Kategorie: Gunnar Wolters

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

Doug Johnstone | Eingefroren (Band 2)

„Wenn man immer in dem Universum endet, in dem man überlebt, bedeutet das nicht, dass man alles tun kann, was man will?“
„Ich glaube, das bringt uns nicht weiter.“
„Vielleicht ist es das, was mein Dad dachte“, sagte Hannah. „Vielleicht glaubte er, er könnte einfach alles tun, worauf er Bock hätte, und käme damit durch.“
Rita seufzte. „Männer brauchen keine Quantenphysik, um zu meinen, sie kämen mit allem durch.“ (Auszug S.21)

Beim letzten Mal sind sie noch gerade davongekommen, die Skelfs. Dorothy, die Großmutter, Jenny, die Mutter und Hannah, die Enkelin. Bestattungsunternehmerinnen in Edinburgh und gleichzeitig – interessante Kombination – Inhaberinnen einer Detektei. Im ersten Band „Eingeäschert“ (Vorsicht: Spoiler) werden die drei Frauen von Craig, Jennys Ex und Hannahs Vater und ein Mörder und Psychopath, attackiert und teilweise schwer verletzt. Jetzt, ein halbes Jahr später ist zumindest oberflächlich etwas Ruhe eingekehrt, doch sie haben noch ganz schön dran zu knapsen. Doch die Ruhe ist nicht von langer Dauer, denn auch aus dem Gefängnis heraus, kann Craig das Seelenleben der Frauen attackieren.

Daneben belastet sich dieses Frauen-Trio aber auch noch mit anderen Dingen. Direkt der Beginn ist spektakulär, als während einer Bestattung sich ein Auto auf dem Friedhof mit der Polizei eine Verfolgungsjagd liefert, Dorothy beinahe überfährt und schließlich in ein offenes Grab stürzt. Der Fahrer, ein Autodieb, überlebt nicht, allerdings sein Hund auf der Rückbank. Dorothy nimmt sich des Tieres an und recherchiert nach dessen verstorbenen Herrchen, den niemand identifizieren kann und den scheinbar niemand vermisst. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen um eine ihrer Schülerinnen beim Schlagzeug-Unterricht, die offenbar von zuhause ausgerissen ist. Hannah hingegen ist noch stark von den Ereignissen aus „Eingeäschert“ angegriffen und gerät erneut aus dem Tritt, als sich ein Professor an der Uni das Leben nimmt und sich keiner das so recht erklären kann. Somit will Hannah überdingt die Hintergründe aufklären.

„Ich muss es einfach verstehen.“
Edward gestikulierte über den leeren Hörsaal. „Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen.“
„Was das Universum betrifft. Aber was ist mit hier?“ Hannah klopfte auf ihre Brust. „Sicher müssen wir uns doch verstehen, oder nicht?“ (Auszug S.188)

Die verschiedenen Handlungsstränge werden parallel erzählt und immer wieder mischt sich Craig ein, der die Frauen in der Familie immer noch nicht in Ruhe lassen will. Dieser Strang bedient die vertikale Erzählweise in dieser Serie und dient immer wieder als Bindeglied zwischen den anderen kleinen Dramen, die die Skelfs umgeben. Doug Johnstone wechselt von Kapitel zu Kapitel die Perspektiven zu Dorothy, Jenny und Hannah und nimmt uns mit in ihr Seelenleben. Drei starke Frauen, vom Leben angeknockt, aber nicht gebrochen, sondern eine warme Menschlichkeit aussendend. Johnstone versteht es, seinen Figuren eine enorme Tiefe und Authentizität zu geben, auch den Nebenfiguren, wie etwa Hannahs Partnerin Indy, die sich bei den Skelfs zur Bestatterin ausbilden lässt, der Polizist Thomas, der zu der verwitweten Dorothy eine enge Beziehung aufzubauen scheint, oder Archie, Angestellter mit großem Talent, versehrte Leichen wieder zur Bestattung ansehnlich herzurichten und dabei unter dem Cotard-Syndrom leidend, d.h. dass er nicht an die eigene Existenz glaubt.

