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William Boyle | Shoot The Moonlight Out

William Boyle | Shoot The Moonlight Out

Sie sehen nicht zurück. Bobby hat keine Angst, dass ihnen jemand folgt, er hat Angst, dass hinter ihnen etwas Schreckliches passiert sein könnte. Es war doch nur Spaß. Nicht erst gemeint. … Auf so jemand hatten sie es nicht abgesehen. Sie ist keins von diesen Arschlöchern. (Auszug Seite 18)

Bobby Love Santovasco und sein Freund Zeke, 14 und 13 Jahre alt, sind dumme Jungs. Aus Langeweile werfen sie 1996 in Bay Ridge, einem Stadtteil im Süden Brooklyns irgendwelche Sachen von einer Brücke auf Autos. Angefangen mit Ketchup, Senf und Wasserballons sind es irgendwann Steine. Als ein Stein durch das offene Fenster Amelia Cornacchia trifft, die in ihrem verlotterten kirschroten Toyota Corolla vom Caesar’s Bay Shopping Center auf den Bay Parkway abfährt, überlebt die Neunzehnjährige den Anschlag nicht.

Fünf Jahre nach der Tat
Die beiden Jungs kommen davon, auch fünf Jahre später ist die Tat immer noch nicht aufgeklärt. Eine Tragödie für Amelias Vater Jack Cornacchia, einem Witwer, der auch seine Frau viel zu früh verloren hat. Verbittert kann er sich nicht damit abfinden, dass seine Tochter so sinnlos sterben musste, während die Täter ungestraft davonkommen. Er lässt sich fürs Geldeintreiben bezahlen oder sorgt als Rächer kleiner Leute aus der Nachbarschaft, denen Schlimmes widerfahren ist, für Gerechtigkeit. Als er fünf Jahre später bei einem Schreibkurs Lily Murphy kennenlernt, erinnert sie ihn an seine Tochter und sein Leben bekommt wieder einen Sinn. Lily ist nach einem College-Abschluss in Englisch nach vier Jahren wieder bei ihrer Mutter eingezogen. In ihrem ehemaligen Kinderzimmer träumt sie davon, Schriftstellerin zu werden. Sie lässt sich treiben, will aber eigentlich, wie alle jungen Menschen weg aus dem schäbigen Brooklyn. Um ein bisschen Geld zu verdienen, gibt sie einmal die Woche im Keller der Kirche einen Schreibkurs für die Gemeinde.

Lily ist die Stiefschwester von Bobby, aus dem auch zwischenzeitlich nichts Rechtes geworden ist. Er arbeitet für den schmierigen Anlageberater Max Berry, der mit einem betrügerischen Schneeballsystem kleine Leuten im Viertel um ihre Ersparnisse bringt und gerüchteweise für die Mafia arbeitet, den ganzen Tag Milch aus kleinen Kartons trinkt und noch bei seinen Eltern wohnt. In seinem heruntergekommenen Büro bunkert er im Tresor eine Tasche von Mafiosi Charlie French mit jeder Menge Geld und Drogen. Ausgerechnet jetzt raubt Bobby den Safe aus, um mit seiner Freundin Francesca aus Brooklyn abzuhauen. Aber da hat er sich mit dem Falschen angelegt, denn Charlie, ein gefährlicher Gangster geht über Leichen, um an sein Geld zu kommen. Als Jack den Auftrag bekommt, Max das Handwerk zu legen, der es vornehmlich auf ältere Menschen aus der Arbeiterklasse und Sozialhilfeempfänger abgesehen hat, trifft er auf Bobby, ohne zu wissen, dass er dem Verantwortlichen am Tod seiner Tochter gegenübersteht.

