Monat: März 2019

Attica Locke | Bluebird, Bluebird

Attica Locke | Bluebird, Bluebird

„Hab’n Sie sich verlaufen?“, fragte sie.
„Überhaupt nicht“, sagte er und hob die linke Hüfte, als er sich auf den Barhocker setzte, damit man sein Holster mit seiner 45er sah. Die Barkeeperin registrierte es mit finsterem Blick. Darren beobachtete sie dabei, wie sie einschenkte und darauf achtete, dass es ja nicht zu viel war. Als sie ihm den Drink hinschob, hob er das Glas und sagte: „Auf das offene Tragen von Waffen.“ Er legte einen Zwanziger auf den Tresen, um zu signalisieren, dass er eine Weile bleiben würde, drehte sich dann um und suchte sich weiter hinten einen Platz. (Auszug Seite 94)

Darren Matthews ist Texas Ranger und aktuell vom Dienst suspendiert. Ein Kumpel vom FBI bittet ihn, in das kleine Nest Lark in Osttexas zu fahren, um sich dort ein wenig inkognito umzusehen. In Lark, einem Ort mit weniger als 200 Einwohnern, wurde eine weiße Kellnerin ermordet, nachdem zwei Tage zuvor der schwarze Anwalt Michael Wright im örtlichen Bayou tot aufgefunden wurde. Der Sheriff hat keine Unterstützung angefordert, aber der Freund beim FBI vermutet einen Zusammenhang und ein Rasseverbrechen: Ein Thema, auf das der dunkelhäutige Ranger anspringt. Darren lässt sich überreden und bricht nach Lark auf.

Dort angekommen begibt sich Darren zunächst in ein kleines Café, das von der eher ruppigen älteren Besitzerin Geneva geführt wird und das eine Art Anlaufpunkt für die schwarzen Einwohner ist. Michael Wright ist an jenem Tag wohl auch dort eingekehrt ist, doch allzu gesprächig ist man dort nicht. Etwas weiter die Straße hinauf gibt es noch eine Redneck-Kneipe mit härteren Getränken. Offenbar war Wright dort ebenfalls und traf auf die Kellnerin Missy Dale. Wenige Stunden später war er tot, sie zwei Tage später. Darren bekommt mit, dass der Sheriff bei Wright keinen Mord, sondern Ertrinken vermutet und die Ermittlungen mehr auf den offensichtlichen Mord an der Kellnerin konzentriert.

Er kniff Augen und Mund zu und ruderte mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben. Einmal treten mit dem anderen Bein genügte, um den Grund des Bayous zu berühren. Dabei stieß er sich den Zeh in seinem Stiefel. Dem Schmerz folgte ein Erkenntnisblitz. Steh einfach auf, Mann. Steh auf. Innerhalb von Sekunden stand Darren, und das Wasser des Bayou reichte ihm gerade mal bis zur Hüfte. Da wusste er, dass Michael Wright unmöglich im Bayou gelandet und dort ertrunken war. (Seite 111)

Darren muss relativ schnell seine Tarnung aufgeben, erhält aber plötzlich Unterstützung von seinem Vorgesetzten. Seine Suspendierung wird vorläufig aufgehoben und er darf offiziell weiter ermitteln. Er hat schnell eine Theorie zu einem rassistisch motivierten Doppelmord, er vermutet nicht zu unrecht, dass es im Ort Verbindungen zur Aryan Brotherhood of Texas gibt. Doch je mehr er in den Fall eintaucht, um so mehr gerät er in ein undurchsichtiges Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten. Die Ehefrau des toten Wright taucht mit Reportern im Schlepptau auf, um den Tod ihres Mannes zu klären. Der Sheriff arbeitet gegen Darren. Der Patron des Ortes, Wally, zieht im Hintergrund die Fäden. Und auch die schwarze alte Dame aus dem Café, Geneva, spielt eine Rolle in dieser Geschichte. Der Fall wird zusehend kompliziert und die Stimmung heizt sich auf.

Autorin Attica Locke stammt aus Texas, lebt inzwischen in Kalifornien. In den Staaten ist sie bereits eine renommierte Autorin. Sie arbeitet auch als Drehbuchautorin und Produzentin, u.a für die Fernsehserie Empire. Bluebird, Bluebird ist ihr vierter Roman und wurde ihr bis dato größter Erfolg. Unter anderem gelang ihr das seltene Kunststück, für diesen Roman sowohl einen Edgar Award for Best Novel als auch einen Ian Fleming Steel Dagger für den besten Thriller des Jahres zu gewinnen, so etwas wie ein Grand Slam der Krimipreise. Bluebird, Bluebird (der Titel bezieht sich auf einen Song von John Lee Hooker) ist der erste Roman von Attica Locke, der auf Deutsch erscheint, in der sehr gelungenen Übersetzung von Susanne Mende.