Auch Anspielungen auf die moderne Physik kommen hier nicht zu kurz, schließlich ist der Autor von normalem Beruf Atomphysiker. Der Originaltitel „The Big Chill“ verweist dann auch auf eine Theorie zum Ende des Universums. Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, ob das hier überhaupt noch ein Krimi ist. Es ist auch ein Krimi, schon allein mit der Story um Craig, die hier in diesem Roman weiter eskaliert. Aber es ist vor allem auch ein starkes Buch über komplexe Familiensituationen, um den Umgang mit dem Tod und über drei starke Frauen. Und das lässt mich auf den nächsten Band mit den Skelfs freuen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eingefroren | Erschienen am 01.11.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-948392-87-1
384 Seiten | 26,- €
Originaltitel: The Big Chill | Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu Doug Johnstones „Eingeäschert“ und „Der Bruch“

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

S.A. Cosby | Der letzte Wolf

Kleinstädte sind wie die Menschen, die sie bevölkern. Beide sind voller Geheimnisse. Geheimnisse des Fleisches, Geheimnisse des Bluts. Versteckte Schwüre und geflüsterte Versprechen, die sich so schnell in Lügen verwandeln wie Milch in der heißen Sommersonne sauer wird. (S. 215)

Titus Crown ist der erste schwarze Sheriff der Geschichte in Charon County, Virginia, und erlebt den wohl schwierigsten Tag seiner noch jungen Amtszeit, als ein junger schwarzer Mann mit einem Gewehr in die High School stürmt und dort einen beliebten Lehrer erschießt. Auf dem Weg nach draußen wird er von der Polizei umstellt. Er weigert sich, seine Waffe abzulegen, macht noch einige seltsame Andeutungen und wird dann nach einer verdächtigen Bewegung von den Beamten erschossen. Die Gemeinde ist bestürzt und trauert um den Lehrer Mr. Spearman. Doch von den Andeutungen des Täters aufgeschreckt, lässt Titus das Haus des Lehrers durchsuchen und stellt fest, dass der Alptraum noch weiter geht.

Offenbar war der Lehrer und auch der junge Schwarze in einen Abgrund von Kinderpornographie, Missbrauch und Mord verwickelt. Die Polizei findet zudem Videomaterial, auf denen eine dritte Person zu sehen – mit einer Wolfsmaske. Außerhalb der Stadt auf einer Lichtung unter einer Trauerweide findet Titus schließlich ein Massengrab mit mehreren verscharrten Leichen der Missbrauchsopfer. Er will nun unbedingt den noch frei herumlaufenden Serienmörder fassen – doch der beginnt bereits damit, rücksichtslos seine Spuren weiter zu verwischen.

Autor S.A. Cosby ist seit spätestens nach Erscheinen seines zweiten Romans „Blacktop Wasteland“ im Jahr 2020 in die obere Riege der amerikanischen Kriminalautoren aufgestiegen. Cosby ist selbst als Afro-Amerikaner im ländlichen Virginia unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und musste sich vor dem späten Durchbruch mit zahlreichen verschiedenen Jobs über Wasser halten. Die nach wie vor bestehende (soziale) Segregation zwischen weißem und schwarzem Amerika und der latente Rassismus bildet einen zentralen Kern in seinen Romanen. In „Der letzte Wolf“ wird dies in der Hauptfigur Titus Crown angelegt.

Titus ist in Charon County aufgewachsen, war dann einige Zeit beim FBI. Er ist nun in der Lebensmitte wieder zurückgekehrt und lebt wieder in seinem Elternhaus mit seinem Vater zusammen. Der krankheitsbedingte Tod der Mutter, als Titus erst 13 war, hat tiefe Spuren bei ihm, seinem jüngeren Bruder und seinem Vater hinterlassen. Sein Vater versank in Trauer, er musste sich um seinen Bruder kümmern. Als Titus nun zurückkommt, bewirbt er sich um das Sheriffsamt, weil der alteingesessene, rassistische Sheriff seinen Hut nehmen muss, und unerwartet wird Titus erster schwarzer Sheriff des Countys. Dieses ist allerdings ein Spiegelbild des heutigen ländlichen Amerika: Ein hoher Anteil an schwarzer Bevölkerung, die immer noch nicht gleichberechtigt partizipiert, ein großer Teil der Weißen ist nach wie vor arg konservativ, einige sogar ewiggestrig und wieder mit der Konförderalisten-Romantik kokettierend. Zudem ein altbekanntes Netzwerk aus Beziehungen, Gefälligkeiten, Geheimnissen und Abhängigkeiten.

“ […] Diese Idee, dass du alles retten musst – das ist Hochmut. Und du weißt ja, was man über Hochmut und Fall sagt. Noch mal: Du schuldest niemandem etwas. […]“
Titus nahm das leere Weckglas und beobachtete, wie das Licht der Außenlampe über seine Oberfläche tanzte. „Und was, wenn mein Versuch, die Welt zusammenzuhalten, genau das ist, was verhindert, dass ich zerbreche?“ (S.319)

Die Darstellung dieser Verhältnisse und die Zerrissenheit der Hauptfigur sind die großen Stärken dieses Romans. Titus Crown ist ein ehrbarer Mann, der alles richten und Neutralität wahren will, der allerdings zerrieben wird zwischen den Erwartungen der schwarzen Community, den Anfeindungen der Rassisten, Einmischungen seitens des Gemeinderats und nicht zuletzt seiner eigenen Unruhe, über den Tod seiner Mutter und einer Schuld, die er in seinem letzten Einsatz für das FBI auf sich geladen hat. Cosby zeichnet ein beeindruckendes Porträt einer zerrissenen Kleinstadt und eines Sheriffs, der sich das Wohlergehen der Gemeinde auf seinen Schultern aufbürdet. Er verbindet das zudem mit einer brutalen, gleichwohl spannenden Jagd auf einen Serienmörder, dem er aber – aus meiner Sicht zurecht – nicht zu viel psychologischer Aufmerksamkeit widmet. Alles in allem ein sehr starker, moderner und gesellschaftlich-politisch relevanter amerikanischer Kriminalroman.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Der letzte Wolf | Erschienen am 01.11.2023 im Ars Vivendi Verlag
ISBN 978-3-7472-0518-1
384 Seiten | 24,- €
Originaltitel: All The Sinners Bleed | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu „Blacktop Wasteland“

Best Of 2023

Best Of 2023

Wieder ist ein Krimijahr vorbei und es war kein so schlechter Jahrgang. Insgesamt 60 Romane (und zwei Filme) haben wir auf diesem Blog besprochen (ein paar ausschließlich über unsere Social Media-Kanäle). Es ist also mal wieder Zeit für unsere Jahreshighlights. Andy und Gunnar haben ihre drei Lieblingsbücher aus diesem Jahr zusammengestellt. Anders als in den letzten Jahren gab es aber diesmal eine Übereinstimmung, sodass es diesmal so etwas wie „unseren“ Krimi des Jahres gibt. Beginnen wir mit Andys Top 3.

Andys Top 3 in 2023

Zurückblickend auf das scheidende Jahr 2023, stelle ich fest, dass es viele gute Bücher im Bereich Crime waren, aber auch viel Durchschnittliches. Meine Begeisterung für den skandinavischen Thriller hat etwas nachgelassen, zu auserzählt wirken mittlerweile Plots und Charaktere. Der zweite Band von Don Winslow „City of Dreams“ glänzt mit den typischen Winslow-Zutaten, konnte aber nicht ganz mit der Brillanz des ersten Teils mithalten. Steve Cavanagh war eine neue Entdeckung im Bereich Gerichtskrimi und unterhaltsam für zwischendurch und Michael Connelly geht eigentlich immer. Irgendwie bin ich unaufhörlich auf der Jagd nach dem Besonderen. Höchstpunktzahl gab es für die folgenden Highlights, die auch noch Sieger des diesjährigen Deutschen Krimipreises wurden:

James Kestrel – Fünf Winter
Der Protagonist namens Joe McGrady ist ein Detective des Honolulu PD. Bei der Aufklärung eines brutalen Doppelmordes an einem jungen Paar folgt er einer Spur, die ihn nach Hongkong führt. Das wird allerdings kurz nach seiner Ankunft von den Japanern besetzt. McGrady wird verhaftet und nach Japan deportiert. Ganze fünf Jahre kann er sich bei einem japanischen Diplomaten und dessen Tochter verstecken. Fünf Jahre, in denen er nur in der Dunkelheit an die frische Luft kann und die schwere Bombardierung Tokios durch seine Landsleute erlebt, bis er sich wieder der Morduntersuchung widmen kann. Kestrel begeisterte mich in diesem Mix aus Thriller, historischem Kriminalroman, Kriegsdrama und Romanze durch bildhafte Erzählweise, düstere Atmosphäre, feine Figurenzeichnungen, ein Held im Noir-Stil und exotische Settings. Episch!