Manhattan ist weit weg
Auch in seinen fünften Roman erzählt William Boyle, der literarische Chronist Brooklyns, von den kleinen Leuten seiner Heimat. Der Autor ist hier geboren und aufgewachsen, lebt aber mittlerweile in Oxford, Mississippi. Dabei portraitiert er die Bewohner, meistens italienischstämmige Menschen, die der unteren Mittelklasse angehören, mit sehr viel Mitgefühl und Empathie. Es sind Figuren, die große Träume und Sehnsüchte haben, die rauskommen wollen aus der Tristesse, aus dem kleinstädtischen Mief, wo die globale Urbanität noch nicht angekommen ist. Er erzählt von Selbstzerstörung und Selbstjustiz, lässt ihnen aber ihre Würde. Es geht um Menschen, die Schuld auf sich geladen oder einfach falsche Entscheidungen getroffen haben. Und es geht um Vergebung. Gekonnt verknüpft er die einzelnen Schicksale, jedoch war es mir an einigen Stellen ein wenig zu konstruiert.

Die Grenzen des Genres Kriminalroman werden deutlich überschritten. Seine Figuren, die Alltagssorgen und deren Gefangenheit in ihrem Milieu sind ihm wichtiger als eine spannende, actionreiche Handlung. Obwohl auch hier gemordet, geprügelt, geschossen und geliebt wird und es eine spannende Dramaturgie bis zum bluttriefendem, gewalttätigem Finale gibt, ist „Shoot the Moonlight out“ mehr ein überzeugendes amerikanisches Sittengemälde. Wenn der Autor mit seinen Charakteren durch die Straßen Südbrooklyns streift, Bars und Kneipen, Kirchen und Häusern besucht, schwebt über allem eine Melancholie der Hoffnungslosigkeit, jedoch mit trockenem Humor versehen.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Shoot The Moonlight Out | Erschienen am 17. Juli 2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-94839-277-2
380 Seiten | 26,- Euro
Originaltitel: Shoot The Moonlight Out | Übersetzung aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Rezension zu „Eine wahre Freundin“ von William Boyle

Laurent Binet | Eroberung

Laurent Binet | Eroberung

Nein, Alternativweltromane gibt es nicht nur mit Nazis. Auch wenn das manchmal so aussieht, denn das NS-Regime bietet natürlich allerhand faszinierende Denkspiele, wie wohl die Geschichte des 20.Jahrhunderts anders verlaufen wäre. Aber es gibt auch andere historische Romane mit postfaktischem Plotansatz. Einen besonders interessanten Ansatz hat der französische Autor Laurent Binet gewählt. Binet ist Historiker und Dozent und wurde international erstmals durch seinen Roman „HHhH“ bekannt, für den er unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Thema darin: Das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 in Prag. Bereits sein zweiter in Deutsche übersetzte Roman, „Die siebte Sprachfunktion“ spielt mit alternativen historischen Abläufen. In seinem zuletzt veröffentlichten Roman „Eroberung“ hat er erneut eine Alternativweltgeschichte verfasst und geht dazu einige Jahrhunderte zurück.

Binet beginnt den Roman mit einer Reise der Wikingerin Freydis, einer Tochter von Erik dem Roten über die bekannten Anlegeplätze der Wikinger in Kanada hinaus nach Süden. Die Wikinger vermischen sich mit den einheimischen Stämmen, bringen das Eisenschmieden nach Amerika und die Ureinwohner bilden irgendwann Antikörper gegen die Viren, die die Wikinger aus Europa mitbringen. Jahrhunderte später wird Kolumbus nach Amerika segeln und nicht zurückkehren, Amerika bleibt für Europa ein so gut wie dunkler Fleck auf den Landkarten. Schließlich kommt es um das Jahr 1530 zum einem Machtkampf zwischen zwei Brüdern im Inkareich. Der unterlegene Bruder Atahualpa flüchtet mit seinem letzten verbliebenem Hofstaat zunächst nach Kuba und von dort macht er sich 1531 auf gen Europa.

Was dann passiert, dazu möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr groß spoilern. Allerdings stoßen die Inkas in eine sehr wilde Zeit, Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und König von Spanien bekriegt sich mit dem französischen König Franz I., die Reformation Luthers sorgt für unklare Machtverhältnisse und Glaubenskriege, die heilige Inquisition verfolgt gnadenlos Un- und Andersgläubige und die Türken unter Süleyman I. bedrohen das Habsburgerreich. In dieses fragile, komplexe System stoßen nur die Inkas mit wenigen Mann, nicht mit allen europäischen Erfindungen vertraut, aber clever, wissbegierig, in macht- und militärtaktischen Dingen den Europäern überlegen und mit einer Menge Gold und Silber in der Heimat in der Hinterhand. Wie die Inkas in diese politisch komplexe Lage hineinstoßen und den europäischen Kontinent quasi „erobern“, davon erzählt Binet mit viel Lust und Spaß an einer historischen Alternativerzählung.

