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In Erinnerung: Peter Zeindler (1934-2023) | Die Ringe des Saturns

In Erinnerung: Peter Zeindler (1934-2023) | Die Ringe des Saturns

Am 07.05.2023 verstarb Peter Zeindler in seiner Heimat Zürich. Es war in letzter Zeit still geworden um den Autor, dessen Name vielen Krimifans, die erst in den letzten 20 Jahren zum Genre gestoßen sind, vermutlich nicht mehr viel sagte. Dabei ist Zeindler bis heute Rekordsieger beim Deutschen Krimipreis „National“. Gleich viermal war er auf Platz 1 des prestigeträchtigen Preises: 1986, 1988, 1990 und 1992 für seine Romane „Der Zirkel“, „Widerspiel“, „Der Schattenagent“ und „Feuerprobe“, zudem erhielt er 1996 den Ehrenglauser für sein Lebenswerk.

Peter Zeindler wurde 1934 in Zürich geboren, wuchs in Schaffhausen auf, studierte später Germanistik und Kunstgeschichte. Er arbeitete als Dozent und Deutschlehrer, ehe er schließlich eine journalistische Laufbahn einschlug, unter anderem als Redaktuer und Moderator beim Schweizer Radio und Fernsehen. Zeindler schrieb ab Ende der 1960er fürs Theater und Hörspiele, 1992 schließlich seinen ersten Roman „Tarock“.

Große Bekanntheit erlangte Zeindler dann mit seiner Romanreihe um Konrad Sembritzki. In insgesamt zwölf Romanen ist Sembritzki Hauptfigur, der letzte Roman „Die weiße Madonna“ erschien 2014. Zeindler verstand sich dabei ausdrücklich nicht als Krimiautor, sondern als „Autor von Spionageromanen“ und betonte die literarische Seite seines Schreibens. Dem Deutschlandfunk sagte er mal: „Ich bin nicht bereit, alle Zugeständnisse an das Genre zu machen, nur damit es mehr Thrill hat. Ich weiß, dass ich manchmal zwischen Stuhl und Bank sitze mit meinen Büchern, weil ich nicht das spezifische Publikum so bediene, wie es erwartet wird.“

Das erste Mal taucht Konrad Sembritzki in Zeindlers zweitem Roman „Die Ringe des Saturns“ auf. Er ist Antiquar in Bern und war ehemals Agent des deutschen Bundesnachrichtendienstes und wird aber, obwohl offiziell außer Dienst, immer wieder in Geheimdienstaktivitäten involviert. Sembritzki ist ein Netzwerker, ein Strippenzieher, kein Mann fürs Grobe. Dabei erweist er sich als Melancholiker und einsamer Mann, der sich zwar mit nur begrenzter Unterstützung in einer komplizierten Welt von Täuschung, Tarnung und sich ändernden Machtbereichen zurechtfindet, aber den inneren Hafen, ein vertrautes Alltagsleben, nicht herzustellen vermag.

Die Ringe des Saturns

Konrad Sembritzki wird von seinem ehemaligen Führungsoffizier im BND, Stachow, kontaktiert. Er soll die Teilnahme an einer Fachkonferenz in Prag als Tarnung nutzen, um sein altes Spionagenetzwerk in der CSSR wiederzubeleben. Stachow steht wegen angeblicher Truppenbewegungen des Ostblocks intern unter Druck. Schon auf dem Weg zum Geheimtreffen am Bodensee bemerkt Sembritzki, dass er beschattet wird. Kurz nach dem Treffen wird Stachow tot aufgefunden. Sembritzki wird nach Pullach zitiert und erhält von seinem neuen Chef Römmel den gleichen Auftakt, allerdings mit anderer Ausrichtung: Der BND erwartet Beweise für die Truppenbewegungen und Stationierung neuer Mittelstreckenraketen der Sowjets.

Sembritzki sucht Kontakt zu alten Verbündeten im BND und ihm wird klar, dass der Regierungswechsel in Bonn nun die Falken in den BND gebracht hat. Statt Abrüstung wird nun über neue Waffen diskutiert, um der Bedrohung aus dem Osten zu begegnen. Sembritzki wird vom BND und mächtigen Lobbyisten unter Druck gesetzt. Doch so leicht will sich Sembritzki nicht instrumentalisieren lassen. Er reist nach Prag in die Höhle des Löwen. Dort wartet auch seine alte Liebe Eva, mit deren Hilfe er sich echte Informationen erhofft.

Er war kein Partisan der Friedensbewegung. Er war nur ein Gegner der Gewalt. Und das war für ihn nicht dasselbe. Er war ein Partisan des kalten Krieges, dieses Zwischenspiels, das Kriege voneinander trennte. Er war ein Traumtänzer zwischen den Fronten, der sich immer wieder einredete, daß er mit seiner Tätigkeit zwar den Krieg verhinderte, daß sie aber allein, in unmittelbarer Nachbarschaft der Zerstörung, jene kreativen Kräfte in ihm zu mobilisieren vermochte, die ihm das Alltagsleben nie entlocken konnte. (Auszug S.98)

Ein komplexer Spionageroman, der vor dem inzwischen historischen, damals aber hochaktuellen Szenario des NATO-Doppelbeschlusses, der atomaren Aufrüstung und eines wieder heiß werdenden kalten Kriegs spielt. Die Hauptfigur Sembritzki muss sich durch ein Feld sehr unterschiedlicher Interessensgruppen hindurchlavieren. So gibt es die neue Führung des BND, die wie weitere Akteure des militärisch-industriellen Komplexes auf die atomare Aufrüstung setzt. Auf der anderen Seite Oppositionelle im BND und eine Friedensbewegung, auch in der CSSR, die auf Abrüstung hoffen. Zuletzt auch der tschechoslowakische Geheimdient, der Sembritzki Netz enttarnen will.

„Die Ringe des Saturns“ ist zwar vom Thema her oberflächlich etwas in die Jahre gekommen, durch den neuen Konflikt zwischen Russland und der NATO aber dennoch wieder interessant zu lesen, auch vor dem Hintergrund, wie defensiv die NATO tatsächlich agiert. Ansonsten ist es ein klassischer Spionagethriller, der sich im Genre deutlich eher im Spielfeld eines Le Carrés als eines Flemings bewegt. Das bedeutet, dass Peter Zeindler deutlich mehr Augenmerk auf die Figuren und ihre Rolle im Spiel der Kräfte legt, als auf Action und Spannung (die jedoch durchaus auch vorhanden ist). Die Welt der Spionage ist und bleibt komplex und so auch die melancholische Hauptfigur Konrad Sembritzki.

 

Foto und Rezension von Gunnar Wolters.

Die Ringe des Saturns | Erstmals erschienen 1984
Die gelesene Ausgabe erschien 1992 im Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-05200-9
304 Seiten | 12,80 DM
Bibliografische Angaben & Leseprobe (aktuell nur antiquarisch erhältlich)

Quellen:

H.P. Karr: „Zeindler, Peter“ im „Lexikon der deutschen Krimi-Autoren“ unter www.krimilexikon.de;
Katja Schönherr & Felix Münger: „Nachruf auf Peter Zeindler – Der Schweizer Meister des Spionageromans ist tot“ auf srf.ch

Steve Cavanagh | Thirteen & Fifty-Fifty ♬

Steve Cavanagh | Thirteen & Fifty-Fifty ♬

Thirteen (Eddie-Flynn-Reihe Nr. 4)

Bobby Solomon, ein junger, attraktiver und aufgehender Kinostar in Hollywood ist dringend tatverdächtig, seine Ehefrau, die Schauspielerin Ariella Bloom und ihren Bodyguard und Liebhaber Carl Tozer ermordet zu haben. Solomon beteuert seine Unschuld, doch die Beweislast ist erdrückend. Eddie Flynn, ein kleiner New Yorker Strafverteidiger und ehemaliger Trickbetrüger kann sein Glück nicht fassen, als der bekannte Staranwalt Rudy Carps ihn um Hilfe bittet. Eddie soll das Team der Anwälte unterstützen und die Anklage entkräften. Eddie glaubt Bobby und tut alles in dem bevorstehenden Prozess, um die Jury von der Unschuld seines Mandanten zu überzeugen. Auch als er ziemlich schnell begreift, dass er eigentlich nur als Bauernopfer herhalten soll, falls der Verlauf des Prozesses für Solomon ungünstig verläuft.

Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive des Strafverteidigers Eddie Flynn sowie aus der Sicht des Serienmörders Joshua Kane erzählt. Schon im Prolog erfahren wir, wie der gerissene Killer alles daran setzt, Teil der 12-köpfigen Jury zu werden. Obwohl der Täter von Beginn bekannt ist, mangelt es dem intelligent geplotteten Justizthriller nicht an Spannung. Auch weil man jederzeit sehr nah an der Gedankenwelt des Protagonisten und des Antagonisten ist. Diese werden von den beiden Schauspielern Thomas M. Meinhardt und Götz Otto sehr gut in Szene gesetzt. Steve Cavanagh bedient sich zwar an einigen genretypischen Figuren, wie den cleveren, mit allen Wassern gewaschenen Flynn, der das Herz am rechten Fleck hat, den perfiden, soziopathischen Kane mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit, dem eiskalten Staatsanwalt oder einer taffen und coolen Ex-FBI-Agentin. Trotzdem hat mich der Thriller aufgrund von vielen innovativen Überraschungsmomenten extrem entertaint. Dazu gehört auch, dass man genau wie die Ermittler bis zum Schluss nicht weiß, wer der Killer in der Jury ist. Es machte mir Spaß, im amerikanischen Rechtssystem den Aufbau des Prozesses, die Strategie der Verteidigung oder den raffinierten Schlagabtausch, den sich Verteidigung und Anklage vor Gericht liefern, zu verfolgen. Die Szenen, in denen die Jurymitglieder eingeschätzt und danach speziell ausgewählt werden, wirkten auf mich authentisch, auch aufgrund der Tatsache, dass der nordirische Autor selbst Anwalt ist. Obwohl einige Wendungen tatsächlich sehr abstrus daherkommen, konnte ich dieses meisterhaft inszenierte Katz- und Mausspiel atemlos genießen.

Thirteen ist der erste Thriller um Strafverteidiger Eddie Flynn, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. Tatsächlich handelt es sich aber bereits um den vierten Band der Reihe.

Fifty-Fifty  (Eddie-Flynn-Reihe Nr. 5)

Der ehemalige Bürgermeister von New York, Frank Avellino wird in seinem Schlafzimmer mit äußerster Brutalität erstochen. Anwesend sind seine Töchter Alexandra und Sofia, die auch fast zeitgleich entsprechende Notrufe absetzen, in denen sie sich gegenseitig der Tat beschuldigen. Der Staatsanwalt drängt auf einen gemeinsamen Prozess, um die Schuldfrage schnell zu klären. Ein mögliches Mordmotiv könnte die große Erbschaft in Millionenhöhe sein.

Eddie Flynn übernimmt die Verteidigung von Sofia Avellino und steht im Gericht der Anwältin Kate Brooks von der Societät Levy, Bernhard & Croff gegenüber, die Alexandra Avellino vertritt. Beide sind von der Unschuld ihrer Mandanten überzeugt. Die Indizien sind nicht eindeutig, im Verlauf des Verfahrens versuchen beide, die Glaubwürdigkeit der anderen Angeklagten in Zweifel zu ziehen. Eine große Herausforderung für die Geschworenen, auch da manche Zeugen auf mysteriöse Weise verschwinden.

Nachdem mich Thirteen so gut unterhalten hat, habe ich mir gleich ein weiteres Hörbuch aus der Anwaltsserie um Eddie Flynn vorgenommen. Thomas M. Meinhardt spricht wieder Eddie und Susanne Schroeder, Schauspielerin und Theatercouch die Anwältin Kate Brooks. Beide machen ihre Sache hervorragend und ich konnte mir die Charaktere gut vorstellen. Mit Kate Brooks wird ein neuer, vielversprechender Charakter eingeführt. Die junge Anwältin arbeitet erst seit kurzem bei einer renommierten Kanzlei, wird aber von ihrem Chef nicht für voll genommen. Nach sexuellen Belästigungen kündigt sie und übernimmt ganz alleine die Verteidigung der tatverdächtigen Alexandra.

Und dann ist da ja noch der sympathische Eddie Flynn, der für seinen Job lebt, auf Kosten seines Privatlebens. Vor Gericht läuft er regelmäßig zur Hochform auf und für seine Mandanten gibt er alles, zur Not auch mal nicht ganz vorschriftsmäßig. Er übernimmt nur Fälle, wenn er von der Unschuld seines Mandanten überzeugt ist, auch wenn er in der Vergangenheit einen Mandanten mal komplett falsch eingeschätzt hatte. Mit katastrophalen Folgen.

Auch Fifty-Fifty ist wieder durch ständige Perspektivwechsel raffiniert und packend konstruiert. Cavanaghs Schreibstil ist kurzweilig, flüssig und an den richtigen Stellen temporeich oder auch emotional. Nach und nach kommen Hintergründe zutage, bevor der irische Autor wieder die Spannungsschraube anzieht.

 

Foto & Rezensionen von Andy Ruhr.

Thirteen | Das Hörbuch erschien am 24. Dezember 2021 bei Der Hörverlag
ISBN: B09J1CZLX1
Vollständige Lesung | Sprecher: Thomas M. Meinhardt + Götz Otto
Laufzeit: 13 Stunden 35 Minuten | bei Audible | als Download (Hörprobe): 25,95 €
Originaltitel: Thirteen | Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Goldmann

Wertung: 4,0 von 5

Fifty-Fifty | Das Hörbuch erschien am 28. November 2022 bei Der Hörverlag
ISBN: B0BLTCBG34
Vollständige Lesung | Sprecher: Thomas M. Meinhardt + Susanne Schroeder
Laufzeit: 13 Stunden 39 Minuten | bei Audible | als Download (Hörprobe): 25,95 €
Originaltitel: Fifty-Fifty | Übersetzung aus dem Englischen von Jörn Ingwersen
Die aktuelle Printausgabe erschien bei Goldmann

Wertung: 3,5 von 5

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Hayley Scrivenor | Dinge, die wir brennen sahen

Wir Kinder hatten einen eigenen Namen für unseren Ort, der offiziell Durton hieß: Dirt Town – irgendjemand hatte ihn sich ausgedacht und wahrscheinlich auf dem Schulhof damit angegeben wie mit einer glänzenden Murmel -, aber er war schon lange erprobt, als wir in die erste Klasse kamen. (Auszug S.62)

Durton ist eine vermutlich typische Kleinstadt im australischen Hinterland mit den typischen Problemen von steigender Arbeitslosigkeit und Landflucht. Ansonsten aber nichts Aufregendes, bis eines Freitags im November die 12jährige Esther Bianchi nicht von der Schule nach Hause kommt. Ihre Mutter Constance ist irgendwann besorgt, ruft die Freunde an, bei denen sie aber auch nicht ist, und wendet sich gegen Abend an die Polizei. Die Polizei reagiert schnell und schickt sofort zwei spezialisierte Beamte nach Durton. Was der Leser aber schon seit der zweiten Seite weiß: Die darauffolgende Suche wird erfolglos bleiben. Esther ist tot.

Damit ist der Ton des Romans bereits gesetzt und die Richtung klar, auch wenn die Polizei dies erst am Montag sicher weiß, als Esthers Leiche gefunden wird. Es wird nach einem Täter gesucht und der ist vermutlich innerhalb der kleinstädtischen Gemeinschaft zu finden. Auch wenn die Ermittlungen der zuständigen Polizistin Sarah mit ihrem Partner Smithy ausführlich beschrieben werden, das Hauptaugenmerk legt die Autorin im folgenden auf den verschiedenen Personenkonstellationen innerhalb und zwischen den beteiligten Familien. Es entwickelt sich ein Drama, ein Psychogramm einer Kleinstadt, in der zunehmend die Fassade bröckelt und die Wahrheit hinter Lügen und Geheimnissen verschleiert wird.

„Ronnie“, setzte sie an, aber ihre Stimme brach schon nach dem ersten Wort. „Sie haben Esther gefunden“, sagte sie schließlich.
Ihr Ton verriet mir, dass sie nicht alles gefunden hatten. Nicht ihr Lachen, nicht ihr lässiges Schlendern, nichts vonn dem, was ich an ihr liebte. Nichts davon würde zurückkehren. (Auszug S.300)

Die australische Autorin Hayley Scrivenor bedient sich dazu in ihrem Romandebüt „Dinge, die wir brennen sahen“ einer ausgefeilten multiperspektiven Erzählweise. Neben der Ermittlerin Sarah erhalten auch Esthers gleichaltrige Freunde Lewis und Veronika („Ronnie“) sowie Esthers Mutter Constance eine Erzählperspektive, Ronnie dabei als einzige in der ersten Person Singular. Spannend ist dabei, wie die Autorin an manchen Stellen die Perspektive wechselt und Ereignisse nochmal aus anderem Blickwinkel wiederholt. Zuletzt bringt Scrivenor noch eine Wir-Erzählerebene ein, als Stimme der Kinder von Durton. Selten gewählt und daher sehr spannend, wenn es gut gemacht ist, wie etwa beim neuseeländischen Autor Carl Nixon in seinem Roman „Rocking Horse Road“. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, dass die Autorin nur bedingt etwas mit dem „Wir-Erzähler“ anzufangen weiß und ihn teilweise stellvertretend als allgemeinen Erzähler benutzt, etwa bei der Auflösung am Ende.

Ansonsten weiß „Dinge, die wir brennen sahen“ aber durchaus zu gefallen. Das liegt nicht so sehr am Schauplatz, der insgesamt eine geringere Rolle spielt als sonst bei australischen Krimis. Sondern vielmehr in der akribischen Darstellung und Auflösung der Figurenkonstellationen, der gescheiterten Ehen, des gewalttätigen Vaters, der Probleme der Heranwachsenden mit sich selbst und untereinander. Eine tragische, sehr penibel und dennoch packend geschilderte Geschichte mit einem ziemlich banalem, aber dadurch nicht minder erschreckendem Ende.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Dinge, die wir brennen sahen | Erschienen am 31.03.2023 im Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0115-0
368 Seiten | 22,- €
Originaltitel: Dirt Town | Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Abgehakt | Kurzrezensionen März 2023

Kurzrezensionen März 2023

 

Friedrich Ani | Bullauge

Kay Oleander ist Polizist bei der Schutzpolizei in München. Bei einer Demonstration von „besorgten Bürgern“ eskaliert die Lage leicht, er wird von einer Glasflasche am Kopf getroffen, in der Folge verliert er ein Auge. Immer noch krank geschrieben, traumatisiert, allein stehend, verschafft er sich Zugang zu den Ermittlungsakten. Ein Täter wurde bislang nicht ermittelt, allerdings einige Zeugen vernommen, die sich verdächtig verhalten haben. Eine davon ist Silvia Glaser, auf die Oleander vor ihrem Haus trifft. Beide kommen ins Gespräch. Glaser offenbart ihm, dass sie in den Dunstkreis einer extremen Partei geraten ist, und bittet ihn, ihr dort herauszuhelfen.

Friedrich Ani ist der Mann der leisen Zwischentöne, der psychologischen Profile. Das zelebriert er hier auch ausgiebig. Sowohl Oleander als auch Glaser verbindet einiges, beide sind nach einem Unfall versehrt, noch etwas traumatisiert, ähnlich einsam und vom Leben enttäuscht. Das ist ohne Frage gut geschrieben, erschien mir von der Figurenkonstellation zu konstruiert und war mir auch irgendwie deutlich zu langatmig und spannungsarm. Doch im letzten Drittel bringt Ani dann einen Drive in die Story und am Ende noch einen bösen Twist, der den Leser nicht kalt lässt. Das hat mich dann doch überzeugt. Insofern ein Roman, bei dem man trotz der wenigen Seiten ein wenig dranbleiben muss, das Ende entschädigt dann aber für vieles.

 

Bullauge | Erschienen am 28.10.2022 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-7857-2811-6
366 Seiten | 16,99 €
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Krimi

 

Kim Young-ha | Aufzeichnungen eines Serienmörders

Byongsu Kim ist pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit inzwischen mit Literatur, schreibt selbst gerne Gedichte. Der Siebzigjährige hat allerdings auch eine Vergangenheit als Serienmörder. Bis zum Alter von 45 Jahren hat er gemordet und wurde nie gefasst. Seit einem schweren Verkehrsunfall hat er dies beendet und die kleine Tochter seines letzten Opfers adoptiert und großgezogen. Zuletzt wurde bei ihm Demenz diagnostiziert, die stetig voranschreitet. Bei einer zufälligen Begegnung trifft Kim auf einen Mann, in dem er ebenfalls einen Serienmörder erkennt. Kurz danach kommt seine Tochter ausgerechnet mit diesem Mann als Verlobtem nach Hause. Kim versucht nun fieberhaft bei fortschreitender Demenz seine Tochter zu beschützen und wenn er bei diesem Mann nochmal selbst zum Mörder werden muss.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ war in Korea ein Bestseller, auch die Verfilmung war erfolgreich und auch in der deutschen Übersetzung für den auf ostasiatische, insbesondere japanische Literatur spezialisierten Cass Verlag ein großer Erfolg. Der Titel ist dabei wörtlich zu nehmen. Byongsu Kim erzählt aus der Ich-Perspektive in kurzen, knappen Absätzen, in denen sich aktuelle Ereignisse, Erinnerungen aus naher oder ferner Vergangenheit und philosophische und lyrische Einschübe abwechseln. Dabei bringt der Erzähler auch immer blitzlichthaft wieder Einsichten in die koreanische Gesellschaft, vor allem der Vergangenheit. Der Reiz des Romans liegt zum großen Teil in der Person des Byongsu Kim, dem man zunehmend mitleidvoll beim „Verschwinden“ zusieht. Das Thema Demenz ausgerechnet bei einem ein Serienmörder ohne Reue durchzuspielen, ist eine ungemein pfiffige Idee, sehr virtuos umgesetzt. Aber Vorsicht an die Leser: Ob ein dementer Siebzigjähriger ein so zuverlässiger Erzähler ist? Mit weniger als 200 Seiten ein ziemlich schmaler, aber dafür aber umso feiner und nachhallender Roman.

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders | Erschienen am 27.09.2020 im Cass Verlag
ISBN 978-3-944751-22-1
152 Seiten | 20,- €
Die gelesene Ausgabe erschien 2022 bei der Büchergilde Gutenberg
Originaltitel: Sakinja-ui gieok-beob | Übersetzung aus dem Koreanischen von Inwon Park
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4,5 von 5,0
Genre: Spannungsroman

 

 

Peter Papathanasiou | Steinigung

Cobb ist eine vergessene, heruntergekommene Kleinstadt im heißen Outback Australiens. Landflucht, Alkohol, Drogen, Armut nagen am Gemeinwohl, die Installierung eines Internierungslagers für Asylsuchende hat zudem auch nicht wirklich neue Jobs gebracht, stattdessen zusätzliche Probleme. Da wird Cobb von einer brutalen Gewalttat erschüttert. Molly Abbott, beliebte Grundschullehrerin, wird brutal gesteinigt aufgefunden. Aus der Großstadt kommt der Detective George Manolis, um die Dorfpolizisten zu unterstützen. Manolis ist selbst in Cobb aufgewachsen, ehe seine Familie überstürzt den Ort verlassen hat. Manolis sieht sich einer widerwilligen, feindseligen Atmosphäre ausgesetzt. Für viele Bewohner steht fest: Der Mörder kommt aus dem Internierungslager, dem „Braunenhaus“, in dem die Tote Englischunterricht gegeben hat – was vielen allerdings nicht gefallen hat.

Der Debütroman des australischen Autors Peter Papathanasiou führt den Leser tief in die gesellschaftlichen Probleme Australiens. Sehr spannend konstruiert er ein Setting, in dem Nachfolger der Ureinwohner (Constable Sparrow), der ersten Siedler (man erinnert sich: Das waren vor allem Strafgefangene), der Einwanderer im 20.Jahrhundert (Detective Manolis) und die Flüchtlinge von heute aufeinander treffen. Dabei kreiert der Autor eine Reihe interessanter Figuren.

Manolis muss gegen eine Reihe von Widerständen ankämpfen, ihm begegnet Hass, Aggression, verhüllter und offener Rassismus. Am Erschütterndsten erscheint aber der bürokratisch-unterdrückende Umgang des Staates mit den Asylsuchenden, denen keine echte Perspektive geboten wird und die im Lager von Wachpersonal umgeben sind, die allzu gerne ihre Macht missbrauchen. Insgesamt ein lohnendes Debüt mit stark gesellschaftskritischem Unterton aus Australien.

 

Steinigung | Erschienen am 15.03.2023 im Polar Verlag
ISBN 978-3-492-06345-6
304 Seiten | 17,- €
Als E-Book: ISBN 978-3-498392-70-3 | 12,99 €
Originaltitel: The Stoning | Übersetzung aus dem Englischen von Sven Koch
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 3,5 von 5
Genre: Gesellschaftskritischer Krimi

Rezensionen 1-3 und Fotos von Gunnar Wolters.

 

Kathleen Kent | Der Weg ins Feuer

„Der Weg ins Feuer“ ist der zweite Thriller um die junge Polizistin Betty Rhyzyk vom Dallas Police Department und schließt einige Monate nach den traumatischen Erlebnissen aus dem ersten Band an. Betty, die immer noch unter den körperlichen wie psychischen Verletzungen leidet, darf endlich wieder ihren Dienst im Drogendezernat aufnehmen, wird von ihrem neuen Chef, dem ehemaligen Mordermittler Marshall Maclin erst mal in den Innendienst gesetzt. Auf die Straße darf sie erst wieder, wenn sie einige Therapiestunden beim Polizeipsychiater abgesessen hat. Doch Betty will sich keine Schwäche eingestehen, dabei hat sie auch den Freitod ihres Bruders noch nicht wirklich verarbeitet. Mit ihrer schroffen Art, die man schon aus dem ersten Band kennt, stößt sie auch ihrer geliebten Frau Jackie immer wieder vor den Kopf.

Im Fokus des ganzen Buches steht Betty und die Kriminalgeschichte gerät fast in den Hintergrund. In Dallas rivalisieren Drogenkartelle mitaneinander und Dealer werden auf offener Straße erschossen. Als ein Informant und Junkie ermordet wird und Gerüchte auftauchen, ein Cop wäre involviert, beginnt Betty auf eigene Faust zu ermitteln. Als Leser*in sind wir immer dicht bei ihr, wenn sie sich in die einschlägigen Clubs der Szene oder auch in den Untergrund und damit erneut in große Gefahr begibt. Ihre Kollegen werden von ihr genau beobachtet und es ist ausgerechnet ihr Freund und Kollege Seth, der scheinbar etwas zu verbergen hat. Wenn Betty wiederholt Maclins Anordnungen missachtet und Verdachtsmomente vorenthält, Sitzungen beim Psychologen absagt oder einen Tatort betritt, ohne Verstärkung anzufordern, ist das teilweise schwer zu ertragen. Dabei zeigt sie auch oft ihr weiches Herz, mischt sich in Fällen häuslicher Gewalt ein und nimmt Obdachlose auf.

Man kann diesen zweiten Teil ohne Vorkenntnisse des ersten Teils lesen, ich würde aber dazu raten, sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Trotz einiger Thriller-Klischees, die bedient werden, ist der Autorin ein spannender und temporeicher Thriller um eine außergewöhnliche Ermittlerin gelungen, der einen Blick in die Abgründe der Drogenkriminalität bietet. „Der Weg ins Feuer“ wird von den starken Charakterisierungen seiner Figuren getragen und zieht seine Intensität aus dem Drama in Bettys Leben, die zum Vorgänger eine glaubhafte Entwicklung durchmacht.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Der Weg ins Feuer | Erschienen am 13.02.2023 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-47296-5
359 Seiten | 16,95 €
Originaltitel: The Burn | Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Wertung: 4 von 5
Genre: Thriller

 

 

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Claudia Piñeiro | Kathedralen

Sobald ich lese, dass Ana zuletzt so etwas zugefügt wurde, vergesse ich es wieder. Am liebsten würde ich es nie wieder lesen müssen. Sosehr ich mich anstrenge, diese Lücke kann ich nur durch Erfindungen schließen, denn hierzu verfüge ich über keinerlei Erinnerungen, weder in meinem Kurzzeit- noch in meinem Langzeitgedächtnis. Mein Leben kann ich nur im Plusquamperfekt erzählen – alles, was vor dem Unfall passiert war. Ich war gegangen, ich hatte gesehen, ich war gewesen. Ana war in meinen Armen gestorben. (S. 113-114)

Lía Sardá ist Argentinierin, lebt aber schon seit einiger Zeit als Buchhändlerin in Santiago de Compostela. Zu ihrer Familie hat sie jeglichen Kontakt abgebrochen, lediglich zu ihrem Vater hält sie per Brief Kontakt. Auslöser war der Tod ihrer jüngsten Schwester Ana, die als 17jährige verbrannt und zerstückelt auf einer Müllhalde aufgefunden wurde. Der fatalistische, schicksalsergebene Umgang ihrer streng katholischen Familie mit Anas Tod hat Lía tief getroffen und innerhalb der Familie isoliert, sodass sie schließlich nach Spanien emigrierte. Sie hofft bis heute vergeblich, dass die Umstände von Anas Tod aufgeklärt werden. Da taucht nach dreißig Jahren plötzlich ihre älteste Schwester Carmen mit ihrem Mann Julián in der Buchhandlung auf. Sie vermissen ihren Sohn Mateo, der sich auf eine längere Europareise begeben hatte und auf Wunsch seines inzwischen verstorbenen Großvaters auch bei Lía vorbeikommen sollte. Mateos Mission war ursprünglich nur, den großen europäischen Kathedralen nachzuspüren, doch Carmen ahnt, dass nun das große Trauma der Familie nochmal endgültig auf den Tisch kommt.

Claudia Piñeiro kam mir zum ersten Mal mit „Der Privatsekretär“ in die Hände. Ein Politthriller, der mich genauso überzeugte wie später eine Lektüre des älteren Romans „Die Donnerstagswitwen“. Piñeiro zählt heute zu den erfolgreichsten argentinischen Autoren, arbeitet auch als Regisseurin und beim Theater. Ihre gesellschaftskritischen, dramatischen Romane sind oftmals in eine Kriminalgeschichte eingebettet und bewegen sich meist am Rande des Genres. Auch „Kathedralen“ ist ein solches Werk, dass sich einer klaren Genreidentifizierung verweigert. „Catedrales“ gewann 2021 den spanischen Krimipreis „Premio Hammett“.

Der Roman ist vielstimmig. Insgesamt sieben Personen kommen in eigenen Abschnitten zu Wort und erzählen als Ich-Erzähler:in aus ihrem Blickwinkel auf eine familiäre Tragödie. Der brutale Tod von Ana zerreißt die Familie Sardá, die Mutter und Carmen vergraben sich in ihrer tiefen Religiösität, der Vater bleibt lethargisch. Lía rebelliert gegen die Religiösität, will Antworten, will wissen, wie ihre Schwester ums Leben kam. Niemand gibt ihr Antworten, die Familie ist nicht mehr heil, aber die Fassade soll dennoch aufrecht erhalten werden. Nun ergibt sich mit Mateo, Carmens Sohn, mit der neuen Generation die Gelegenheit, doch noch Licht ins Dunkle zu bringen. Claudia Piñeiro gibt jeder Person eine eigene Stimme, einen eigenen Ton. Abstriche gibt es in Sachen Spannung, der Leser ahnt bald, worauf es hinausläuft, ohne dass aber dadurch die Enthüllung an Erschütterung verliert.

Das brauche ich aber nicht der ganzen Welt erklären, Rechenschaft über mein Tun muss ich ohnehin erst später, an anderer Stelle ablegen. […] Ich lasse mir von niemandem ausreden, dass unser Tun ein Akt der Liebe war, des Selbstschutzes. (S.263)

Wie schon in anderen Romanen erzählt die Autorin von Doppelmoral und Heuchelei, dieses Mal in direktem Bezug zur tiefen, fast fanatischen Religiösität und zum immer noch präsenten Machtanspruch der katholischen Kirche über die argentinische Gesellschaft. Dabei porträtiert sie eine Familie, die aufgrund dieser Umstände ein extremes Trauma erfährt und vollkommen zerrissen wird. Das ist wie immer bei Claudia Piñeiro präzise und tiefgründig erzählt und erhält durch die ausgewählten Erzähler:innen besonderen Reiz.

 

Foto & Rezension von Gunnar Wolters.

Kathedralen | Erschienen am 30.01.2023 im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-00592-1
313 Seiten | 22,95 €
Originaltitel: Catedrales (Übersetzung aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Bibliografische Angaben & Leseprobe

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