Andreas Pflüger – Wie sterben geht
Mit einer großen Vorliebe für Spionagegeschichten waren meine Erwartungen sehr hoch und wurden noch übertroffen. Nina Winter, eigentlich eine Schreibtischagentin, begibt sich Anfang der Achtzigerjahre auf ein Himmelfahrtskommando als Verbindungsoffizierin nach Moskau. Wir sind live dabei, wenn Winter in einem Intensivkurs lernt, wie man tote Briefkästen anlegt, Verfolger abschüttelt oder sich in Moskau unauffällig verhält, z.B. wie jeder Russe ins Leere zu blicken, um nicht als Westlerin erkannt zu werden. Vom ersten Satz des Thrillers entwickelt Pflüger ein mitreißendes Kopfkino, wenn der spektakuläre Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke maximal schief läuft. „Wie sterben geht“ hat alles was ein guter Thriller braucht. Einen spannungs- und actionreichen Plot, eine lyrisch verdichtete Sprache mit lakonischen Dialogen, ambivalente Figuren und eine Heldin, mit der man mitzittert. Das Besondere ist der zeithistorische Kontext. Die Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges sind jederzeit spürbar. Recherche-Junkie Pflüger war schon mitten in der Arbeit an diesem Thriller, als 2022 Russland die Ukraine überfiel und er überlegte, abzubrechen. Gottseidank hat er es nicht getan. Perfekt!

Robert Harris – Vaterland
Zum Ende des Jahres noch ein älterer Thriller, den ich im Rahmen unseres Themenspecials „Alternativweltgeschichten“ entdeckte. In dem Debüt des englischen Autors von 1992 hat Deutschland den Krieg gewonnen. Es ist mittlerweile 1964 und Xaver March, ein Berliner Kriminalkommissar und SS-Obersturmbannführer soll den Tod eines ehemaligen hochrangigen Parteifunktionärs aufklären. Als weitere Ex-Parteibonzen zu Tode kommen, die Gestapo den Fall, mit der offensichtlichen Absicht etwas zu vertuschen, an sich reißt, ermittelt March heimlich unter Lebensgefahr weiter. Mit Hilfe einer amerikanischen Journalistin verfolgt er eine Spur nach Zürich und deckt eine gefährliche Wahrheit auf. Harris beeindruckt mit einem überzeugenden Bild eines authentisch anmutenden, düsteren Nachkriegsdeutschlands, in der tatsächliche Geschichte und Fiktion geschickt zusammengefügt werden. Ein unheilvolles Gedankenspiel, rasant und spannend in Form eines Polizeiromans erzählt. Bestimmt nicht mein letztes Buch von Robert Harris, von dem ich noch nichts gelesen hatte. Beklemmend!

Gunnars Top 3 in 2023

Traditionell nehme ich ja nur Neuerscheinungen aus dem ausgelaufenen Jahr in meine Jahresbestenliste auf. Dabei fiel mir auf, dass ich dieses Jahr etwas zurückhaltend mit der Höchstnote war. Erst im November habe eine 5,0 vergeben und war mir mit Andy da sowas von einig, dass der Roman das Jahreshighlight war (und damit waren wir nicht allein). Neben den gleich genannten Titeln mochte ich außerdem sehr: „Alles schweigt“ von Jordan Harper, „Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor, „Fünf Winter“ von James Kestrel, „Seventeen“ von John Brownlow und „Antoniusfeuer“ von Monika Geier. Aber nun meine Top 3:

Andreas Pflüger – Wie sterben geht
Andy hat oben ja schon ausführlich Lobeshymnen verbreitet. Dem kann ich mich einfach nur anschließen. Ein ziemlich perfekter Spannungsroman mit Spionage, Verrat, Täuschung, Liebe, Loyalität, 80er, Kalter Krieg, Moskau, Berlin. Dazu wie immer ein auch literarisch gut aufgelegter Autor, der uns zudem bei seiner Lesung Anfang November in Dortmund mit äußerst interessanten Anekdoten rund um sein Buch zu unterhalten wusste. Es ist ja fast schon unheimlich, wie ausnahmslos der Roman von Bloggern und Kritikern gefeiert wird. Aber völlig zurecht. Der Thriller des Jahres!