Protagonist Darren Matthews ist zum Zeitpunkt seines Eintreffens in Lark sowohl privat als auch beruflich an einem Scheideweg angelangt. Er ist als Texas Ranger in die Fußstapfen seines väterlichen Onkels getreten, der diesen Dienst als einer der ersten Schwarzen ausübte. Doch seine Frau Lisa (und sein anderer Onkel) möchten lieber, dass Darren ein Jurastudium beendet. Vor allem seitdem Darren sich innerhalb der Behörde um die Verfolgung rassistischer Krimineller wie der Aryan Brotherhood of Texas kümmert, hat seine Frau Angst um ihn. Doch Darren will davon nichts wissen, es kriselt in der Ehe. Als Darren in Lark ankommt, hofft Lisa eigentlich, dass er nach Hause zurückkehrt und endgültig den Dienst quittiert. Letzteres droht Darren von anderer Seite: Seine Suspendierung rührt daher, dass Mack, ein Freund der Familie, ein gefährliches Aufeinandertreffen mit dem weißen Rassisten Ronnie Malvo hatte, der Macks Grundstück betreten und dessen Nichte belästigt hatte. Darren konnte Mack gerade noch davon abhalten, Malvo zu erschießen. Doch zwei Tage später war Malvo trotzdem tot, Mack der Hauptverdächtige und Darren unter Verdacht, Mack gedeckt zu haben. Mit diesem Nebenstrang beginnt das Buch und er wird am Ende wieder aufgegriffen.

Mit diesen inneren Konflikten ist Darren nicht alleine. Mit einem präzisen Blick für die Figuren zeichnet Autorin Locke ein Bild von schwierigen Beziehungen, von Liebe, Eifersucht, Hass und Verrat. Und das ist es doch schließlich, was einen exzellenten Kriminalroman vom Durchschnitt abhebt. Diese Geschichte riecht nicht nur für Darren nach einem Rasseverbrechen, auch der Leser ist geneigt, sich schnell dieses Urteil zu bilden. Und natürlich geht es hier auch um Rassismus. Die Macht ist in Osttexas immer noch sehr ungleich verteilt, die neuen und alten Rassisten pflegen weiterhin ihr Image. Aber die Welt ist komplizierter – und genau das bringt Locke in diesem Roman eindrucksvoll zum Ausdruck.

Bluebird, Bluebird ist neben dem Kriminalroman, bei dem am Ende tatsächlich ein Täter ermittelt wird, auch ein klassischer Südstaatenroman, in dem die Figuren durch verschiedene Ereignisse aus der Vergangenheit miteinander verbunden sind und dadurch neue Konflikte hervorbringen. Ganz getreu nach Faulkners Motto: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Und etwas überraschend ist es auch ein Roman über Heimat. Hier wird nämlich klar gemacht, dass die Schwarzen ihre Heimat Texas lieben, ungeachtet der Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sein mögen, und dass sie ihre Heimat nicht den Rednecks überlassen wollen. Und natürlich (der Titel deutet es schon an) spielt auch die Musik, der Blues, eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Buch.

Insgesamt ein wirklich hervorragender Roman, der zurecht preisgekrönt wurde (warum in UK allerdings in der Kategorie Thriller ist mir nicht ganz klar). Mögen sich auch in Deutschland genügend Leser finden, das Krimijahr 2019 hat für mich jedenfalls ein erstes Highlight.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Bluebird, Bluebird | Erschienen am 1. Februar 2019 im Polar Verlag
ISBN 987-3-945133-71-2
330 Seiten | 20.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Ruth Ware | Wie tief ist deine Schuld

Ruth Ware | Wie tief ist deine Schuld

„Anstatt zu antworten, steht sie auf und geht zu dem Stapel Zeitungen, die zum Anzünden der Holzscheite neben dem Ofen liegen. Ganz oben liegt der Salten Observer, den sie uns wortlos entgegenhält. Aus ihrem Gesicht spricht all die Angst, die sie während dieses langen, weinseligen Abends verborgen gehalten hat.“ (Auszug Seite 86)

Isa bekommt eine Nachricht von ihrer Schulfreundin Kate, die sie seit vielen Jahren nicht gesehen hat, in der nur drei Worte stehen: „Ich brauche dich“. Sofort fährt Isa mit ihrer sechs Monate alten Tochter zu Kate nach Salten. In Salten waren die beiden mit Thea und Fatima vor siebzehn Jahren auf dem Internat, bis an einem Abend etwas Schreckliches passiert ist und alle vier der Schule verwiesen wurden. Dieses Geschehnis, das zu einem Geheimnis geworden ist und alle vier untrennbar miteinander verbindet, droht sie nun einzuholen und in Gefahr zu bringen. Kommt nun alles ans Licht und verliert jeder von ihnen damit seine Existenz?