Doch die Geschichte lehrt uns, dass wenige Ereignisse es der Mühe wert erachten, sich rechtzeitig anzukündigen, darunter manche, die sich jeglicher Vorhersage entziehen, und dass letztendlich die allermeisten sich damit begnügen, einfach einzutreten. (Auszug S.104)

Dabei gliedert Binet den Roman in vier Teile. Drei kürzere, nämlich zunächst die Saga von Freydis Eriksdottir, danach Fragmente aus dem Tagebuch von Christoph Kolumbus und zuletzt Cervantes Abenteuer. Als dritten und mit Abstand größten Teil fungieren die Atahualpa-Chroniken. Dabei ist das wörtlich zu nehmen, ein allwissender Erzählern berichtet als Chronist von Atahualpa und seinen als Quiteños bezeichneten Inka. Der Stil ist demnach auch eher nüchtern, chronistisch, weitgehend ohne Dialog. Dadurch verzichtet Binet auf eine allzu große Tiefe bei den Hauptfiguren, diese bleiben nur wenig mehr als oberflächlich skizziert. Es gelingt andererseits aber auch, diese wahnwitzige Geschichte auf unter 400 Seiten zu erzählen.

Und dies war für mich als Leser zumeist sehr unterhaltsam und vermutlich hatte auch der Autor großen Spaß. Ein bißchen Hintergrundwissen sollte vorhanden sein, aber dann kann man den Einfallsreichtum des Autors genießen, der den Inkaherrscher sich über die Religion des Angenagelten Gottes wundern lässt, ihm sehr schnell die Schriften eines gewissen Macchiavelli zukommen lässt, ihn mit einigen interessanten Persönlichkeiten der Zeit zusammenbringt (wie etwa einem ziemlich abstoßend antisemitischen Luther) oder einen Briefwechsel zwischen Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam fingiert. Dabei betreibt er ein wenig prä-koloniale Studien und zeigt auf, wie sehr die Eroberer aus Südamerika (bei aller Härte und allem Machtanspruch) den Europäern in der Organisation und Schaffung der Prosperität eines Staatswesens überlegen waren. Laurent Binet gelingt trotz ein paar Schwächen ein wirklich unterhaltsames Werk, das aus dem Subgenre auf jeden Fall heraussticht.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Eroberung | Die Taschenbuchausgabe erschien 2022 im Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-00346-2
384 Seiten | 14,- €
Originaltitel: Civilations | Übersetzung aus dem Französischen von Kristian Wachinger
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Diese Rezension erscheint im Rahmen des Genrespezials Alternativweltgeschichten.

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Ellen Dunne | Unfollow Stella (Band 4)

Die Münchner Kommissarin Patsy Logan scheint endgültig in ihrer zweiten Heimat Dublin gestrandet. Nach diversen Problemen sowohl auf ihrer Dienststelle bei der Kripo als auch mit ihrem Mann war Patsy zu ihrer Cousine nach Dublin gefahren, um dort den Kopf frei zu bekommen. Und um dort gleich mal in Ermittlungen verwickelt zu werden (siehe Band 3 „Boomtown Blues“). Nun hat sich die Pandemie auch in Irland breit gemacht und die Probleme scheinen sich nicht aufzulösen, vielmehr ist die Ehe am Ende und eine Rückkehr zur Münchner Kripo scheint von ihrem ehemaligen kollegialen Freund Stani, der nun die Dienststelle leitet, nicht mehr gewünscht.

Somit spricht für Patsy nichts dagegen, erneut vom österreichischen Attaché Sam Feurstein bei einer unangehnehmen Angelegenheit hineingezoge zu werden. Die junge Österreicherin Stella Schatz lebt seit einiger Zeit in Dublin und wird von ihrer Familie seit kurzem vermisst. Stella war vor allem mit ihrem Bruder, der in Singapur lebt, in regelmäßigem Austausch und auch sonst in Social Media relativ aktiv. Doch seit einiger Zeit herrscht totale Funkstille. Feurstein möchte das Verschwinden gerne lösen, ohne offiziell die irische Polizei um Mithilfe bitten zu müssen.