Percival Everett – Die Bäume
Eine Plotidee, an der man sich eigentlich nur verheben kann. Percival Everett aber gelingt das Unmögliche. Er schreibt einen politisch-satirischen Zombie-Horror-Krimi-Mix, der gleichzeitig urkomisch ist und bei dem einem andererseits das Grinsen aber sofort wieder erstirbt. Der Plot in aller Kürze: In Money, Mississippi, werden White-Trash-Männer ermordet, die familiär im Zusammenhang mit rassistischen Tätern aus der Vergangenheit stehen. Neben den Leichen wird zudem die Leiche eines jungen, schwarzen Mannes gefunden, die verdächtig nach Emmett Till aussieht, ein vor 60 Jahren gelynchter Schwarzer. Doch diese Leiche verschwindet kurz darauf wieder spurlos – die Untoten gehen um in Money! Herrlich, wie Everett die ewig gestrigen Rednecks, den KKK und andere Rassisten hier durch den Kakao zieht und bestürzend, wie er das Augenmerk nochmal auf all die Opfer von Rassismus und Hass lenkt. Aberwitzig, aber grandios!

Joe Wilkins – Der Stein fällt, wenn ich sterbe
Um das Genre „Country Noir“ ist es in Deutschland nach einem Hype von einigen Jahren inzwischen etwas ruhiger geworden. Dass es aber immer noch herausragende Romane aus diesem Genre gibt, beweist für mich in diesem Jahr Joe Wilkins mit diesem Roman, der im Osten Montanas spielt. Wir begleiten Wendell, einen jungen Mann, der allein in seinem Trailer lebt und sich nun um den siebenjährigen Sohn seiner inhaftierten Cousine kümmern soll. Wendell ist außerdem der Sohn von Verl, einem Redneck, der vor fast zwanzig Jahren einen Ranger erschoss, in die Berge floh und seitdem als vermisst gilt. Auf ihn berufen sich nun wieder einige Aufrührer und bereiten sich auf einen gewaltsamen Widerstand gegen den Staat vor. Wilkins nimmt sich sehr viel Zeit für Figuren, Setting und Stimmungen und lässt das Ganze dann in einem Höhepunkt kulminieren. Ein Roman, dem ich mehr Aufmerksamkeit gegönnt hätte. Eindringlich!

Weiterlesen I: Die Preisträger des Deutschen Krimipreises 2023

Weiterlesen II: Die Krimijahresbestenliste 2023

Laurent Binet | Eroberung

Laurent Binet | Eroberung

Nein, Alternativweltromane gibt es nicht nur mit Nazis. Auch wenn das manchmal so aussieht, denn das NS-Regime bietet natürlich allerhand faszinierende Denkspiele, wie wohl die Geschichte des 20.Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Aber es gibt auch andere historische Romane mit postfaktischem Plotansatz. Einen besonders interessanten Ansatz hat der französische Autor Laurent Binet gewählt. Binet ist Historiker und Dozent und wurde international erstmals durch seinen Roman „HHhH“ bekannt, für den er unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Thema darin: Das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 in Prag. Bereits sein zweiter in Deutsche übersetzte Roman, „Die siebte Sprachfunktion“ spielt mit alternativen historischen Abläufen. In seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Eroberung“ hat er erneut eine Alternativweltgeschichte verfasst und geht dazu einige Jahrhunderte zurück.

Binet beginnt den Roman mit einer Reise der Wikingerin Freydis, einer Tochter von Erik dem Roten über die bekannten Anlegeplätze der Wikinger in Kanada hinaus nach Süden. Die Wikinger vermischen sich mit den einheimischen Stämmen, bringen das Eisenschmieden nach Amerika und die Ureinwohner bilden irgendwann Antikörper gegen die Viren, die die Wikinger aus Europa mitbringen. Jahrhunderte später wird Kolumbus nach Amerika segeln und nicht zurückkehren, Amerika bleibt für Europa ein so gut wie dunkler Fleck auf den Landkarten. Schließlich kommt es um das Jahr 1530 zum einem Machtkampf zwischen zwei Brüdern im Inkareich. Der unterlegene Bruder Atahualpa flüchtet mit seinem letzten verbliebenem Hofstaat zunächst nach Kuba und von dort macht er sich 1531 auf gen Europa.