Vorfreude und Erwartungen

Wie tief ist deine Schuld von Ruth Ware ist der zweite Roman der Autorin, den ich gelesen habe. Von Women in Cabin 10 war ich recht angetan und hatte mich deshalb auf diesen Thriller gefreut. Meine Vorfreude wurde nicht enttäuscht und dennoch wurden meine Erwartungen nicht ganz erfüllt. Es handelt sich hier um eine sehr flüssig zu lesende Geschichte mit kurzen Kapiteln aus Sicht von Isa. Abwechselnd befindet sich Isa in der Gegenwart oder erinnert sich an das Schuljahr in Salten. Ich bin insgesamt gut durch die Seiten gekommen und habe gern darin gelesen, dennoch hat mir eine wirklich packende Wendung gefehlt. Das Blatt dreht sich im Laufe der Geschehnisse, aber nicht so, dass es mich völlig aus den Socken gehauen hätte.

Vier Frauen

Die vier Freundinnen könnten unterschiedlicher nicht sein: Isa ist in einer festen Beziehung, mit einem sicheren und gut bezahlten Job als Juristin im Innenministerium und nun Mutter; Fatima ist verheiratet, Mutter zweier Kinder und Ärztin und seit kurzem streng buddhistisch; Thea ist mager- und alkoholsüchtig, arbeitet in einer Spielhalle und ist recht unstet in ihrem Leben und Kate, die nach dem Vorfall in dem kleinen Ort geblieben ist und sich mit den Vorurteilen und Gerüchten der Bewohner all die Jahre herumgeschlagen hat, versucht mit Malerei an Geld zu kommen. Ich persönlich kann mich mit Isa am ehesten identifizieren, aber auch die anderen sind mir nicht unsympathisch. Da das Buch aus Sicht von Isa geschildert wird, wird von ihr auch am meisten erzählt. Denn das Geheimnis hat sie in all den Jahren begleitet und das Lügengerüst, das da herum erbaut wurde, droht jetzt auch ihre Beziehung zu beeinflussen.

Eine wenig fesselnde Wendung

Am Anfang gewinnt die Geschichte an Spannung, da dem Leser noch nicht verraten wird, um was es sich genau handelt und warum die vier sich so überstürzt treffen. Es gibt immer nur Andeutungen bis ungefähr zur Mitte, dann wird endlich Klartext geredet. Diese Offenbarung fand ich persönlich dann aber gar nicht so schockierend, zumal die Gründe für mich nachvollziehbar sind und sie eben erst fünfzehn Jahre alt waren. Im letzten Drittel wird geschildert, was genau für Isa tatsächlich auf dem Spiel steht, aber das war auch nicht von Anfang an der Fall. Zum Ende kommt dann tatsächlich die Wahrheit raus, aber auch die lässt mich nicht völlig fassungslos zurück.

Fazit: Ein gut und flüssig zu lesender Thriller, der zu empfehlen ist, wenn man keine großartigen Wendungen erwartet.

Ruth Ware wuchs im südenglischen Lewes auf und lebte nach ihrem Studium an der Manchester University eine Zeit lang in Paris. Sie hat als Kellnerin, Buchhändlerin, Englischlehrerin und Pressereferentin für einen großen Verlag gearbeitet und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Wie tief ist deine Schuld | Erschienen am 30. November 2018 bei dtv
ISBN 978-3-423-26208-8
448 Seiten | 15.90 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Auch bei uns: Rezensionen zu den Thrillern Im dunklen, dunklen Wald und Woman in Cabin 10 von Ruth Ware.

JP Delaney | Believe Me

JP Delaney | Believe Me

Believe Me ist der Nachfolgeroman des erfolgreichen Titels „The Girl Before“ des Autors JP Delaney und spielt in New York. Und gleich vorab ein Hinweis, entnommen aus der Danksagung: dieses Buch ist eine Neufassung eines vor 17 Jahren bereits erschienen Romans, gleiche Grundidee, aber neue Personen, Handlung etc. Ich kann nur sagen: sehr gute Idee des Autors, es ist ein für mich außergewöhnlicher Psychothriller dabei herausgekommen. Der Aufbau ist passend zu der Hauptperson Claire Wright, einer Schauspielerin, in einigen Kapiteln wie ein Drehbuch aufgebaut, mal etwas ganz anderes.