Stellas Spur führt zu ihrem letzten Arbeitgeber, einer Firma, die für einige großen Social Media-Player den Content nach anstößigem Material durchforstet und solches dann entfernt. Ein Knochenjob, den Stella jedoch offenbar zur Zufriedenheit aller erledigt hat. Der Arbeitgeber tut auch relativ harmlos, behauptet, Stella hätte Urlaub genommen und würde schon wieder auftauchen. Doch Patsy spürt, das da etwas nicht stimmt, verbeißt sich in den Fall und ist sich sicher, dass Stellas Verschwinden irgendetwas mit ihrer Arbeit in den dunklen Sümpfen des Netzes zu tun hat.

Sie quietschte wehleidig beim Öffnen. Elektrische Zahnbürste, Stückseifen, ein Kulturbeutel voll veganer Schminksachen, Gesichtscreme für die Haut ab 30. Ausnahmslos Marken aus deutschen Drogeriemarktketten. Ich ertappte mich bei einem Lächeln. Ja, die vermisste ich auch.
Apropos. Nirgendwo in diesem Zimmer schien etwas zu fehlen. Alle Schubladen quollen über mit Sachen. Unter dem Bett sammelte ein großer Koffer Staub, daneben noch ein kleiner.
Als hätte sich Stella Schatz in Luft aufgelöst. (Auszug S.60)

Mit dem dritten Band „Bowntown Blues“ hatte die österreichische Autorin Ellen Dunne, die seit langem in Irland lebt, der Reihe um Patsy Logan nochmal einen richtigen Schub verpasst, der auch prompt mit den „Glauser“ 2023 für den besten Roman belohnt wurde. Und Ellen Dunne kann durchaus daran anknüpfen, stellt ihre von einer Art Midlife-Crisis gebeutelte Kommissarin als Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt, die allerdings lakonisch-ironisch-schlagfertig ihren und den Zustand ihrer Umgebung kommentiert. Außerdem traut die Autorin sich, der ungeschriebenen Krimiregel zu trotzen, dem Leser möglichst schnell eine Leiche zu präsentieren. Allzu lange bleibt der Leser im Ungewissen, ob Stella Schatz wirklich verschwunden ist und ob überhaupt hier irgendwo ein Verbrechen vorliegt.

Doch dass hier etwas im Argen liegt, wird durchaus klar gemacht. Zentrales Thema ist der ungebremste Content-Overkill in diversen sozialen Netzwerken und der rettungslos verzweifelte Versuch, pornografisches, gewalttätiges, volksverhetzendes oder allgemein für die Werbekunden anstößiges Material von den Seiten zu entfernen. Hierzu hat sich ein gar nicht mehr so kleines und lukratives Gewerbe etabliert, dass allerdings relativ präkere Arbeitsbedingungen geschaffen hat und die Mitarbeiter permanent mehr als verstörendem Content aussetzt. Was das mit den Personen macht, die natürlich keine oder nur unzureichende psychologische Betreuung erfahren, das ist eine Erkenntnis aus diesem Krimi. Somit bleibt auch „Unfollow Stella“ dem guten Weg der Reihe treu und sei allen Lesern empfohlen, die neben einer interessanten Hauptfigur mit allerlei Blessuren im Gepäck auch von gesellschaftlich relevanten Themen in ihrem Krimi lesen wollen.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Unfollow Stella | Erschienen am 30.09.2023 im Haymon Verlag
ISBN 978-3-7009-7965-5
312 Seiten | 13,95 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Weitere Rezensionen zu den Romanen von Ellen Dunne

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Rebecca Makkai | Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Und dann die Art, wie Thalia starb – wie ihr Körper misshandelt worden war – und ins Wasser geworfen – jedes Mädchen bloß ein Körper, den man benutzen und entsorgen konnte – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen begrapscht zu werden – einen Körper zu haben schon genug, um von ihnen vernichtet zu werden – (Auszug Pos. 5064)