Was dann passiert, dazu möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr groß spoilern. Allerdings stoßen die Inkas in eine sehr wilde Zeit, Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und König von Spanien bekriegt sich mit dem französischen König Franz I., die Reformation Luthers sorgt für unklare Machtverhältnisse und Glaubenskriege, die heilige Inquisition verfolgt gnadenlos Un- und Andersgläubige und die Türken unter Süleyman I. bedrohen das Habsburgerreich. In dieses fragile, komplexe System stoßen nur die Inkas mit wenigen Mann, nicht mit allen europäischen Erfindungen vertraut, aber clever, wissbegierig, in macht- und militärtaktischen Dingen den Europäern überlegen und mit einer Menge Gold und Silber in der Heimat in der Hinterhand. Wie die Inkas in diese politisch komplexe Lage hineinstoßen und den europäischen Kontinent quasi „erobern“, davon erzählt Binet mit viel Lust und Spaß an einer historischen Alternativerzählung.

Doch die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, darunter manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztendlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten. (Auszug S.104)

Dabei gliedert Binet den Roman in vier Teile. Drei kürzere, nämlich zunächst die Saga von Freydis Eriksdottir, danach Fragmente aus dem Tagebuch von Christoph Kolumbus und zuletzt Cervantes Abenteuer. Als dritten und mit Abstand größten Teil fungieren die Atahualpa-Chroniken. Dabei ist das wörtlich zu nehmen, ein allwissender Erzählern berichtet als Chronist von Atahualpa und seinen als Quiteños bezeichneten Inka. Der Stil ist demnach auch eher nüchtern, chronistisch, weitgehend ohne Dialog. Dadurch verzichtet Binet auf eine allzu große Tiefe bei den Hauptfiguren, diese bleiben nur wenig mehr als oberflächlich skizziert. Es gelingt andererseits aber auch, diese wahnwitzige Geschichte auf unter 400 Seiten zu erzählen.

Und dies war für mich als Leser zumeist sehr unterhaltsam und vermutlich hatte auch der Autor großen Spaß. Ein bißchen Hintergrundwissen sollte vorhanden sein, aber dann kann man den Einfallsreichtum des Autors genießen, der den Inkaherrscher sich über die Religion des Angenagelten Gottes wundern lässt, ihm sehr schnell die Schriften eines gewissen Macchiavelli zukommen lässt, ihn mit einigen interessanten Persönlichkeiten der Zeit zusammenbringt (wie etwa einem ziemlich abstoßend antisemitischen Luther) oder einen Briefwechsel zwischen Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam fingiert. Dabei betreibt er ein wenig prä-koloniale Studien und zeigt auf, wie sehr die Eroberer aus Südamerika (bei aller Härte und allem Machtanspruch) den Europäern in der Organisation und Schaffung der Prosperität eines Staatswesens überlegen waren. Laurent Binet gelingt trotz ein paar Schwächen ein wirklich unterhaltsames Werk, das aus dem Subgenre auf jeden Fall heraussticht.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eroberung | Die Taschenbuchausgabe erschien 2022 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00346-2
384 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Civilations | Übersetzung aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Len Deighton | SS-GB

Len Deighton | SS-GB

Eine sehr hohe Zahl von Alternativweltgeschichten kreist um die Nationalsozialisten. Insbesondere ist bei vielen Autoren die Ausgangsposition beliebt, dass die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen haben. Der britische Autor Len Deighton lässt seinen 1978 erschienenen Roman „SS-GB“ Ende 1941 spielen. Seine Prämisse: Nazi-Deutschland hat Großbritannien besiegt und den Südteil besetzt, mit der Sowjetunion herrscht Frieden. Winston Churchill wurde exekutiert, der König ist im Tower interniert. Es existiert eine Exilregierung in den USA, die jedoch von den Amerikanern nicht anerkannt wird.

