Gila Lustiger | Die Schuld der anderen

Gila Lustiger | Die Schuld der anderen

Nun war er wieder da. Unter Strom. Mitten im Geschehen. Das gnadenlose Raubtier Rappaport, das ungesehen den endlosen Flur entlangstreifte, flink Treppen hinunterhuschte und, die Gunst des Augenblicks nutzend, die Halle durchquerte, als alle gerade damit beschäftigt waren, eine Gruppe Jugendlicher in die Ausnüchterungszelle zu verfrachten. Die fünf Kids randalierten und wollten sich nicht bändigen lassen? Umso besser. (Auszug Seite 67)

Der brutale Mord an der jungen Prostituierten Emilie Thevenin vor fast 30 Jahren in Paris wurde nie aufgeklärt. Als man jetzt im Jahrhundertsommer mit Hilfe einer DNA-Analyse den vermeintlichen Täter überführt, kommen dem engagiertem Journalisten Marc Rappaport Zweifel an der Schuld des Verdächtigen. Nach Rücksprache mit seinem Chefredakteur fährt der ehrgeizige Reporter zwecks Recherche nach Charfeuil, die Kleinstadt, in der Emilie aufwuchs.

Wieso schlitterte die junge Frau, die mit 18 Jahren aus der Enge der Kleinstadt floh, um in Paris zu studieren, in die Prostitution? Hier in der Provinz deckt unser Held nach und nach einen Skandal viel größeren Ausmaßes auf. Emilies an Krebs verstorbener Vater arbeitete bei dem Chemiekonzern Nutrissor. Dieser hatte jahrelang wissentlich die Gesundheit seiner Arbeiter aufs Spiel gesetzt, in dem er krebserzeugende Stoffe kostengünstig einsetzte. Das alles mit der Rückendeckung der Politiker, denn schließlich ging es um Arbeitsplätze.

Diese Begebenheit geht auf einen realen Fall zurück, der sich Anfang der 80er Jahre bei dem Futtermittelhersteller Adisseo ereignet hatte. Das Provinzunternehmen wurde der groben Fahrlässigkeit bezichtigt und für den Nierenkrebs mehrerer Mitarbeiter verantwortlich zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.

Der komplexe, intelligente Plot ist sehr spannend und weiß absolut zu fesseln, dient aber genau genommen auch als Mittel für die Schriftstellerin, um zahlreiche gesellschaftliche Probleme Frankreichs aufzudecken. Wie sie in einem Interview bekannte, war die Struktur des Krimis für sie ein Korsett, an das sie sich halten konnte, wenn ihre Beschreibungen zu ausufernd wurden und sie zur Handlung zurück trieb.

Die in Frankfurt geborene Autorin und studierte Germanistin weiß wovon sie spricht, denn sie lebt seit fast 30 Jahren in ihrer Wahlheimat in Paris. Sie verfügt über eine gute Beobachtungsgabe und legt den Finger in die Wunde. Indem sie das Leben in den Industrie-Kleinstädten und Vororten mit Immigrationshintergrund und hoher Arbeitslosigkeit perfekt beschreibt, die Zustände in den Banlieues, die wachsende Jugendkriminalität, die Prostitution und die Korruption in der Politik, taucht sie schonungslos in die Abgründe der französischen Gesellschaft ein und versteht es, die Kluft, die die Gesellschaft immer weiter spaltet, aufzuzeigen.

Wie der Titel schon verrät, geht es viel um die Schuldfrage in der Geschichte. Die Hauptfigur Marc ist ein melancholischer Einzelgänger um die 40. Er wirkt irgendwie zerrissen, da er zwischen allen Stühlen sitzt. Sein verstorbener Großvater, an dem er sehr gehangen hat, war ein gerissener Großindustrieller, der seinen Reichtum zum Teil aus Kriegsgewinnen in Afrika erwirtschaftet hat. Der angesehene Arnaud Delorme hatte ein gespanntes Verhältnis zu Marcs Vater, einem jüdischen Intellektuellen aus einer armen Akademiker-Familie.

Unser Held ist als integrer Journalist mit hohen Idealen auf Enthüllungsgeschichten spezialisiert und macht Jagd auf die „bösen Jungs“. Andererseits möchte er aber auch nicht auf die ererbten Annehmlichkeiten verzichten. Trotz seiner handfesten Prinzipien wird er im Laufe der Geschichte um der Gerechtigkeit Willen einen der wenigen Politiker, die er achtet, in den Schmutz ziehen, seinen besten Freund belügen und sich seiner Zeitung bedienen. Grade diese Widersprüche lassen den Protagonisten aber sehr authentisch, menschlich und auch sympathisch erscheinen.

Er, Marc ging nicht nur zur Arbeit. Er hatte sich vom System schlucken und umkrempeln lassen. Sein Beruf hatte ihn so verändert, dass er sich gar nicht mehr richtig erinnern konnte, je anders auf die Wirklichkeit geblickt zu haben, als mit den abgefeimten Augen eines abgefeimten Zeitungsfritzen. (Seite 105)

Gila Lustiger wirft mit viel literarischem Können und sprachlich auf hohem Niveau einen entlarvenden Blick auf die Verhältnisse der ‚Grande Nation‘. Dadurch ist ihr ein großer Gesellschaftsroman gelungen, der viel mehr ist als ein normaler Politthriller. Die tragische Wendung zum Schluss lässt den Titel Die Schuld der anderen noch mal in seiner ganzen Bedeutung erschließen. Ein rund herum gelungenes Leseerlebnis, das aufzeigt, dass die Grenzen der Schuld fließend sind.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

 

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Die Schuld der anderen | Erschienen am 19 Januar 2016 im Berlin Verlag
ISBN 978-3-82701-227-2
496 Seiten | 22,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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