Vor über zwanzig Jahren wurde in einem Internat in New Hampshire die Schülerin Thalia Keith ermordet, der mutmaßliche Täter sitzt seitdem in Haft. Bodie Kane, die die Tragödie hautnah miterlebte, ist mittlerweile eine erfolgreiche Medienwissenschaftlerin. Zusammen mit einem Co-Moderator betreibt sie einen bekannten Podcast, in dem sie sich mit Frauen im Filmgeschäft beschäftigt, die einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Als sie eingeladen wird, an ihrem ehemaligen College als Gastdozentin zwei Wochen lang einen Kurs übers Podcasten zu geben, tut sie das mit gemischten Gefühlen. Anfang der 90er Jahre war sie 4 Jahre in dem elitären Internat Granby. Diese Zeit war von schrecklichen Ereignissen überschattet. Da sie nicht zur Upperclass der US-Gesellschaft oder zu den wohlhabenden Auslandsstudenten gehörte, hatte sie es als Außenseiterin mit DocMartens und schwarz umrandeten Augen nicht leicht und wurde von einigen Jungs gemoppt. Trotzdem war das tief in den Wäldern gelegene Internat auch eine Heimat in Zeiten schwerer privater Krisen. Erinnerungen kommen hoch an den Mord an ihrer Zimmergenossin Thalia Keith, als eine ihrer Schülerinnen sich genau diesen Mord als Thema ihres Podcasts aussucht.

Unschuldig im Gefängnis?
Trotz dünner Beweislage wurde damals der schwarze Sporttrainer Omar Evans festgenommen. Sein Geständnis, scheinbar erzwungen, nahm er nach einigen Tagen zurück, doch da war es schon zu spät. Er wurde verurteilt und sitzt seit 20 Jahren hinter Gittern. Die Ereignisse werden auch durch ein Video wieder aufgewühlt, das Thalia Keith während einer Schulaufführung des Musicals Camelot zeigt. Es ist das letzte Mal, dass die beliebte Schönheit lebend zu sehen sein wird, denn kurz darauf wird sie ermordet im Schwimmbad aufgefunden. Bodie gerät zunehmend in einen Sog, der sie über die vergangenen Ereignisse nachdenken lässt. Sie vermutet, dass bei der Aufklärung nicht alle Details geklärt wurden. Sie hinterfragt auch ihre eigene Rolle bei den Befragungen im Umfeld des Opfers nach der Tat, denn eventuell hat sie durch ihre Aussage die Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Zweifel werden geweckt, ob der richtige Täter verurteilt wurde und ihre Schüler*innen wollen das Verbrechen in dem Podcast neu aufrollen und beweisen, dass der Inhaftierte unschuldig einsitzt. Bodie ermutigt ihre Schüler*innen dabei und wird wieder mit ihrer Schulzeit konfrontiert, die sie als scharfe Beobachterin verbracht hat.

True-Crime-Podcasts
Die Geschichte wird allein aus Bodies Blickwinkel erzählt. Wir erfahren nur, was Bodie weiß oder uns wissen lässt. Das macht die Geschichte zu einer sehr persönlichen Angelegenheit, denn sie rechnet erbarmungslos mit ihrer Zeit im College ab. In unregelmäßigen Abständen spricht sie einen ihrer ehemaligen Lehrer in direkter Rede an. Dieser Dennis Bloch war ein bei allen beliebter Musiklehrer, doch in der Rückschau bekommt sein Verhalten für die erwachsene Bodie eine andere Bedeutung und sie findet sein Verhalten im Nachhinein teilweise verdächtig. Bloch ist der Angesprochene im Titel, den Bodie immer wieder in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt. Da ich das oft sehr spät erkannte, wurde ich immer wieder durch diese Anrede aus dem Lesefluss gerissen. Ein interessantes Stilmittel, das für mich leider nicht ganz funktionierte. Auch wenn sie spekulative Szenarien durchspielt, die jeden möglichen Verdächtigen, inklusive ihrer selbst, als Mörder dastehen lassen, bedeutete das für mich hohe Konzentration. Alte Fotos, zeitliche Abläufe und Einträge in Planers werden betrachtet und neu bewertet und wechseln sich ab mit Szenen aus dem Gefängnis und Einblicke, wie Omars Familie seinen Verlust erlebt und für seine Rehabilitation kämpft.