Auch Scotland Yard wird nun von einem Deutschen geführt, SS-Gruppenführer Kellermann. Dieser hat die alten Strukturen der Behörde aber weitgehend beibehalten. Douglas Archer ist Detective Superintendent und damit ranghöchster Kriminalbeamter. Archer ist trotz seines mittleren Alters schon eine Legende aufgrund der Aufklärung einiger spektakulärer Mordfälle in den vergangenen Jahren. Auch Kellermann hält große Stücke auf Archer, der sich um die unpolitischen Kriminalfälle und die Fälle, in denen keine Deutschen involviert sind, kümmert. Zusammen mit seinem Kollegen und väterlichem Freund Harry Woods wird Archer zu einem Mordfall an einem Antiquitätenhändler gerufen. Ein Mord im Schwarzmarktmilieu ist nicht ungewöhnlich, doch die Begleitumstände machen Archer stutzig. Eine seltsame Zugfahrkarte, ungewöhnliche Brandwunden am Opfer, eine amerikanische Journalistin, die plötzlich mitten bei den Mordermittlungen als angebliche Kundin auftaucht. Zur Bestätigung, dass es sich um etwas Großes handelt, kommt am nächsten Tag dann auch SS-Standartenführer Huth aus Berlin auf, der direkt Himmler unterstellt ist und den Fall übernimmt, aber Archer als Ermittler behält. Nach und nach wird klar, mit was der vermeintliche Antiquitätenhändler zu tun hatte und das bringt Archer in eine gefährliche Lage zwischen SS, Wehrmacht und Widerstand.

Autor Len Deighton wurde 1929 als Sohn eines Chauffeurs und eine Köchin geboren, arbeitete nach dem zweiten Weltkrieg für die Royal Air Force und konnte nach seiner Dienstzeit mit einem Stipendium studieren. Er arbeitete u.a. als Fotograf und Illustrator, bis er 1962 seinen Durchbruch mit „The Ipcress File“ hatte. Neben Spionageromanen, Thrillern und kriegshistorischen Romanen veröffentlichte er auch Kochbücher. „SS-GB“ verbindet mehrere seiner bevorzugten Sujets mit einem alternativen Geschichtsverlauf und wurde 1978 veröffentlicht. 2017 zeigte die BBC eine Miniserie nach dem Roman mit Sam Riley, Kate Bosworth und Lars Eidinger in den Hauptrollen.

Huth wirbelte mit seinem Stock durch die Luft, „Jede Zuwiderhandlung gegen diesen Befehl“, sagte er, „ist nicht nur ein Kapitelverbrechen gemäß § 134 der Militärgesetze des Oberkommandos Großbritannien, das vor dem Erschießungskommando endet, sondern auch ein Kapitalverbrechen gemäß § 11 Ihrer eigenen Gesetze, im Einvernehmen mit der deutschen Besatzung erlassen 1941, das mit dem Galgen im Wandsworth-Gefängnis bestraft wird.“
„Kommt das Erschießen zuerst oder das Erhängen?“, fragte Douglas.
„Wir müssen der Justiz ja schließlich auch noch eine Entscheidung überlassen“, entgegnete Huth. (Auszug S.79)

Solche spitzfindig-zynischen Dialoge finden sich zwar ein paar im Roman, für meinen Geschmack aber noch zu wenige. Len Deighton verliert sich regelmäßig in langen ausführlichen Beschreibungen von Nebensächlichkeiten, ohne auf den Punkt zu kommen. Die Grundidee des Plots ist auf jeden Fall spannend. Die schwierige Entscheidung zwischen Dienst nach Vorschrift (Kollaboration) und Widerstand, Täuschung und Verrat spielen eine wichtige Rolle im Roman. Auch interessant ist das sehr schwierige Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS bei den Deutschen.

Das gehört zu den Stärken des Romans, der mich dennoch nicht ganz überzeugt hat. Und dies liegt vor allen an den Hauptfiguren, die (ausgenommen die Deutschen) ziemlich blass bleiben. Douglas Archer wirkt wie ein Mann ohne Eigenschaften. Witwer mit einem jungen Sohn, erfolgreicher, angesehener Polizist. Aber wofür er steht, was bewegt ihn, seine Konflikte zwischen Kollaboration und Widerstand – das gelingt dem Autor nicht aus der Figur herauszubringen. Auch sein „Love Interest“, die Journalistin Barbara Braga, bleibt für den Leser undurchsichtig und in ihrem Beitrag für die Handlung überschaubar. So bleibt „SS-GB“ für mich eine gute Idee mit einem interessanten Plotrahmen, dem es jedoch an einigen Details für einen richtig guten Roman mangelt.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

SS-GB | Erstmals erschienen 1978
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien 2017 im Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-43931-3
446 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: SS-GB | Übersetzung aus dem Engischen von Kurt Wagenseil und Ursula Pommer
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.