Claire Wright, eine englische Schauspielerin, ist nach New York gekommen, um dort eine Schauspielschule zu besuchen und ihr Können zu vervollkommnen. Sie will lernen, eine Figur nicht nur zu spielen, sondern „zu sein“. Um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern (und in Ermangelung einer Green Card, die ihr eine offizielle Arbeit ermöglichen würde) flirtet sie im Auftrag einer Agentur mit verheirateten Männern, deren Frauen wissen wollen, ob sie treu sind.

Eines Tages will die beauftragende Ehefrau Stella Fogler sie vorab kennenlernen. Das ist an sich schon ungewöhnlich, erklärt aber noch nicht die Nervosität der Kundin und deren mehrfache Bitte an Claire, besonders vorsichtig zu sein. Claires Job endet diesmal jedoch anders als sonst üblich: Patrick Fogler geht nicht auf ihren Flirt ein. Nach einem Gespräch, bei dem es um das von Fogler mitgeführte Buch Die Blumen des Bösen von Charles Baudelaire geht, verlässt Fogler die Bar, in der Claire den Flirtversuch gestartet hatte. Stella Fogler ist jedoch weit davon entfernt, sich über das Ergebnis zu freuen, sie ist eher entsetzt! Für Claire ist das nicht nachvollziehbar, es sei denn, es sollte eine Erpressung stattfinden. Claire verlässt daraufhin ziemlich sauer die Hotelsuite, in der sie sich mit Stella getroffen hatte. Drei Tage später wird sie allerdings aufs Polizeipräsidium gebracht. Wie sie im Laufe einer Befragung erfährt, ist Stella Fogler in ihrer Suite ermordet worden. Monate später wird Claire von der Polizei, die in Patrick Fogler den Mörder vermutet, eine Mitarbeit angeboten: sie soll den Lockvogel spielen und dabei helfen, Fogler zu überführen.

Was sich weiter abspielt, ist ein einziges Verwirrspiel. Der Autor hat es geschafft, den Spannungsbogen der Handlung immer höher zu schrauben. Immer, wenn der Leser denkt, er ist auf dem richtigen Weg zur Lösung, kommt die nächste Abzweigung und das Ratespiel fängt von vorne an.

Die Person Claire als Schauspielerin ist gekonnt skizziert, ihre Vergangenheit als Waise und ihr Aufwachsen in Pflegefamilien, ihr schauspielerisches Talent, mit dem sie die ihr aufgetragene Figur „lebt“ statt nur darzustellen, lassen den Leser bis zum Schluss im Ungewissen: Engel oder Teufel (oder irgendwas dazwischen)? Patrick Foglers Figur ist ambivalent aufgebaut, vom verfolgten Täter wird er im Laufe der Handlung zum Helfer der Polizei, die Rollen drehen sich komplett. Aber stimmt die Realität mit dem Augenscheinlichen überein?

Einen roten Faden stellt das bereits erwähnte Buch von Baudelaire dar, ein Gedichtezyklus, der bei seinem Erscheinen aufgrund seiner bizarren und morbiden Texte und gewagter Erotik einen Skandal auslöste. Diese immer wieder zitierten Texte bestimmen auch einen großen Teil der Atmosphäre zwischen Claire und Patrick, lassen aber immer noch zweifeln, welche Bewandtnis sie für die Auflösung darstellen. Bis letztendlich Klarheit geschaffen wird, geht der Leser durch ein Wechselbad der Vermutungen, was Spannung bis zum Schluss garantiert!

Wer gerne Thriller bzw. Psychothriller liest, ist mit diesem Buch gut bedient. Man möchte nicht mehr aufhören zu lesen, bis man die Lösung endlich kennt.

JP Delaney ist einer der Namen, unter dem Anthony Capella, geboren 1962 in Uganda, ein englischer Krimi- und Drehbuchautor, seine Romane schreibt. Er studierte englische Literatur in Oxford und arbeitete auch als Werbetexter. Unter dem Namen Tony Strong veröffentlichte er von 1997 bis 2003 Kriminalromane im Zweijahres-Rhythmus.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Believe me | Erschienen am 10. September 2018 im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-10326-4
416 Seiten | 15.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe