Jesper Stein | Bedrängnis

Jesper Stein | Bedrängnis

Spielplätze, Wochenenden mit Tochter, Umgangsrecht, alles war ihm scheißegal. Das Einzige, wonach er sich sehnte, war ein Joint oder eine Line. Er hatte ein Bad genommen und jetzt eine Jeans, eine Sonnenbrille und einen zu großen Kapuzenpulli, den ihm die Kollegen zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatten – schließlich wohnte er zur Verwunderung aller als einziger Bulle immer noch in Nørrebro, dem Epizentrum der Bandenkriege. Seine Arme zitterten als habe er Wachstumsschmerzen. Er reckte und streckte sich, hoffte, die Knochen würden die Haut durchstoßen und den feuchten Schmerz wegsprengen, der seinen Körper marterte. Sein inneres Thermostat lief Amok, kalter Schweiß auf fieberheißer Haut. Kurz blitzte sein Spiegelbild in irgendeiner Scheibe auf, Kapuzenpulli, Bartstoppeln, dunkle Sonnenbrille, alles, um sich unkenntlich zu machen und einigermaßen sicher zu fühlen, aber es war unübersehbar: Er war am Arsch, ganz unten, und er sah lächerlich aus. (Auszug Seite 50-51)

In Kopenhagen steigt der Prozess des Jahres: Bandenchef Moussa steht wegen versuchten Mordes vor Gericht. Ihm droht im Falle der Verurteilung die Ausweisung aus Dänemark. Für die Staatsanwaltschaft ist auch Kommissar Axel Steen unterstützend tätig, dieser befindet sich momentan körperlich und psychisch auf einem absoluten Tiefpunkt. Moussa legt Axel eine Falle und beginnt anschließend, ihn zu erpressen, um damit den Prozess zu seinen Gunsten zu drehen. Axel bleibt nichts anderes übrig, als mitzuspielen. Doch Moussa will noch mehr, er will Axel ganz auf die dunkle Seite ziehen.

Axels Chef Jens Jessen hat währenddessen einen Tipp erhalten, dass es der russischen Mafia mit ihrem ominösen Chef, dem „Dicken“, gelungen ist, einen Maulwurf in der dänischen Polizei zu installieren. Es gibt mehrere Verdächtige, darunter auch Axel oder Jessens Erzfeind Simon Scavenius bei der konkurrienden Behörde PET. Eine Enttarnung dieses Maulwurfs wäre ein Triumph für Jessen über seinen Rivalen. Dafür ist Jessen auch bereit, die Grenzen der legalen Polizeiarbeit erheblich zu dehnen.

Der Kommissar als heruntergekommenes Wrack – nicht gerade eine absolute Neuerung in der Kriminalliteratur. Aber nur wenige Autoren stoßen ihre Hauptfigur so weit zu Boden wie Jesper Stein seinen Protagonisten Axel Stein. Schon im ersten Teil der Reihe, Unruhe, litt Axel unter einer inneren Unruhe und Schlaflosigkeit, die er durch regelmäßigen Cannabis-Konsum zu kontrollieren suchte. Schon damals lebte er von seiner Frau getrennt und kam damit nicht wirklich zurecht. Weißglut, den zweiten Teil, habe ich verpasst. Nun im dritten Band ist Axel ganz weit unten angekommen. Er lebt immer noch allein, inzwischen reicht das Haschisch nicht mehr aus, er nimmt Kokain, die Besuchszeiten seiner siebenjährigen Tochter bringt er nur noch halbherzig hinter sich. Die Geschichte beginnt damit, dass Axel sich von einer blutjungen Osteuropäerin abschleppen lässt und obwohl Axel ahnt, dass dies eine Falle sein könnte, gibt er jeglichen Widerstand auf und verbringt zwei Tage mit Ficken und Koksen.

Selbstredend ist auch seine vormals beachtliche berufliche Karriere auf Tiefflug, einzig sein Chef hält noch seine schützende Hand über ihn. Dies macht er teilweise aus Kalkül, teilweise aus Dankbarkeit, weil Axel ihm mal das Leben rettete und teilweise aus Mitleid, da Jessen inzwischen mit Axel Ex-Frau Cecilie liiert ist. Cecilie ist nochmals Mutter geworden, fühlt sich aber in ihrem Beruf als Anwältin dadurch an den Rand gedrängt und unterfordert. Da kommt ihr ein unerwartetes Angebot sehr gelegen: Sie wird Anwältin des Bandenchefs Moussa. Auch privat ist bei ihr nicht alles Gold, was glänzt. Das traute Familienglück mit Jens Jessen füllt sie nicht aus. Sie erwartet mehr vom Leben, vor allem auch sexuell.

Schauplatz der Geschichte ist das sonst so (von außen betrachtet) beschauliche Kopenhagen. Sonst ist die dänische Hauptstadt ein Traum von Stadtplanern und Soziologen, doch Jesper Stein zeigt auch die Schattenseiten der Metropole: Drogenmilieus, Probleme durch Gentrifizierung, Machtspiele innerhalb der Polizeibehörden.

Autor Jesper Stein hat mit Axel Steen einen tragischen Helden geschaffen, den er in die tiefsten Abgründe stürzt. Aber wie das mit angeschlagenen Boxern so ist, sind diese oft die gefährlichsten. Und auch Axel kratzt den letzten Rest seiner Polizistenehre zusammen und kämpft einen Kampf gegen das organisierte Verbrechen, gegen die polizeiinternen Machtkämpfe und letztlich auch gegen seinen eigenen totalen Absturz. Das alles hat Stein mit stetig wachsender Spannung geschrieben, die zum Schluss in einem fulminanten Showdown endet. Manche Plotentwicklung kann der routinierte Krimileser zwar schon erahnen, dennoch ist Bedrängnis ein intensiver, überzeugender Kriminalroman und eine gelungene Fortsetzung der Reihe.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Bedrängnis | Erschienen am 8. Juni 2016 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-31573-8
384 Seiten | 12,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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