Kategorie: Klassiker

Ted Lewis | Schwere Körperverletzung

Ted Lewis | Schwere Körperverletzung

Ich betrachtete Mals Gesicht, dessen Züge bereits ins Unvertraute glitten, das der Tod mit sich bringt.
„Wer hätte das gedacht?“, meinte Mickey. „Ein stabiler Typ wie Mal. Man kann eben nie wissen.“
Mickey langte nach oben und entfernte die Kabel aus der Lampenfassung, fing an, sie aufzuwickeln.
„Das ist unerfreulich“, sagte ich.
„Wieso das, Boss?“, fragte Mickey.
„Ich glaube nicht, dass er es war.“ (Auszug S.102-103)

Der Typ, der so eben den Tod eines Mitarbeiters in Folge einer Befragung unter Folter ein wenig achselzuckend hinnimmt, ist George Fowler. Fowler ist eine Unterweltgröße Ende der 1970er in England, ein Pornokönig. Pornographie war damals in Großbritannien verboten und damit auch ein äußerst lukratives Geschäft. Fowler hat sich ein kleines Imperium aufgebaut, dass sowohl Produktion als auch Vertrieb umfasst. Dabei bietet Fowler eine große Bandbreite vor allem im Hardcorebereich an – bis hin zu Snuff-Videos. Fowler und seine Gattin Jean mischen auch gerne selbst bei der Produktion mit.

Doch sein Imperium ist stets bedroht – sowohl von Konkurrenten als auch von der Polizei, bei der er sich allerdings einige Beamten als Augen und Ohren hält. Allerdings gibt es nun Ärger von innen: Seine Frau Jean macht auch das Controlling und in den Büchern fallen verschwundene Beträge auf. Nichts, was seinen Reichtum in Gefahr bringen würde, aber etwas, was man natürlich nicht tolerieren darf. Fowler beginnt mit dem Verhör einiger direkter Untergebener. Dabei fallen allerdings Kollateralschäden an (siehe oben). Fowler wird zunehmend paranoid, kann sich nur noch auf die Loyalität einiger weniger (zurecht?) verlassen und so beginnt das Imperium immer schneller zu erodieren.

In Mablethorpe öffnet man vormttags um zehn, während und außerhalb der Saison.
Meine gelegentlichen Ausflüge in die Stadt bleiben von dieser Tatsache unberührt, weil ich immer dabei habe, was ich benötige. Es ist oben so, dass die Fahrt in die Stadt und das Umherwandern mir die Illusion verschaffen, die Zeit verfieße, stehe nicht stillwie die immerwährende Leere, worin mein Verstand verharrt. (Auszug S.69)

Das Ganze erzählt uns George Fowler selbst, aufgeteilt auf zwei Zeitebenen. Die Kapitel sind abwechselnd mit „Die See“ und „Der Rauch“. „Die See“ wird im Präsens erzählt, Fowler ist offenbar untergetaucht, hält sich im kleinen Seebad Mablethorpe an der Ostküste Englands auf, hat dort einen Bungalow in den Dünen. Fowler grübelt viel, trinkt viel Scotch und pflegt seine Paranoia. In einer jungen Frau, die ihm in einer Kneipe und einer Spielothek begegnet, glaubt er, einen Lockvogel zu erkennen. In den Abschnitten „Der Rauch“ wird rückblickend erzählt, wie es dazu kam, dass Fowler in diesem trübseligen Seebad abtauchen musste.

Autor Ted Lewis ist eine feste Größe in der britischen Noir-Szene. Seinen Durchbruch erlangte er 1970 mit dem Roman „Get Carter“, bekannt unter anderem auch durch die Verfilmung mit Michael Caine in der Hauptrolle (es gibt auch eine Neuverfilmung mit Sylvester Stallone). Lewis verstarb 1982 im Alter von nur 42 Jahren. Heutzutage ist er im deutschsprachigen Raum nur noch eingefleischten Krimifans ein Begriff, auch ich konnte auch erst im Zusammenhang mit „Get Carter“ etwas mit ihm anfangen. Somit ist es durchaus erfreulich, dass Verleger Frank Nowatzki „GBH“ („grievous bodily harm“) eine Neuauflage spendiert, nachdem er den Roman bereits 1990 in seiner Reihe „Black Lizard Bücher“ herausgegeben hatte. Im Vorwort gibt es übrigens noch eine Würdigung durch den auch nicht unbekannten Derek Raymond.

„Schwere Körperverletzung“ ist ein klassischer Noir über Macht, Gewalt und Verrat mit einem Ich-Erzähler, der dem Leser einen tiefen Einblick in seine seelische Verfassung bietet. In der Gegenwart der einsame Wolf, der sich in den schmerzenden Erinnerungen suhlt, seine Paranoia pflegt und langsam in den Wahnsinn gleitet. In den Rückblicken der omnipotente Gangsterboss, der mit brutaler Rücksichtslosigkeit seine Macht zu erhalten versucht und nur schwer bemerkt, wie ihm alles entgleitet. Am Ende kommt es dann doch zum Showdown im sonst so abhängtem Mabelthorpe. Alles in allem eine durchaus anregende Reise in den britischen Noir der 1970er.

 

Rezension & Foto von Gunnar Wolters.

Schwere Körperverletzung | Erschienen am 18.12.2020 bei Pulp Master
ISBN 978-3-946582-04-5
334 Seiten | 14,80 €
Originaltitel: GBH (Übersetzung aus dem Englischen von Angelika Müller)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Maj Sjöwall & Per Wahlöö | Die Tote im Götakanal

Maj Sjöwall & Per Wahlöö | Die Tote im Götakanal

Obwohl die Kopfschmerzen nicht weniger geworden waren und er einen Pfropfen im Ohr hatte, fühlte er sich bedeutend wohler. Er kam sich vor wie ein Langstreckenläufer eine Sekunde vor dem Start. Lediglich zwei Dinge beunruhigten ihn: Der Mörder hatte drei Monate Vorsprung. Und er selbst wußte nicht, in welche Richtung er rennen sollte. (S.37)

In Motala am Vätternsee wird bei Aushubarbeiten im Schleusenbecken des Götakanals eine nackte Frauenleiche gefunden. Die Tote wurde vergewaltigt und erwürgt. Zur Unterstützung der örtlichen Polizeibehörden kommt Kommissar Martin Beck aus der Hauptstadt nach Motala. Doch die Ermittlungen stocken zunächst, denn die Tote ist trotz Aufruf an die Bevölkerung nicht zu identifizieren. Dann kommt der entscheidende Hinweis aus den USA: Die Tote ist Roseanna McGraw aus Lincoln, Nebraska. Sie war auf Europareise und in Schweden mit dem Passagierschiff „Diana“ auf dem Götakanal unterwegs.

Damit ist klar, dass es niemand aus ihrem näheren Umfeld war, sondern jemand, den sie auf ihrer Reise kennengelernt hatte. Doch Beck und seine Kollegen tun sich bei den Ermittlungen äußerst schwer. Die Befragung der Crew und der Passagiere ergibt keinen direkt Verdächtigen. Die Polizisten sammeln zunächst Informationen über die Tote und versuchen, Bild- und Filmmaterial von den Reisenden zu erhalten, um zu erfahren, wem Roseanna McGraw auf der Fahrt begegnet ist. Da kommt ein entscheidender Hinweis: Neben den Personen auf der offiziellen Passagierliste gibt es auf diesen Kanalfahrten noch Deckspassagiere, die unterwegs zusteigen und ein paar Tage mitfahren.

Martin Beck warf einen letzten Blick auf seine Unterlagen; das Bild der Frau von Växjö lag obenauf. Dann klappte er die Mappe zu. „Das wäre dann alles“, sagte er. „Entschuldigen Sie, daß wir sie mit derartigen Fragen belästigen mußten. Aber das gehört leider zu meinem Beruf. Kann ich Sie vielleicht nach Hause bringen lassen?“
„Danke, ist nicht nötig. Ich nehme die U-Bahn.“ […]
Martin Beck begleitete ihn ins Erdgeschoß hinunter. „Also, auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“ […]
„Sollen wir ihn weiter beschatten?“, fragte Kollberg.
„Ist nicht nötig.“
Ahlberg sah Martin Beck an. „Glaubst du, daß er es ist?“
Martin Beck stand mitten im Zimmer und betrachtete seine Fingernägel. „Ja“, sagte er schließlich. „Ich bin felsenfest davon überzeugt.“ (S.117-118)

Maj Sjöwall und Per Wahlöö stehen für die große Tradition der schwedischen Kriminalliteratur. Ihr zehnbändiger Zyklus „Roman über ein Verbrechen“ um Kommissar Beck und seine Kollegen gilt immer noch als Maßstab des Genres. Wahlöö war zunächst ab Ende der 1950er Jahre alleine als Autor mehrerer Politthriller erfolgreich. 1961 lernten sich Sjöwall und Wahlöö kennen. Sie waren beide Journalisten und Übersetzer, insbesondere der Cop-Krimis aus dem 87.Revier von Ed McBain. Schließlich entwarfen die beiden bekennenden Marxisten einen Plan über eine Krimi-Reihe, in der sie vor allem auch gesellschaftskritische Aspekte unterbringen wollten. Das Autorenpaar war ein großer Kritiker des schwedischen Wohlfahrtsstaats und der vermeintlichen „Scheindemokratie“. Jan Christian Schmidt zitiert in einem Artikel über den beiden aus der „Swedish Book Review“: „Obwohl sie den Kriminalroman in der Tat erneuert haben, lag es ironischerweise überhaupt nicht in ihrer Absicht, das Genre zu erneuern, sondern sie wollten es als Vehikel benutzen, um ein breites Publikum und eine spezifische Plattform für ihre politischen Ansichten zu gewinnen.“ Ihre Romanreihe begann 1965 mit dem Erscheinen von „Roseanna“ (dt. „Die Tote im Götakanal“) und endete 1975 mit „Terroristerna“ (dt. „Die Terroristen“). Per Wahlöö starb bereits im Juni 1975, kurze Zeit nach Ende der Reihe. Maj Sjöwall arbeitete anschließend wieder hauptsächlich als Übersetzerin, veröffentlichte selbst nur noch weniges, meist als Co-Autorin. Sie starb im April 2020.

Der vorliegende erste Band der Reihe um Kommissar Beck ist ein waschechter Polizeiroman in Tradition von Ed McBain. Der Fokus liegt auf der Ermittlungsarbeit und den Abläufen in der Ermittlergruppe. Dialoge, Zeugenbefragungen, Protokolle, Telegramme werden teilweise wortgetreu wiedergegeben, was auch heute noch sehr authentisch wirkt. Zudem entwickelt sich der Roman von einer klassischen Mördersuche im Laufe zu der Frage, wie man dem Hauptverdächtigen auch habhaft werden kann. Die politische Botschaft Sjöwalls und Wahlöös ist in diesem Roman noch eher unterentwickelt, wird sich im Laufe der Reihe noch erheblich steigern. Gleichwohl ist der Fall ein Abbild der gesellschaftlichen Zeit: Roseanna McGraw war eine moderne Frau, eigenständig, selbstbewusst und sexuell nicht zurückhaltend. Jemand, der nicht ins Bild so mancher Männer passte. Von Kommissar Beck erfährt der Leser mit Abstrichen auch ein paar Dinge außerhalb seiner Arbeit. Das Familien- und Eheleben scheint Beck zu ermüden. Er ist froh, sich zwischendurch einige Tage abseilen zu können und steckt hohe Energie in die Aufklärung des Falles.

„Die Tote im Götakanal“ ist inzwischen natürlich ein Klassiker des Genres. Mit der Reihe waren die Autoren Wegweiser für das bis heute äußerst erfolgreiche Genre der skandivischen Kriminalromane, die zumeist auch eine gesellschaftlich-politische Komponente beinhalten. Der Roman ist aus meiner Sicht gut gealtert, immer noch sehr gut lesbar, da modern und mit vielen Dialogen geschrieben. Dieser Klassiker ist auf jeden Fall eine Wiederentdeckung wert.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Die Tote im Götakanal | Erstmals erschienen 1965
Die gelesene Ausgabe erschien 1968 im Rowohlt Verlag
Aktuelle Ausgabe: ISBN 978-3-499-24441-4
272 Seiten | 9,99 €
Originaltitel: Roseanna (Übersetzung aus dem Schwedischen von Johannes Carstensen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen I: Artikel über Maj Sjöwall und Per Wahlöö von Jan Christian Schmidt auf kaliber.38

Weiterlesen II: Gunnars Rezension zu Band 2 der Reihe („Der Mann, der sich in Luft auflöste“)

Robert Hültner | Inspektor Kajetan und Sache Koslowski / Walching (Bde. 1+2)

Robert Hültner | Inspektor Kajetan und Sache Koslowski / Walching (Bde. 1+2)

Das Krimigenre ist ja auch immer wieder gewissen Trends ausgesetzt. In den letzten Jahren waren dies im deutschsprachigen Markt unter anderem auch historische Kriminalromane. Trendsetter war hierzu sicherlich die Gereon-Rath-Krimis aus der Feder von Volker Kutscher. Doch natürlich gab es schon länger vor Kutscher historische Kriminalromane aus Deutschland. Ein Meilenstein war hierbei sicherlich die Reihe um den Münchner Inspektor Kajetan von Robert Hültner.

1993 erschien der erste Roman „Walching“ mit Kajetan als Ermittler in einer Mordsache im Oberbayrischen im Jahr 1922 im Verlag Georg Simader. Zwei Jahre später folgte „Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski“, einer Art Prequel, spielt der Roman doch 1919 in München zur Zeit der Räterepublik. Hiermit gewann Hübner 1996 auch den Deutschen Krimi Preis. Bis 2013 entstanden insgesamt sechs Romane, zwei weitere gewannen ebenfalls den Deutschen Krimi Preis. Zum 70.Geburtstag des Autors hat sein aktueller Verlag nun die Romane in Doppelbänden zusammengefasst und neu veröffentlicht.

In München des Jahres 1919 geht es im wahrsten Sinne drunter und drüber. Nach dem Ende des 1.Weltkriegs und der Abdankung des Königs wurde in Bayern der Freistaat ausgerufen. Doch die reaktionären Kräfte schlagen zurück, Ministerpräsident Kurt Eisner wird von einem völkischen Adligen erschossen. Nun kämpfen Spartakisten, Mehrheitssozialdemokraten und rechte Freikorpsler um die Macht. Die Münchner Polizei ist nicht eingeschränkt handlungsfähig, ein großer Teil der Beamten kommt kaum noch zum Dienst. Inspektor Paul Kajetan allerdings ist dienstbeflissen. Er ermittelt in einer Brandstiftungssache, bei der ein Mann ums Leben kam. Verdächtigt wird der Mieter Eugen Meininger, der jedoch nicht auffindbar ist. Kajetan verfolgt seine Fährte und findet heraus, dass Meininger versucht hatte, eine Anstellung als Journalist zu erhalten. Dabei war er auf eine üble Rufmordkampagne gegen Ministerpräsident Eisner („Die Sache Koslowski“) angesetzt worden, journalistisch eine tote Nummer. Aber Meininger hat irgendwas herausgefunden, hat unter anderem im rechten Milieu recherchiert. Und Kajetan merkt fast zu spät, dass hinter dem Fall eine erhebliche politische Dimension steckt.

„Ach, noch was, Herr Inspektor…wie war gleich noch der Name?“
„Kajetan. Paul Kajetan.“
„Ich muss Ihren Mut bewundern. Wieso, werden Sie fragen. Nun, ich habe den Eindruck, dass Sie sich möglicherweise derart irren, dass Ihnen das einmal nicht mehr verziehen wird. Geben Sie acht auf sich. Tun Sie lieber, was die meisten Ihrer Kollegen bereits tun.“
„Und das wäre?“
„Nichts, Herr Inspektor Kajetan. Ruhen Sie sich einfach aus.“ (S.140)

„Walching“ ist zwei Jahre vor der „Sache Koslowski“ erschienen, spielt aber drei Jahre später im Jahr 1922. Inspektor Kajetan ist in den Wirren von 1919 noch knapp mit dem Leben davongekommen und hat auch seinen Beruf behalten. Allerdings wurde er in die fiktive Provinzstadt Dornstein strafversetzt. Sein neuer Chef behält ihn allerdings im Auge und gibt Kajetan nur harmlose Aufgaben. Wie diese Mordsache in Walching, einem Dorf in schon hügeligen Voralpenland. Eine Magd wurde ermordet und praktischerweise hat man vor Ort schon die Täter inhaftiert. Drei Landstreicher waren ins Bauernhaus eingedrungen und hatten die Speisekammer geplündert. In der oberen Etage ist die Magd ermordet worden. Kajetan soll den Fall eigentlich nur abschließen. Doch als er in Walching angekommen ist und mit den Verhören beginnt, kommen ihm schnell Zweifel. Nicht nur, dass die Landstreicher nicht gestehen. Zu schnell möchten auch die Einheimischen, vor allem der Bürgermeister, zur Tagesordnung übergehen. Kajetan forscht weiter und versucht vor allem, ein mögliches Mordmotiv herauszufinden. Doch die nicht gerade redselige Dorfgemeinschaft macht es ihm nicht leicht.