Ich habe eine Meinung zu ihrem Tod, eine Meinung, die mir nicht zusteht. Gleichzeitig ist mir etwas mulmig dabei zumute, dass die Frauen zum Gemeingut geworden sind, der kollektiven Fantasie ausgeliefert. Dass die Frauen, mit deren Tod ich mich beschäftige, zumeist schön und reich waren. Dass die meisten jung waren, wie uns Opferlämmer am liebsten sind. Dass ich mit dieser Fixierung nicht alleine bin. (Auszug Pos. 370)

Von der Autorin Rebecca Makkai hatte ich vor einiger Zeit „Die Optimisten“ gelesen. Der für den Pulitzer Preis und den National Book Award nominierte Roman war für mich ein Lebenshighlight. Umso gespannter war ich auf den vorliegenden Roman. „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ befasst sich nur vordergründig mit einem Cold Case in einem verschneiten amerikanischen Campussetting. Vielmehr thematisiert die Autorin aktuelle sozialkritische Themen, die von sexueller Belästigung, Misogynie über Rassismus bis hin zum längst veralteten amerikanischen Klassensystem reichen. Dabei kritisiert sie auch die Ausbeutung echter Menschen zur reißerischen Unterhaltung und dass Opfer zu öffentlichem Eigentum werden.

Ich habe Makkais literarischen Schreibstil bis zum überraschenden Ende sehr genossen, auch wenn die vielen Themen den Spannungsroman grade im Mittelteil etwas überfrachten. Kein Werk, das man schnell weg lesen kann.

 

Foto und Rezension von Andy Ruhr.

Ich hätte da ein paar Fragen an Sie | Erschienen am 28. September 2023 im Eisele Verlag
ISBN 978-3-9616-1173-7
560 Seiten | 28.- Euro
Originaltitel: I Have Some Questions For You | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Arbabanell
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Monika Geier | Antoniusfeuer (Band 8)

Monika Geier | Antoniusfeuer (Band 8)

Am Anfang führt Monika Geier den Leser ganz charmant in die Irre, denn der Fall, der sich auf den ersten Seiten ausbreitet, der Fall, weswegen Kommissarin Bettina Boll aus dem freien Tag gerufen und ein Kollege mit falschem Glaubensbekenntnis abzogen wird, spielt bald keine echte Rolle mehr. Ein afghanischer Flüchtling, Mörder eines jungen Mädchens, wird tot in seiner Gefängniszelle aufgefunden. Ein Fall von großer Brisanz, denn schnell bilden sich Gerüchte, dass der Selbstmord doch nicht so eindeutig war. Ein sehr denkbares Sujet für so manch anderen Kriminalroman. Doch Monika Geier benutzt die Konstellation nur als Vehikel, um ins pfälzische Dorf Frohnwiller zu gelangen.

Denn im Koran des toten Afghanen wird ein Totenzettel gefunden, eine Einladung zu einer längst vergangenen Beerdigung, mit einem Bild, das einen Ausschnitt aus dem berühmten Isenheimer Altar zeigt: Die Versuchungen des heiligen Antonius, der von diversen Dämonen angegriffen wird. Das Bild hat der Tote von einem katholischen Sozialarbeiter namens Moritz Johann, genannt Mojo, Hansen aus Frohnwiller. Dieser hat den Flüchtling regelmäßig im Gefängnis besucht und angedeutet, Dämonen austreiben zu können.

In Frohnwiller angekommen trifft Bettina Boll auf seltsame Begleitumstände bezogen auf die katholische Gemeinschaft im Dorf. Der Dorfpfarrer ist vor Kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Stelle ist vakant. Der Sozial- und Jugendarbeiter Mojo ist allgemein gut gelitten, aber ist bei einem Drogentest positiv auf LSD getestet worden. Er hat großes Interesse am Thema Exorzismus und hatte sich selbst einem kirchlichen Verfahren unterworfen, das nach seinem Drogentest allerdings im Sande verlief, auch weil die mit dem Fall betraute kirchliche Juristin seit einiger Zeit vermisst wird. Als auch Mojo Hansen spurlos verschwindet, gleichzeitig in der Frohnwiller Kirche Darstellungen von Maria mit Kind geschwärzt werden und im Pfefferstreuer des Jugendheims gefährliches Mutterkorn gefunden wird (das eine Mykotoxikose, auch bekannt als Antoniusfeuer, auslösen kann), hat sich Bettina Bolls Fall endgültig Richtung Frohnwiller verschoben.

