jahrelang als Fotografin gearbeitet und betreibt inzwischen seit zehn Jahren eine Bar in Berlin. Der weiße Affe ist ihr erster Kriminalroman und wurde auch für den Friedrich-Glauser-Preis in der Kategorie „Debüt“ nominiert.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Der weiße Affe | Erschienen am 1. September 2017 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-584-6
280 Seiten | 17.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Blogtipp: Rezension von Der weiße Affe auf WortGestalt

16. Februar 2018

3 Replies to “Kerstin Ehmer | Der weiße Affe”

  1. Danke fürs Verlinken, ich setze deine Besprechung auch noch als Link unter meine!

    Freut mich sehr, dass dir am Ende doch nahezu die gleichen Faktoren wie auch mir an dem Roman zugesagt haben! 🙂 Ich fände es prima, wenn der Debüt-Glauser an Kerstin Ehmer geht, die Aufmerksamkeit hätten Roman wie Autorin sehr verdient, finde ich.

    1. Danke dir.
      Ich muss zugeben, dass ich bei den Nominierten für das Krimidebüt nur dieses Buch gelesen habe. Aber ich drücke trotzdem mal die Daumen…;-)
      Iris wollte doch alle Nominierten lesen, oder? Da bin ich mal gespannt.

    2. Ja genau, ein spannendes Projekt und ich bin auf Iris‘ Fazit auch sehr gespannt. Die anderen Debüt-Romane kenne ich auch nicht, kann sie also nicht in Konkurrenz zueinander setzen, aber davon unabhängig würde es mich freuen, wenn es der Affe wird. 🙂

Schreibe einen Kommentar zu WortGestalt Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert