Tag: 6. Oktober 2019

Peter Heller | Der Fluss

Peter Heller | Der Fluss

Es gibt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre, dachte er. Aber auch: Etwas stimmt nicht. Er spürte es in seinem Nacken, wo sich ihm die Härchen aufstellten wie zu Hause, wenn in den Never Summer Mountains ein Gewitter drohte; oder in Montana, wenn er einem Bären vor die Nase lief. Er hatte ihn schon immer gehabt, diesen sechsten Sinn – manche Menschen haben ihn einfach-, und er hatte ihm mehr als einmal den Arsch gerettet. (Auszug Seiten 27-28)

Die beiden Studenten und Freunde Jack und Wynn verbindet das gemeinsame Hobby Outdoor- und Survivaltrips. Diesmal sind sie im Spätsommer auf einer Kanutour auf einem kanadischen Fluss, mehr als 150 Meilen durch die Wildnis bis zu einem Ort kurz vor der Hudson Bay. Mehrere Wochen auf sich allein gestellt, nur mit der allernötigsten Ausrüstung. Doch diesmal bemerken sie schon relativ früh einen großen Waldbrand, zwar noch fern, aber näher kommend. Eine Begegnung mit zwei anderen Kanuten, ein Redneck-Duo, verläuft eher unangenehm. Kurz danach hören die beiden den Streit eines Paares im Wald.

Sie fahren weiter, aber beschließen zurückzukehren, um das Paar vor dem Feuer zu warnen. Doch sie finden das Paar nicht wieder. Einen Tag später, als sie am Ufer angelegt haben, um einen Wasserfall zu umgehen, kommt ein einzelner Mann in einem Kanu auf sie zu. Etwas verstört schildert er, dass seine Frau verschwunden sei, er könne sie nicht mehr finden. Jack und Wynn beschließen zurückzufahren, um die Frau zu suchen. Währenddessen kommt der Waldbrand immer näher. Doch das ist nicht der einzige Alptraum, dem sich die beiden in der Folgezeit stellen müssen.

Wynn machte sich noch etwas vor. Er musste aufwachen und den Tatsachen ins Auge sehen, sonst waren sie erledigt.
Sie brauchten einen besseren Plan. Instinktiv wusste er, dass Verteidigung nichts brachte, nicht so, wie sie es letzte Nacht versucht hatten. Sie mussten auf Angriff schalten. (Seite 118)

Zunächst fällt bei diesem Mix aus Abenteuerroman und Thriller natürlich das Setting auf. Eine wilde Flusslandschaft, abwechselnd durchzogen von Seen und schnelleren Abschnitten mit Stromschnellen und Wasserfällen, umgeben von dunklen Wäldern. Einheimische Tierwelt und das regelmäßige Angeln und Beerenpflücken zur Nahrungssuche inklusive. Das alles beschreibt Autor Peter Heller sehr souverän und eindrücklich. Besonders beeindruckend – so viel darf ich vorwegnehmen – wird es zum Ende des Buches, wenn der Waldbrand, der lange Zeit als Bedrohung im Hintergrund schwelt, seine volle Kraft entfaltet. Und dennoch steht die Naturbeschreibung nicht im Zentrum dieser Geschichte.

Dieses bilden vielmehr die beiden jungen Männer Jack und Wynn. Beide werden intensiv beschrieben, der Erzähler taucht tief in die Figuren ein und verrät auch ihre innersten Gedanken. Sie sind beide durchtrainiert, bestens vorbereitet und dabei verantwortungsbewusst. Bereit, andere zu unterstützen. Jack ist dabei der Dominantere der beiden und gleichzeitig zurückhaltender, misstrauischer. Er hat schon in jungen Jahren einen Schicksalsschlag hinnehmen müssen, als seine Mutter bei einem Familienausritt in einen Fluss stürzte und ertrank. Wynn hingegen ist sanfter, aufgeschlossener, aber auch ein Stück weit naiver. Die Freundschaft der beiden ist sehr eng, aber dieser Trip wird dieses Band auf eine harte Probe stellen. Die Entwicklung der beiden Hauptfiguren und deren Freundschaft gehört zu den absoluten Stärken des Romans.

Männer mit Kanu auf einem Fluss. Dem geübten Leser kommt natürlich fast sofort ein Roman in den Sinn, der sozusagen die Referenz für dieses Genre und Setting bildet: James Dickeys Flussfahrt (im Original: „Deliverance“). Auch in Der Fluss wird auf diesen Roman verwiesen. Bekannt ist ebenfalls die Verfilmung unter dem wenig subtilen (deutschen) Titel Beim Sterben ist jeder der Erste. Flussfahrt überzeugt vor allem durch sein konstant hohes Spannungsniveau und die damit verbundene hohe Intensität. Dieses Intensitätsniveau erreicht Der Fluss nicht ganz, aber das war vermutlich auch gar nicht Peter Hellers Intention. Er dosiert seine Spannungsmomente – ohne, dass zwischendurch die Luft raus wäre – und konzentriert sich mehr auf die Entwicklung seiner Hauptfiguren. Dennoch bleibt es ein packender und wuchtiger Thriller/Abenteuerroman, den ich unbedingt empfehle.

Noch ein paar Worte zur Übersetzung: In seiner Besprechung bei Spiegel Online hat Marcus Müntefering die Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Strobel deutlich kritisiert. Eine Beurteilung maße ich mir nicht an. Ich kann als Laie lediglich feststellen, dass mir während der Lektüre der Übersetzung sprachlich-stilistische Holperstellen höchstens sporadisch aufgefallen sind und diese mein Lesevergnügen nicht wirklich getrübt haben.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Der Fluss | Erschienen am 19. August 2019 im Verlag Nagel & Kimche
ISBN 987-3-312-01134-6
270 Seiten | 22.- Euro
Bibliographische Angaben & Leseprobe