Die Sonne schickte Lichtspiele von draußen herein. Blätter, die grünliche Schatten warfen, tönten die Strahlen und malten helle Kringel an die Wand. Vögel sangen. Bettina sah all das und fragte sich, wie sie diesen Raum je hatte hässlich finden können.
Weil alles, was schön ist, sagte eine Stimme, die ausnahmsweise nicht Barbas war, sondern ihre eigene, dir irgendwann voll eine reinhaut. Weil es schrecklich ist, wenn du mit niemandem mehr teilen kannst. Weill alle immer weggehen. Weil du dann alles vergessen musst, was jemals gut war, weil du sonst auch stirbst.
Und was, wenn ich aber nicht alles vergessen will?, dachte sie, plötzlich rebellisch. Was, wenn ich nicht sterbe? (Auszug S.77)

Und natürlich hat Bettina Boll auch ihre eigenen Päckchen zu tragen: Halbtags-Polizistin mit schwieriger Konstellation auf der Dienststelle und einem unsouveränen Chef, mit dem sie allerdings freundschaftlich verbunden ist, alleinerziehende Stiefmutter der beiden Teenagerkinder ihrer verstorbenen Schwester, Besitzerin eines großen, unheimlichen Hauses ihrer ungeliebten verstorbenen Tante, ein etwas aufdringlicher Nachbar. Insbesondere bezüglich des neuen Zuhauses der Bolls greift Geier den Handlungsstrang aus dem Vorgängerband „Alles so hell da vorn“ auf, der immerhin schon sechs Jahre zurückliegt.

„Antoniusfeuer“ ist inzwischen der achte Band um die pfälzische Kommissarin, die – so viel darf man vorweg nehmen – am Ende des Romans endlich auch mal befördert wird. Und sich damit auch direkt vor ihren Kindern (zu Unrecht) rechtfertigen muss. Ansonsten ist alles, was ich vor Jahren mal über diese Bettina Boll geschrieben habe, immer noch wahr: Rau, widerborstig, etwas chaotisch, aber auch empathisch, unermüdlich, anständig, integer. Hier zeigt sich aus meiner Sicht auch eine der großen Stärken der Autorin, die nicht nur ihre Hauptfigur, sondern alle Figuren äußerst fein behandelt und tiefgründig zeichnet. Neben Bettina Boll verfolgt der Leser zudem die Perspektive von Elle Kling, Esoterikerin und Putzfrau in der katholischen Gemeinde.

„Das Böse an sich würde wahrscheinlich kein Katholik anzweifeln. So wie die meisten Polizisten.“ Diesmal blieb Rosenmorgens Lächeln fast unsichtbar. „Es geht um die Art, wie es sich manifestiert. Je konkreter Sie es sich vorstellen, desto leichter ist die Vorstellung zu missbrauchen.“ (Auszug S.132)

Glaube, Zweifel, (innere) Dämonen und Zwänge, persönliche und Glaubenskonflikte, Ringen mit dem System Kirche: Monika Geiers Romanen sind nicht für ihre Unterkomplexität bekannt und das setzt sich bei „Antoniusfeuer“ fort, aber gerade dadurch hebt sie sich vom normalen deutschen Krimiallerlei deutlich ab. Die Autorin überzeugt durch einen fein verwebten, intelligenten Roman mit scharf gezeichneten Figuren, starken Dialogen, regelmäßig wunderbar platzierten lakonischen Einschüben und einem im Genre relativ unverbrauchtem, aber dadurch umso interessanten Thema.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Antoniusfeuer | Erschienen am 18.09.2023 im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-270-8
432 Seiten | 24,- €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezension zu Band 7 „Alles so hell da vorn“