„Dann werden sie ja alles bereits zugegeben haben, nehm ich an.“
Lindinger hob die Augenbrauen besorgt und sah zum Wachmeister. „Noch…nicht, Herr Inspektor“, stotterte Mayr. Der Bürgermeister seufzte, fingerte nach einem Bleistift und legte ihn wieder fort. „Aber dafür sind sie ja jetzt da, Herr Inspektor“, sagte er hoffnungsvoll. Als Kajetan nicht sofort darauf antwortete, setzte er hinzu: „Ich möcht halt, dass bald wieder eine Ruhe ist in unserer Gemeinde. Muss jetzt so eine Gaudi sein, grad jetzt, wo es auf die Feiertage zugeht…“ (S.298)

Im Gegensatz zu Kutschers Gereon Rath nutzt Robert Hültner seine Hauptfigur Paul Kajetan nicht für ausgedehnte private Nebenstränge. Überhaupt erfährt man nur dosiert etwas vom Inspektor. Ein beflissener Beamter, trotz der politisch, unruhigen Zeiten eher unpolitisch. Ein treuer Staatsdiener mit dem Anspruch, Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen. Und der dadurch auch schnell bei seinen Vorgesetzten aneckt.

Doch die Konzentration auf den Kriminalfall und die Ermittlungen tun den Romanen durchaus gut. Ist die „Sache Koslowski“ noch ein sehr politischer historischer Krimi, kommt bei „Walching“ Regionalkrimi-Flair auf (bevor es zum Ende doch politisch wird). Bei beiden Krimis fällt auf, wie sorgfältig der Autor das historische Setting und vor allem den Lokalkolorit verwendet. Dies kommt vor allem auch in den überzeugenden Dialogen zum Tragen. Insgesamt sind diese beiden Bände als Reihenauftakt stimmig und wirken historisch akkurat. Für Fans des aktuellen Booms historischer Krimis sollte diese Reihe (besonders durch die Neuauflage in Doppelbänden) eine Wiederentdeckung wert sein.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski / Walching | Als Einzelbände erstmals erschienen 1995 bzw. 1993
Die Ausgabe als Doppelband erschien am 25.06.2020 im btb Verlag
ISBN 978-3-442-77039-7
480 Seiten | 12,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Doppel-Rezension Georges Simenon: Chez Krull & Maigrets Jugendfreund

Doppel-Rezension Georges Simenon: Chez Krull & Maigrets Jugendfreund

Vor knapp zweieinhalb Jahren war es schon so etwas wie ein Paukenschlag in der Buchbranche. Nach mehr als vierzig Jahren verlor der Diogenes Verlag die Rechte an einem seiner absoluten Autorenzugpferde: Georges Simenon. Neuer Rechteinhaber wurde der neu gegründete Kampa Verlag, dessen Inhaber Daniel Kampa vorher bei Diogenes arbeitete und als großer Kenner des Autors gilt. Kampa hat sich die Mammutaufgabe gesetzt, das komplette Werk Simenons wieder herauszugeben, teilweise neu übersetzt, viele mit Nachworte prominenter Simenon-Fans versehen. Dazu bislang unübersetzte Frühwerke des Autors, Autobiografisches und einiges mehr. Seit dem zweiten Halbjahr 2018 wurde mit der Wiederauflage Simenons begonnen, parallel erscheint seit Anfang 2019 im Atlantik Verlag die Taschenbuch-Edition.

Georges Simenon braucht an sich natürlich keine große Einführung mehr. Der Belgier war während seiner Schaffenszeit ein äußerst produktiver Autor. Am bekanntesten sind natürlich seine 75 Kriminalromane mit Kommissar Maigret (plus ein unter Pseudonym veröffentlichter „Ur“-Maigret). Auf diese Krimis wurde Simenon lange Zeit von manchen Kritikern beschränkt, dabei ist das andere Werk des Autors – die sogenannten „Non-Maigrets“ – umso unfangreicher. Über 100 Romane, knapp 150 Erzählungen, mehrere hundert Kurzgeschichten sowie zahlreiche Essays, autobiografische Werke und anderes. Für dieses Rezensionsdoppel hat sich Gunnar einen Non-Maigret (oder „roman dur“, wie Simenon selbst meinte) und Andy sich einen Maigret ausgesucht.

Georges Simenon | Chez Krull

Eine Kleinstadt in Nordfrankreich, Ende des 1930er Jahre. Am Rande der Stadt liegt der Kanalhafen und dort steht der Laden der Krulls. Der Vater ist vor vielen Jahren eingewandert, besitzt aber längst die französische Staatsangehörigkeit, diente in der französischen Armee. Dennoch sind die Krulls Außenseiter in der Stadt. Ihr Laden, ein kleiner Kaufmannsladen mit Alkoholausschank, wird von den Einheimischen gemieden, durch die Kanalschiffer können sich die Krulls aber gerade so über Wasser halten.

Da betritt Hans Krull die Szene. Er ist ein Neffe des alten Krull und hat sich als Gast angekündigt. In Deutschland droht ihm angeblich das KZ. Während das Ehepaar Krull und die drei Kinder Joseph, Anna (beide schon erwachsen) und Elisabeth spießig, sehr zurückhaltend und angepasst sind, bloß nicht auffallen wollen, ist der junge Hans Krull aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er ist selbstbewusst, laut, neugierig, ein Draufgänger, spricht gerne auch Deutsch in der Öffentlichkeit. Und Hans Krull ist ein Lügner, ein Schmarotzer, ein Tunichtgut, er streunt in der Gegend herum, lieht sich bei Freunden der Krulls unter einem falschen Vorwand Geld und verführt die jüngste Tochter Elisabeth.

Da geschieht ein Mord. Sidonie, die Tochter einer stadtbekannten Alkoholikerin, wird tot im Kanal aufgefunden. Der erste Verdacht fällt auf den Lebensgefährten der Mutter, doch er kann überraschenderweise ein Alibi aufweisen. Zusätzlich befeuert durch die Aufmerksamkeit, die Hans durch sein Verhalten in der Stadt auslöst, dreht sich die Stimmung nach und nach zu Lasten der Krulls.

Es gab da eine schreckliche, deprimierende Ungerechtigkeit, denn immer schon, so weit er zurückdenken konnte, hatte er alles richtig machen wollen, hatte er sich angestrengt, so zu sein, wie die anderen, besser zu sein als sie, in der Schule der beste Schüler zu sein, zu Hause ein braves Kind, seine Kleider sauber zu halten und seine niederen Instinkte zu unterdrücken.
Und jetzt stand er hier, als Angeklagter, vor diesem Hans, der in seinem Alter war, ihn spöttisch ansah, ihm überlegen war in seiner zynischen Gelassenheit. (Seiten 172 und 173)

Der Roman hat für mich zwei Ebenen. Ganz offensichtlich und auch anhand der Kurzbeschreibung herauszulesen, geht es hier um die Konflikte von Einheimischen und Zugereisten, um Fremdenfeindlichkeit. Wie Ressentiments gepflegt werden und zu wachsen beginnen, schildert Simenon sehr eindrücklich. Einzelne Wortführer stacheln an, ein Mob formiert sich, löst sich wieder auf und ist am anderen Tag wieder da. Man beginnt mit Rufen, macht mit Schmierereien weiter und steigert sich stetig in der Aggressivität. Das alles schildert Simenon weitgehend aus Sicht der machtlosen Krulls. Auch die Polizei, wenngleich um den Erhalt von Recht und Ordnung bemüht, kann sich letztlich dem Druck nicht entziehen.

Andererseits zeigt Simenon seine bekannten Stärken in der psychologischen Charakterisierung seiner Figuren. Die Familie der Krulls in ihrem vergeblichen Wunsch nach Akzeptanz. Es wird aber auch deutlich, dass sie eine echte Eingliederung selbst nicht vollständig betrieben haben. Sie haben sich aber inzwischen scheinbar damit abgefunden, eine seltsame Apathie macht sich breit. Am undurchsichtigsten ist der Vater Cornélius, der selten etwas sagt und den seine Familie auch möglichst aus allem heraushalten will. Und dann platzt dieser Vetter Hans in diese Szenerie – egoistisch, selbstsicher und unbekümmert. Hans hat ein feines Gespür für die inneren Konflikte der Krulls und befeuert diese. Er ist der Katalysator der Ereignisse, sowohl innerhalb der Familie als auch im Außenverhältnis.

Ein wirklich gelungener Roman, der mich auf beiden Ebenen überzeugen konnte. Simenon bringt neben der psychologischen Komponente auch noch eine gesellschaftspolitische Ebene hinein und das macht diesen Roman aus dem Jahr 1939 zeitlos relevant.

Georges Simenon | Maigrets Jugendfreund

In fünfunddreißig Jahren war er keinem einzigen Mitschüler aus dem Lycée Banville begegnet. Und dann musste es ausgerechnet Florentin sein! (Seite 221)

Der Titel Maigrets Jugendfreund ist ein wenig irreführend, denn eigentlich konnte Jules Maigret, Kommissar der Pariser Kriminalpolizei seinen früheren Mitschüler Léon Florentin nie so richtig leiden. Der einstige Klassenclown Florentin war bekannt für seine Faxen und nahm es mit der Wahrheit nicht so genau. So ist Maigret auch nicht erfreut, als der Bäckersohn ihn Mitte Juni 1968 am Quai des Orfèvres im 9. Arrondissement aufsucht und verzweifelt um Hilfe bittet. Und es ist eine ganz schön pikante Geschichte, die ihn in eine mehr als prekäre Lage gebracht hat: Seine Geliebte Joséphine „Josée“ Papet wurde in ihrer Wohnung erschossen, während er sich im Wandschrank versteckte. Die kleine, 20 Jahre jüngere Josée becircte die Männer mit ihrer sanften und charmanten Art und ließ sich neben ihm noch von vier weiteren Liebhabern aushalten. Diese wussten weder voneinander noch von Florentin und besuchten sie an unterschiedlichen Tagen. Wenn einer mal unangemeldet kam, musste Florentin sich schnell verstecken.

Maigret beginnt mit seiner geduldigen und souveränen Art den Tathergang zu rekonstruieren, die übrigen vier Galane zu ermitteln und auf ihre Motive sowie Alibis abzuklopfen. In Josées Wohnung wurden sämtliche Fingerabdrücke abgewischt und es fehlen alle Ersparnisse sowie sämtlicher Briefverkehr. Verdächtig macht sich auch die übergewichtige und stets mürrische Concierge Madame Blanc, die niemanden gesehen haben will. Aber der Hauptverdächtige ist und bleibt Léon Florentin, eine verkrachte Existenz, der in seinem Leben nichts hinbekommen hat und sich momentan erfolglos als Antiquitätenhändler verdingt. Der einstige Hallodri ist vorbestraft und wirkt inzwischen nur noch wie ein alternder Versager.

Wenn zum Ende dieser kleinen, aber feinen Geschichte der Pariser Kommissar alle Verdächtigen mit seinen Rechercheergebnissen konfrontiert und den Täter entlarvt, entsteht bei ihm kein Triumphgefühl. Maigret – immer mit Pfeife und gemächlicher Ruhe-  versucht eher, die Motivation für die Tat und auch den Verbrecher zu verstehen. Damit war Georges Simenon einer der ersten, bei dem in den Maigret-Romanen der Fokus weniger auf der Täterermittlung sondern eher auf den psychologischen Aspekten und den Hintergründen des menschlichen Verhaltens lag.

Maigret ist ein typischer Kleinbürger, dem das wohlhabende Bürgertum immer ein wenig suspekt ist. Seine Stärken sind sein Einfühlungsvermögen und seine Beharrlichkeit. Auch zeichnet ihn eine große Menschlichkeit aus. Den Fall löst er auch durch Intuition, seine Inspektoren spielen keine großen Rolle und werden charakterlich nicht vertieft. Mehr im Hintergrund agiert Madame Maigret, deren Aufgabe, ein behagliches Heim für ihren Ehemann zu schaffen und als ausgleichender Ruhepol zu fungieren, für die heutige Zeit natürlich etwas antiquiert wirkt.

Maigrets Jugendfreund ist der 69. von 75 Romanen sowie 28 Erzählungen mit dem berühmten Pfeifenraucher, die der belgische Autor in einen Zeitraum von über 40 Jahren geschrieben hat. Mich hat der Krimi, der in einfacher, nüchterner Sprache, amüsanten Dialogen und ohne viel Pathos erzählt wird, blendend unterhalten.

Chez Krull | Erstmals erschienen 1939
Die gelesene Taschenbuchausgabe erschien am 30. August 2019 im Atlantik Verlag
ISBN 978-3-92773-495-1
278 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Spannungsroman, Klassiker
Wertung: 4.0 von 5.0

Maigrets Jugendfreund | Erstmals erschienen 1968
Die gelesene Taschenbuchausgabe erschien am 4. Juli 2019 im Atlantik Verlag
ISBN 978-3-455-00776-3
224 Seiten | 12.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Genre: Krimi, Klassiker
Wertung: 3.5 von 5.0

Auch bei uns: Rezensionen zum Hörbuch Maigret: Die spannendsten Fälle ♬ sowie den Romanen Maigret und die junge Tote und Maigret und der gelbe Hund.

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Giorgio Scerbanenco | Der lombardische Kurier Bd. 4

Der lombardische Kurier, Moderner Klassiker von Giorgio Scerbanenco, neu entdeckt

Dem Folio Verlag aus Wien und Bozen ist es zu verdanken, dass die vier Romane um den Mailänder Ermittler Duca Lamberti in der bewährten Übersetzung von Christiane Rhein endlich wieder vorliegen. Geschrieben hat diese Bücher Giorgio Scerbanenco, der als Vladimir Šerbanenko 1911 in Kiew geboren wurde. Mit Ausbruch der Revolution flüchtete seine Mutter mit dem Baby in ihre Heimatstadt Rom. Zwar kehrten sie noch einmal in die Ukraine zurück, aber da war sein Vater bereits tot, ermordet in den Revolutionswirren. Die Mutter wanderte mit ihrem Sohn 1927 endgültig nach Mailand aus, wo sie nur zwei Jahre später starb. Giorgio Scerbanenco, wie er sich inzwischen nannte, musste die Schule abbrechen und allerlei Aushilfsjobs annehmen, um sich über Wasser zu halten. Finanzielle Sorgen sollten ihn lange Jahre begleiten, so dass er gezwungen war, als Journalist und Schriftsteller viele Genres zu bedienen, wobei er äußerst produktiv war. Unter anderem gründete er mehrere Frauen-Zeitschriften und wurde berühmt als Kummerkasten-Onkel „Adrian“. In dieser Funktion lernte er die Gemütsverfassung der Italienerinnen kennen, ihre geheimsten Wünsche und größten Nöte und Sorgen und damit viel über den Zustand der Gesellschaft.

In seinen Krimis, die seinerzeit hochgelobt und preisgekrönt waren, schuf Scerbanenco zwischen 1966 und 1968 den ersten originär italienischen Detektiv in wahrhaft italienischen Krimis, die treffend den Alltag ihrer unterschiedlichen Charaktere und deren Umgang miteinander beschreiben, und die sehr realistisch ihre Umgebung und ihre spezielle Atmosphäre abbilden, ein Mailand nicht als kuschelige, heimelige Kulisse wie sie heute in vielen Regionalkrimis gezeigt wird, sondern fast durchgehend als düstere, neblige, bedrohliche und gefährliche Stadt. Dennoch muten die Erfahrungen, die Duca in diesem Milieu macht, als gemächliche, fast gemütliche Abenteuer an. Dabei mag Der Lombardische Kurier zur Zeit seiner Entstehung durchaus als „harter“ Krimi gegolten haben, allein auf Grund des unerhört grausamen Verbrechens.

Der Leser wird unmittelbar hineingeworfen in das Geschehen. Das Eingangsbild zeigt Duca Lamberti im Krankenhaus am Bett einer jungen Lehrerin, aber er kann nicht mehr mit ihr sprechen, sie ist gerade verstorben, den zahlreichen schweren Verletzungen erlegen, die ihr von ihren Schülern zugefügt wurden. Die haben sie im Klassenzimmer überfallen und erniedrigt, gequält und brutal vergewaltigt. Der Anblick ihres entsetzlich zugerichteten Körpers ruft in Lamberti eine unbändige Wut hervor, und er ist fest entschlossen, für die Bestien, die schuld an diesem Massaker sind, die härteste möglich Bestrafung zu erreichen. Akribisch studiert er die Akten der verhafteten Schüler, die fast alle aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen und zum Teil schon vorbestraft sind. Er ist durchaus wichtig, die sozialen Hintergründe seiner Figuren zu erkennen und zu verstehen, sich in ihre triste, aussichtslose Situation hineinzuversetzen. Natürlich treibt ihn die Frage um, wie sie zu dem wurden, was sie sind, aber Mitleid mit den Burschen hat Duca nicht. Wenn er freundlich zu ihnen ist, dann ist das Mittel zum Zweck. Mit psychologischen Tricks und mit physischem Druck, den man durchaus Folter nennen kann, versucht er in Einzelverhören die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber er kann den elf Schülern ihr gemeinschaftlich begangenes Massaker nicht beweisen. Jeder behauptet, es seien die anderen gewesen. Am Ende beschleicht Duca der Verdacht, dass ein Erwachsener die Schüler angestiftet und das Verbrechen organisiert hat.

Als sich der einzige Junge, der vielleicht zu einer Aussage bereit gewesen wäre, in den Tod stürzt, wagen Lamberti und sein Vorgesetzter Carrua ein riskantes Experiment: Duca nimmt einen der Schüler mit nach Hause und hofft, sich sein Vertrauen zu erschleichen zu können. Zunächst scheint sein Plan aufzugehen, doch dann entschließt sich sein Schützling, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf ein besseres Leben und der Angst vor der Anstalt, zu fliehen. Er ahnt nicht, dass er beschattet wird und nimmt Kontakt auf zu der Person, die Duca unbedingt finden muss, weil sie der Drahtzieher in diesem Drama ist. Das gelingt letzten Endes, und damit ist dann auch schon die ganze Geschichte erzählt.

Duca hat also Recht behalten mit seiner Vermutung, aber es dauert lange, bis er die anderen und vor allem seinen Chef überzeugen kann, in diese Richtung zu ermitteln. Obwohl er wieder und wieder seine Theorie mit den immer gleichen Worten herunterbetet, begegnet man ihm mit Zurückhaltung. Ständige Wiederholungen sind als Stilmittel eigentlich verpönt, unterstreichen hier aber die Hartnäckigkeit und Sturheit des Ermittlers. Dass es schließlich genau so ist und genau so kommt wie er es erwartet hat, passt zu dem spannungsarmen Plot, der nüchtern, realistisch Fakt an Fakt reiht. Wahrlich kein Thriller, Spannung kommt bei Polizeiroutine mit scheinbar endlosen Verhören, Ortsbesichtigungen, vielen Befragungen und noch mehr Laufarbeit kaum auf. Und zunächst kommt Duca auf diese Art auch zu keinem Ergebnis, er bekommt zunehmend Zweifel am Sinn seiner Arbeit. Auch, weil ihn die Gleichgültigkeit seiner Umgebung und die abwehrende Haltung seines Chefs wütend machen. Der ist Pragmatiker, er mag Ducas Art nicht, sich in eine Sache hineinzusteigern und immer ein philosophisches Problem daraus zu machen, die Dinge mit seinem Eigensinn noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind.

Diese starke Figur Duca Lamberti ist hauptsächlich verantwortlich für den Erfolg der Romanreihe. Er ist Arzt, hat aber seine Approbation verloren, weil er wegen Sterbehilfe zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Für ihn war die Entscheidung, das Leiden einer alten Dame abzukürzen, ein Akt der Nächstenliebe. Desillusioniert, angeekelt vom Leben und verzweifelt am Zustand der Welt nimmt er nun aus Geldmangel seine Tätigkeit als Ermittler für Kommissar Carrua auf, einen ehemaligen Kollegen seines Vaters bei der Mailänder Polizei. Seine mit einem Kind sitzen gelassene Schwester versorgt er so gut er kann. Ihre kleine Tochter Sara liebt er zärtlich. Als aber das Mädchen plötzlich hohes Fieber bekommt, lehnt er es ab, an ihr Krankenbett zu kommen, ihm ist es wichtiger, ein vielleicht entscheidendes Verhör durchzuführen. Stattdessen schickt er einen befreundeten Arzt, der dem Kind allerdings nicht helfen kann, es stirbt im Krankenhaus.

Duca ist zwar betroffen vom Tod der Kleinen, aber Selbstvorwürfe oder Zweifel an seinem Handeln gibt es für ihn nicht. Er kann durchaus mitfühlend sein, aber genau so kalt und roh, geradezu bösartig. Er vereint völlig widersprüchliche Regungen in sich und entscheidet aus dem Bauch heraus. Er denkt durchaus differenziert über Schuld und Sühne nach, über den Rechtsstaat, seine Gesetze und Strafen, genauso aber kann er von Jetzt auf Gleich Verbrechern gegenüber gewalttätig werden. Dieses ambivalente Verhalten macht Duca so interessant, wenn auch nicht sonderlich sympathisch. Aber er ist ein fanatischer Sucher nach Gerechtigkeit, und sein Hass auf alle, die sich dem widersetzen, lässt ihn mitunter zur Selbstjustiz greifen. Anders lässt sich dem Gesindel nicht beikommen, mit dem er es zu tun hat, deshalb sind ihm alle Mittel recht, er ist stets bereit, Vorschriften in seinem Sinne auszulegen oder zu übergehen und sogar Gesetze zu übertreten. Lamberti weiß, dass das Böse, das Verbrechen nicht auszurotten ist, trotzdem nimmt er diesen Kampf an – mit Mitteln, die mehr als fragwürdig sind. Die Verbrecher, das ist ihm schmerzlich bewusst, nutzen jede Gesetzeslücke und beugen wo es geht mit Hilfe ihrer Anwälte das Recht. Duca verachtet die Kriminellen, und er hat eins gelernt: Dieses Gesindel versteht nur eine Sprache: Gewalt. Und die wendet er an, wenn es ihm opportun erscheint, Gesetzt hin, Moral her.

Scerbanenco überlässt es dem Leser, dieses Verhalten zu bewerten, er selbst fällt kein Urteil über seinen Hauptdarsteller, gibt keine Erklärung für sein Handeln. Wohl legt er ihm knochentrockene und ironische, ja sarkastische oder gar zynische Kommentare in den Mund, auch lässt er Duca skeptische, manchmal resignierte Gedanken äußern. Er redet, wie er denkt, und er denkt, was man damals so dachte. Political Correctness hat keinen Platz in dieser gar nicht so guten, alten Zeit Ende der sechziger Jahre mit ihren verklemmten Moralvorstellungen, verstaubten Weltanschauungen und engstirnigen Denkweisen. Das Frauenbild in Scerbanencos Romanen kann aus heutiger Sicht nur entweder verstören oder empören, und die Behandlung der schwulen und lesbischen Figuren ist nur entschuldbar vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund und seinen Einflüssen, denen sich auch der Autor nicht entziehen konnte. Fortschrittliche Empfehlungen zur Bewältigung der sozialen Probleme gelten allenfalls als Zeitverschwendung, pädagogische Ansätze als sinnlos. Resozialisierung ist ein Fremdwort, die Jugendlichen Straftäter werden in Besserungsanstalten gesteckt, in denen sie gezüchtigt werden, noch mehr verrohen, und wenn sie alt genug sind verschwinden sie im Knast.

Lediglich Livia Ussaro, die ihrer Zeit voraus ist und so gar nicht in diese Gesellschaft zu passen scheint, verkörpert einen Fortschritt, den die übrigen Figuren nicht erkennen und auch nicht wollen. Sie unterstützt ihren Freund Duca tatkräftig, auch nachdem sie dabei im ersten Roman der Reihe (Verräter und Verratene) von einem Mafioso mit zahlreichen Messerschnitten im Gesicht entstellt wurde. Livia ist eine starke, selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die streng rational und logisch denkt und handelt. Als Sozialforscherin beschäftigt sie sich mit der Ausbeutung der Frauen. Die Emanzipation steckt noch in den Kinderschuhen, Wir befinden uns am Vorabend der 68er-Bewegung, die auch in Italien und gerade in Mailand zu massenhaften Protestaktionen der Studenten und Arbeiter und letzten Endes zu etlichen sozialen Umbrüchen führen sollte.

Von solchen Veränderungen ist bei Scerbanenco noch wenig zu spüren, am ehesten noch kündigt sich der Wandel im Erscheinungsbild der Stadt an. Das alte, ursprüngliche Mailand geht gerade unter, noch ist es hier und da sichtbar und Duca schildert liebevoll die ärmliche Viertel mit ihren alten, zum Teil baufälligen Häusern, die leider keine Zukunft haben, ihren charakteristischen Schänken und deren typischen Gästen. Hier hat Mailand noch seinen ursprünglichen Charme. Aber das Italien der 1960er-Jahre hatte, wie auch die junge Bundesrepublik, ihr Wirtschaftswunder. Da dachte zunächst niemand an eine moralische Erneuerung, Aufarbeiten des Faschismus: Fehlanzeige. Genau wie in der Bonner Republik wurde verdrängt und verschwiegen, zumindest verharmlost. Die alten Kader tauchten aus der Versenkung auf und besetzten erneut hohe Posten in Politik, Justiz und Verwaltung. Lehren aus den Verbrechen der gerade untergegangenen faschistischen Regimes zog kaum jemand. Die neuen Republiken nannten sich zwar nun demokratisch und die Gesellschaft gab sich auch so, tatsächlich wurden die alten Strukturen nahtlos übernommen und verinnerlicht.

Scerbanenco lässt seinen Duca Lamberti daran verzweifeln. Ihm sind die moralisch korrupten Mitglieder der privilegierten Klasse zutiefst zuwider. Der wirtschaftliche Aufschwung war verbunden mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel. Mit der Folge, dass Mailand auch die Hauptstadt der illegalen Bordelle und der schäbigen Nachtclubs wurde, Anziehungspunkt für Verbrecher aller Art, sogar die Mafia machte sich breit. Scerbanenco beobachtet die Entwicklung mit Sorge, aber nüchtern, scharfsichtig und scharfzüngig, und er prangert die sozialen Probleme ohne jede Sozialromantik an.

Die Fälle, die Duca Lamberti beschäftigen sind ungewöhnlich, unerhört und doch alltäglich. Er hält sich schließlich häufig in den gesellschaftlichen Grauzonen auf, wo er viel gesehen und erlebt hat bei Begegnungen mit dem Bodensatz der Gesellschaft, in schummrigen Bars und Verbrecherkneipen, in einer Ambulanz für geschlechtskranke Huren und nicht zuletzt im Knast. Da trifft man dann eben auf Typen, denen man lieber nie begegnet wäre. In vielen Kriminalromanen seiner Zeit geben häufig eher schlichte, grob gezeichnete und daher leicht einzuordnende und einfach zu durchschauende Figuren den Ton an, gegen die Scerbanencos Charaktere schon recht vielschichtig und komplex erscheinen. Sein etwas hinkender Plot im vorliegenden Roman erscheint dagegen aus heutiger Sicht eher hausbacken und unspektakulär, ganz ohne erstaunliche Entdeckungen oder verblüffende Volten, dagegen schnörkellos, ehrlich und geradeaus.

Dass er nach fünfzig Jahren immer noch mit Vergnügen gelesen werden kann, liegt zum einen an Scerbanencos starken Figuren, Sie faszinieren, obwohl in ihrer Zeit verhaftet, mit zeitlosen Attributen und Attitüden. Zum anderen sind die Themen erstaunlich aktuell geblieben. Vor allem aber verblüfft der freilich punktuell überholte, gleichzeitig jedoch recht moderne Stil Scerbanencos. Hauptsächlich beeindruckt sein eleganter, fast unmerklicher Wechsel der Erzählperspektive, der Übergang von der personalen in die auktoriale Sicht und zurück. Seiner Titelfigur gibt das die willkommene Möglichkeit, sich höchst privat zu äußern, zu bewerten, zu beurteilen, zu verurteilen. Direkt, unmissverständlich, rigoros. Hier spricht ein Zweifler, ein Moralist und scharfsichtiger wie scharfzüngiger Kritiker. Ducas Kommentare triefen vor Sarkasmus, ja, Zynismus, manchmal böser Komik, aber es ist jederzeit klar, woher sein distanziertes, scheinbar unbarmherziges Auftreten rührt. In der Tat, Duca provoziert und polarisiert, und er fasziniert mit seiner unerschütterlichen und hochemotionalen Art.

Fazit: Trotz der erwähnten Schwachstellen allemal passabler, solider Krimistoff!

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Der Lombardische Kurier | Erschienen am 19. Februar 2019 im Folio Verlag
ISBN 978-3-85256-756-3
256 Seiten | 18.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Die Rezension zu Das Mädchen aus Mailand von Giorgio Scerbanenco