James Lee Burke | Neonregen Bd. 1

James Lee Burke | Neonregen Bd. 1

Ich konnte die Erinnerung an jene zehn Sekunden nicht verdrängen zwischen dem Augenblick, da der Torwächter seine Automatik aus der Seitentür gezogen hatte, und dem anderen, als die .45er in meiner Hand losging und Seguras Kopf im Inneren des Wagens zerplatzte. Ich war überzeugt, dass Segura im Gegensatz zu den meisten bedauernswerten Typen, mit denen wir es sonst zu tun hatten, ein wirklich abgrundtief böser Mensch gewesen war, aber jeder, der schon mal auf einen anderen geschossen hat, kennt das schreckliche, vom Adrenalin aufgeputschte Gefühl der Allmacht und Arroganz, das einen in solchen Augenblicken überkommt, und die heimliche Freude, mit der man auf die Gelegenheit reagiert, die sich einem da plötzlich bietet. Ich hatte es in Vietnam erlebt, und auch als Polizist war ich schon zweimal in einer solchen Situation gewesen, und ich war mir der Tatsache bewusst, dass das wilde, affenartige Wesen, von dem wir alle abstammen, in meinem Innern überaus lebendig war. (Auszug Seite 149)

Detective Dave Robicheaux wird in den Todestrakt des Gefängnisses Angola gerufen. Dort sitzt Johnny Massina und will kurz vor der Hinrichtung noch sein Gewissen erleichtern. Er warnt Robicheaux, dass er ermordet werden soll. Robicheaux ist sich nicht sicher, was er davon halten soll, doch langsam dämmert es ihm, dass es mit einem Leichenfund zu tun hat. Vor kurzem hat er beim Angeln die Leiche einer jungen Frau gefunden. Vermutlich ertrunken, glaubt nicht nur der Sheriff, doch Robicheaux ist da anderer Meinung. Und damit scheint er einige Leute in der Unterwelt nervös zu machen.

In diesem Jahr wird James Lee Burke noch 80 Jahre alt. Und er ist produktiv wie eh und je. Gerade erschien in den USA sein Roman The Jealous Kind. Nachdem Burkes Karriere nach einem vielversprechenden Start Ende der 1960er, Anfang der 1970er einen derben Durchhänger hatte, kam es Ende 1986 zum endgültigen Durchbruch. Wie er selbst im Vorwort schreibt, wurde The Lost Get-Back Boogie 111mal von Verlagen abgelehnt, wurde dann endlich veröffentlicht und erhielt direkt eine Nominierung für den Pulitzer-Preis. Im März 1987 erschien dann Neonregen.

Der erste Krimi mit Dave Robicheaux begründete eine äußerst erfolgreiche Reihe und den anhaltenden Erfolg des Autors. Der Bielefelder Pendragon Verlag hat sich vorgenommen, die gesamte Robicheaux-Reihe zu veröffentlichen. Nach zwei bislang in Deutschland unveröffentlichten Bänden (Sturm über New Orleans, Mississippi Jam) liegt nun der Beginn der Reihe in einer Neuauflage vor (und seit kurzem auch Band 2: Blut in den Bayous).

In diesem Band sind Ich-Erzähler Dave Robicheaux und sein bester Kumpel Cletus Purcel noch Partner im New Orleans Police Department. Es knirscht gewaltig zwischen den beiden, später werden sie sich wieder zusammenraufen. Robicheaux lebt zu Beginn dieser Reihe allein auf einem Hausboot auf dem Lake Pontchartrain. Er ist ein exzellenter Cop, schafft sich durch seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn jedoch nicht nur Freunde unter den Kollegen. Robicheaux ist außerdem ein trockener Alkoholiker (der in Neonregen einen Rückfall erlebt) und ein Vietnam-Veteran, der nachts in seinen Träumen von den traumatischen Erlebnissen eingeholt wird. Er ist ein unerschrockener, aber auch sensibler Mann, dem seine Einsamkeit zu schaffen macht und der dennoch eine frische Partnerschaft auf eine harte Probe stellt, weil er die Dinge zu Ende bringen will. Ganz nach dem Motto: Ein Mann tut, was ein Mann tun muss.

„Also seid ihr von der CIA?“
„Sind Sie wirklich so dumm zu glauben, dass die Regierungsmacht von einer einheitlichen Gruppe von Leuten ausgeübt wird? So wie die Jungs von der Forstbehörde mit ihrem Smokey-Bear-Anzügen?“. (Seite 337-338)

In Neonregen stolpert Dave Robicheaux in einen ganz heißen Fall, der allerdings vom Rest der Polizei nicht als solcher erkannt wird. Bei einer Angeltour entdeckt er die Leiche einer jungen Frau mit frischen Einstichspuren. Der örtliche Sheriff jedoch hält es für einen Unfalltod und ordnet nicht mal eine Autopsie an. Doch als Robicheaux vom Todeskandidaten Johnny Massina und später von einem Pornokinobesitzer erfährt, dass im Milieu über seine Ermordung gesprochen wird, fühlt er sich erst so richtig angestachelt. Die Spur führt zu Julio Segura, einem Zuhälter aus Nicaragua. Dieser ist nach dem Machtverlust des diktatorischen Somoza-Clans 1979 in die USA gekommen und arbeitet nun scheinbar mit daran, das alte Regime durch Waffenlieferungen an die Contras wieder an die Macht zu bringen. Damit sticht Robicheaux in ein Wespennest, in dem auch Regierungsbehörden eine unrühmliche Rolle spielen.

Damit erhält der Roman eine klare politische Note. Die Iran-Contra-Affäre, bei der die CIA durch illegale Waffenlieferungen an den Iran Mittel zur Unterstützung der rechtsgerichteten Contra-Rebellen gegen die linke Sandinisten-Bewegung aufbrachte und dabei auch mit Drogendealern zusammenarbeitete, war damals bei der Entstehung des Romans noch gar nicht öffentlich geworden.

Das ist jetzt mein fünftes Buch von James Lee Burke innerhalb der letzten zwei Jahre. Schon allein daran merkt man, dass Burke es inzwischen zu meinen absoluten Lieblingsautoren geschafft hat. Diese Mischung aus knallharter Story, authentischen Charakteren, politisch-gesellschaftlichem Background und poetischer Beschreibung von Setting und Atmosphäre ist einfach unschlagbar. Für den Einstieg in den Burke’schen Kosmos ist Neonregen die optimale Lektüre.

 

Reezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Neonregen | Erstmals erschienen 1987, die gelesene Neuauflage erschien am 4. Juli 2016 im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-548-8
432 Seiten | 17,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Video-Interview: James Lee Burke: Fremdes Land | Druckfrisch

Weiterlesen: Rezensionen zu James Lee Burkes Robicheaux-Reihe: Mississippi Jam | Sturm über New Orleans sowie zum Thriller Glut und Asche

6 Replies to “James Lee Burke | Neonregen Bd. 1”

  1. Lieber Gunnar,

    ich werde mir Neonregen auf meine Bücherwunschliste setzen, denn wenn du bereits fünf Mal zugegriffen hast, dann trügt mich mein Gefühl nach dieser Rezension nicht:

    Ich muss einen James Lee Burke endlich lesen.

    Vielen Dank für diese tolle Besprechung und viele Grüße

    Nisnis

  2. Liebe Nisnis,

    vielen Dank. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du James Lee Burke auch anheimfällst. Erst vor kurzem wurden zwei andere Bloggerkolleginnen „bekehrt“…;-)

    Viele Grüße
    Gunnar

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