Donald Ray Pollock | Die himmlische Tafel

Donald Ray Pollock | Die himmlische Tafel

„Und was ist mit dir?“, fragte Cane. „Worauf freust du dich, wenn wir hier wegkommen?“
„Ich?“, fragte Chimney. „Ich werde die nächsten zehn, fünfzehn Jahre saufen, vögeln und rummachen, dann suche ich mir ein nettes Mädchen und werde sesshaft. Vielleicht noch ein paar Kinder“
„Zehn, fünfzehn Jahre?“
„Klar“, sagte Chimney. „Scheiße, ich bin doch erst siebzehn.“
„Tja, das stimmt.“
„Und du?“
Cane zögerte. Er war sicher, sein Bruder würde nicht begreifen, was er für ein lebenswertes Leben hielt, aber was machte das für einen Unterschied? Zum Teufel, sie konnten morgen alle tot sein, und ihre Träume mit ihnen. (Auszug Seite 185-186)

Die drei Brüder Cane, Cob und Chimney Jewett arbeiten mit ihrem Vater Pearl als Farmhelfer im Georgia des Jahres 1917. Die Familie lebt unter extrem harten Bedingungen, denn Pearl meint, sich durch Armut und Verzicht auf Erden einen Platz an der „himmlischen Tafel“ zu sichern. Abends liest Cane, der Älteste, der einzige, der von seiner verstorbenen Mutter noch das Lesen beigebracht bekommen hatte, seinen Brüdern aus einem Groschenroman vor, „Bloody Bill Bucket“. Als ihr Vater letztlich an den Entbehrungen stirbt, beschließen die Brüder, ihre neu gewonnene Freiheit zu nutzen – auf den Spuren des Bankräubers und Outlaws „Bloody Bill Bucket“.

Gleichzeitig wird weiter nördlich im Süden Ohios der etwas einfältige Farmer Ellsworth Fiddler von einem Trickbetrüger um sein gesamtes Erspartes gebracht. Der Familie drohen harte Zeiten und nun ist auch noch sein Sohn Eddie verschwunden, mitten in der Erntezeit. Ellsworth fährt in die nahegelegene Stadt Meade, in der die Army ein großes Rekrutierungslager eröffnet hat, in der Hoffnung, Eddie dort zu finden.

Autor Donald Ray Pollock ist ein Spätberufener, der lange Jahre als Fahrer einer Papiermühle arbeitete und erst spät seinen Schulabschluss nachholte, sich an der Uni einschrieb und seiner Sehnsucht, selbst zu schreiben, nachgab. Erst im Alter von 54 Jahren veröffentlichte er 2008 sein Debüt Knockemstiff. Die Kurzgeschichtensammlung mit bitterbösen, rabenschwarzen Storys aus seiner Heimatgegend in Ohio machte ihn direkt zu einem Shooting Star des Southern Gothic. Diesen Ruf rechtfertigte er 2011 auch mit seinem zweiten Buch, seinem ersten Roman, Das Handwerk des Teufels, in dem sich die Wege von gleich mehreren mörderischen Psychopathen und Fanatikern kreuzen. Nun also sein drittes, lang erwartetes Werk, Die himmlische Tafel.

Chimney schleuderte wieder eine faule Kartoffel über den Hof und drehte sich dann zu Cane um. „Was hat Bloody Bill noch mal gesagt? ‚Lieber raube und morde ich und bin für nur einen Tag in Freiheit, statt hundert Jahre unter der Knute eines Mistkerls zu darben.’“
„Dieser Bloody Bill“, meinte Cob. „das ist ein übler Kerl.“. (Seite 46)

Die Handlung spielt 1917 im Mittleren Westen der USA. Zur gleichen Zeit werden auf den Schlachtfeldern Europas Hunderttausende industriell abgeschlachtet, aber hier steht die Moderne erst noch in den Kinderschuhen und es ist klar, dass die meisten der Figuren nicht zu den Gewinnern der neuen Zeiten zählen werden. Wie in einem Kuriositätenkabinett lässt Pollock seine Figuren auftreten und aufeinandertreffen, dabei bilden die Jewetts den roten Faden. Diese träumen davon, es bis nach Kanada zu schaffen und doch endet die Geschichte im lausigen Meade, Ohio. Rundherum um die Flucht der Jewetts erzählt der Autor in gewohnt harter und kompromissloser Sprache mit einer Vielzahl an Figuren üppige, bitterböse, teilweise bizarre Geschichten von Menschen, die bemüht, aber letztlich vergeblich ihren Träumen nachrennen. Wie die Brüder Jewett etwa, die als tragische Western-Outlaw-Bande plündernd durch die Lande ziehen. Oder der Lude Henry, der von einem Edel-Etablissement träumt und stattdessen eine windschiefe Hurenscheune betreibt. Oder Sugar, ein Schwarzer, der sein Heimatdorf verlässt, um in Detroit Autos zu bauen und gerade mal eine Woche durchgehalten hat. Oder, oder, oder. Denn das ist vielleicht das Einzige, was ich Pollock vorwerfen mag, er ist ein großartiger Erzähler, aber sein Ensemble ist schon sehr üppig und er hat den Drang, auch noch die skurrile Lebensgeschichte jeder Nebenfigur zu vermitteln.

Wer eine Fortsetzung seiner rabenschwarzen Werke erwartet, wird ein klein wenig überrascht sein. Natürlich bedient sich Pollock in der Figurenauswahl weiterhin überwiegend bei den Verlierern, den Ausgestoßenen, den Andersartigen. Seine Geschichte handelt vom religiösen Wahn, vom Rassismus, von der Ungerechtigkeit, vom Scheitern. Doch trotz aller Gewalt und diversen Abartigkeiten ist die Stimmung diesmal eher tragikomisch und sogar manchmal heiter. Und am Ende sogar eine Spur hoffnungsvoll. Ein absolut lesenswerter Roman.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

 

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Die himmlische Tafel | Erschienen am 12. Juli 2016 bei Liebeskind
ISBN 978-3-95438-065-7
432 Seiten | 22,- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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