Andreas Föhr | Eisenberg

Andreas Föhr | Eisenberg

Der Arm der Toten, der auf Schwinds Seite lag, zeichnete sich unter dem Tuch ab, und es schien, dass er am Handgelenk abrupt aufhörte. „Es sieht so aus, als hätte sie keine Hände.“
„Da greifen wir jetzt aber ein bisschen vor.“
„Sind die Hände gefunden worden?“ Das Thema beschäftigte Schwind, und er wollte Stangs langatmige Einführungszeremonie nicht abwarten. „Was sind Sie bloß so ungeduldig?“
„Beantworten Sie doch einfach meine Frage. Wurden die Hände…“
„Gefunden wäre das falsche Wort“, unterbrach ihn Stang ungehalten, denn er hasste es, wenn jemand den ritualisierten Ablauf seiner Obduktionen durcheinanderbrachte. Er zog ein Gesicht, als habe man ihm den ganzen Spaß verdorben, murmelte: „Also weg damit“, und gebot der jungen Ärztin mit herrischer Geste, das Tuch zu entfernen. (Auszug Seite 11)

In München wird an einem Abschnitt der Isar, dem sogenanntem Flaucher, die brutal ermordete und verstümmelte Leiche einer jungen Studentin gefunden. Ein mutmaßlicher Täter wird schnell aufgrund von DNA-Spuren im Obdachlosenmilieu ermittelt. Der Fall findet das Interesse von Dr. Rachel Eisenberg, eine auf Strafrecht spezialisierte Anwältin, die sich zwar kein großes Honorar, aber eine gewisse Medienpräsenz erhofft.

Als sie den Angeklagten im Stadelheimer Gefängnis sieht, ist sie geschockt. Der verwahrloste Tatverdächtige ist der ehemalige Physikprofessor Heiko Gerlach, ihre erste große Liebe, mit dem sie vor 18 Jahren als Studentin liiert war. Aufgrund privater Probleme ist der Angeklagte in die Obdachlosigkeit gerutscht. Rachel sieht einige Ungereimtheiten in der Anklageschrift und übernimmt die Verteidigung. Doch während des Haftprüfungstermins legt Gerlach plötzlich ein Geständnis ab und entzieht Eisenberg das Mandat. Für die Anwältin kommt aber der lebensuntüchtige Geistesmensch nicht als brutaler Mörder in Frage, sie findet einige entlastende Beweise und ermittelt auf eigene Faust.

In einem zweiten Handlungsstrang verfolgt der Leser die spannende Flucht einer Frau mit ihrer Tochter aus dem Kosovo. Leonora Shkodra und Valentina versuchen im dichten Schneetreiben ihren Verfolgern zu entkommen und stoßen an der Grenze auf zwei dubiose Polizisten. Diese Nebenhandlung endet circa in der Mitte des Buches mit einem Cliffhanger und der Leser sieht sich mit vielen Fragen und Unklarheiten konfrontiert. Erst am Ende werden diese beiden Handlungsstränge in dem gut konstruierten Plot schlüssig zusammen geführt und in einem packenden dramatischen Finale gelöst.

Die Hauptfigur ist die namensgebende Dr. Rachel Eisenberg, eine kluge, engagierte Anwältin, die zusammen mit ihrem Noch-Ehemann Sascha eine renommierte Kanzlei in München führt. Privat sind die beiden allerdings getrennt und Rachel lebt allein mit der gemeinsamen pubertierenden Tochter zusammen. Das birgt natürlich jede Menge Konfliktstoff, aber Föhr findet hier die perfekte Dosis, so dass die Privatgeschichten nicht zu sehr ins Gewicht fallen und den eigentlichen Kriminalfall überschatten. Mit der Figur Rachel Eisenberg steht und fällt die Geschichte und sie wird sehr lebensecht mit allen Ecken und Kanten dargestellt. Ich sehe sie jedenfalls bildlich vor mir, wenn sie in Designer-Jeans und Lackpumps das Beste für ihre Mandanten rausholen möchte und resolut auch schon mal zu unorthodoxen Mitteln greift. Sie ist taff, hat das Herz am rechten Fleck, verliert aber auch schon mal die Nerven und kündigt eine langsamen Angestellten fristlos. Heiko Gerlach ist eine ziemlich komplexe Figur, die für den Leser bis zum Schluss ziemlich undurchschaubar bleibt.

Andreas Föhr hat sich bereits neben vielen Drehbüchern fürs Fernsehen mit seiner Serie um die zwei Polizisten Wallner und Kreuthner einen Namen gemacht. Von diesen Regionalkrimis, die im ländlichen Bayern spielen, habe ich allerdings keinen gelesen. In Eisenberg hat der Bestseller-Autor mit der Top-Anwältin Rachel Eisenberg jetzt eine neue starke Frauenfigur installiert und man merkt, dass der gelernte Jurist weiß, wovon er spricht. Grade die Beschreibungen hinter den Kulissen mit dem Geplänkel zwischen Richtern und Anwälten sind ihm sehr gelungen und haben mich köstlich amüsiert. Die Hackordnung zeigt sich schon morgens vor Dienstbeginn im Café gegenüber dem Strafjustizzentrum, wenn genau feststeht, wer wo seinen Kaffee serviert bekommt. Hier tauschen etliche Münchner Anwälte, Verteidiger und Richter den neuesten Klatsch aus. Eine fesselnde Gerichtsszene hat mich im besten Sinne an John Grisham erinnert.

Der Autor versteht sein Handwerk und es gelingt ihm, seinen Leser mit falschen Fährten und neuen Entwicklungen über 500 Seiten zu fesseln. Aufgrund immer neuer Indizien und wechselnder Verdächtiger hält er den Spannungsbogen bis zum Schluss. Überhaupt ist der ganze Kriminalroman wortgewandt geschrieben, mit vielen knackigen, humorvollen Dialogen. Die Auflösung zum Schluss war für mich allerdings schon starker Tobak und dass Computer-Passwörter durch Ausprobieren geknackt werden, gibt es auch nur in Krimis. Davon abgesehen für mich ein gelungener Serienauftakt mit einer Protagonistin voller Potenzial und viel Münchner Lokalkolorit.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

 

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Eisenberg | Erschienen am 1. Juni 2016 bei Droemer Knaur
ISBN 978-3-42665-396-8
512 Seiten | 14,99 Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe

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