Tag: 21. März 2019

Dov Alfon | Unit 8200

Dov Alfon | Unit 8200

„Wunderbar!“, rief der amerikanische Berater aus. „Riesensache: Maulkorberlass aufgehoben, ein Israeli in Paris gekidnappt, Regierung vermutet antijüdische Motive, Premierminister hat französischen Amtskollegen kontaktiert und ihn zum Eingreifen gedrängt. Haben wir Bilder?“
„Ich habe allerdings inzwischen mit dem Obersten Militärberater gesprochen, und der sagt, man sei jetzt sicher, dass die Entführung nichts mit der israelischen Staatsangehörigkeit zu tun hat, sondern dass es sich um einen kriminellen Fall von Personenverwechslung handelt“, sagte der Sprecher.
„Was ist denn das für einer? Ist er der Sprecher des IS? Wie kann er sich über das Motiv sicher sein?“, wetterte der Amerikaner. „Es ist unser Job, lachhafte Spekulationen zu präsentieren, nicht seiner.“ (Auszug Seite 88)

Paris, Flughafen Charles de Gaulle: Kurz nach der Ankunft wird ein Israeli von einer Frau in einen Aufzug gelockt und verschwindet. Wenig später ist anhand von Videoaufzeichnungen klar, dass er von zwei chinesischen Männern ermordet wurde. Doch war der Marketingleiter eines Softwareunternehmens wirklich das gesuchte Opfer? Zunächst wird die Sache heruntergespielt, doch zur Vertuschung eines innenpolitischen Skandals werden in Israel plötzlich alle Register gezogen und eine diplomatische Krise heraufbeschworen.

Hauptmann Zeev Abadi von der Geheimdiensteinheit Unit 8200 war zeitgleich am Flughafen und schaltet sich in die Ermittlungen des französischen Kommissars Léger (Nomen est Omen) ein. Er glaubt, dass in Wahrheit ein anderer das Ziel dieses Verbrechens war, was sich bald als korrekt herausstellen wird. Abadi ist gerade als Chef der Unit 8200 eingesetzt worden, doch er hat mächtige Feinde im Militär, die ihn nur allzu schnell wieder loswerden wollen. Abadis Stellvertreterin Leutnant Oriana Talmur muss währenddessen in Israel die internen Machtkämpfe ausfechten und gleichzeitig Abadi helfen, die Hintergründe aufzudecken.

Obwohl die Perspektive von zahlreichen Figuren eingenommen wird, sind Abadi und Talmur die beiden Hauptfiguren. Sie ist Mitte Zwanzig, die Tochter eines verdienten Offiziers, gutaussehend, ein wenig kratzbürstig. Sie ist eine brillante Analytikerin, Beste ihres Jahrgangs, alle Wege stehen ihr offen. Und sie hat einen feinen Sinn für die internen Machtkämpfe, bleibt jedoch loyal zu dem ihr nicht persönlich bekannten Abadi. Er ist der Sohn tunesischer Juden, in Frankreich aufgewachsen, danach nach Israel gekommen. Ein erfahrener Geheimdienstler, mit allen Wassern gewaschen. Überraschend ist er zum Leiter der Unit 8200 ernannt worden, galt seine Karriere doch als beendet, seitdem er in einem Gerichtsverfahren für die angeklagten Angehörigen der Unit 8200, die aus Gewissensgründen den Dienst verweigert hatten, ausgesagt hatte.

Die „Unit 8200“ gibt es übrigens wirklich. Sie ist eine der renommiertesten Geheimdiensteinheiten Israels, eine Fernmelde- und Aufklärungseinheit, eine der HighTech-Abteilungen des israelischen Militärs. Auch das angesprochene Gerichtsverfahren gab es wirklich. Damals klagten über 40 Reservisten der Einheit die aus ihrer Sicht Menschen verachtende Praxis an, dass Palästinenser in den besetzten Gebieten ausgespäht wurden, um diffamierende private Dinge zu erfahren, damit diese mittels Erpressung als Kollaborateure „angeworben“ werden konnten. Die Reservisten galten fürs Militär (und die überwiegende Öffentlichkeit) als Verräter und wurden entlassen. Dadurch, dass dieser Vorgang Eingang in diesen Thriller findet, ist klar, dass es hier auch sehr politisch wird. Intrigen, Verrat, Einflussnahme, Vorteilsnahme, Seilschaften. Involviert sind die höchsten Kreise, die politischen und strategischen Berater versuchen mit Lügen, Vertuschungen und Fake News abzulenken. Oder man schafft es, die „heiße Kartoffel“ an einen anderen weiterzureichen.

Oriana überlegte, ob alle Nachrichten, die sie hörte, manipuliert waren oder ob die Wahrheit nur in denjenigen fehlte, über die sie zufällig etwas wusste. (Seite 253)

Unit 8200 ist ein rasanter Thriller an zwei Schauplätzen. In bester Thrillermanier wird immer wieder die Perspektive gewechselt. Die erzählte Zeit beträgt gerade einmal etwa 30 Stunden und – „24“ lässt grüßen – regelmäßig wird die genaue Uhrzeit am Kapitelende genannt. Der Autor erzählt mit einem allwissenden personalen Erzähler leichtgängig und mit feiner Ironie. Alfon ist ein Profi und Insider: Er war selbst Mitglied in der Unit 8200 und anschließend Topjournalist in Israel. Das Charmante an diesem Roman ist, dass Alfon ernste Themen auf Tapet bringt, aber sich und sein Buch nicht zu ernst nimmt. Denn er spielt mit den Erwartungen des Lesers an einen Spionagethriller und liefert immer wieder vereinzelt Zutaten wie schöne Frauen, coole Gadgets, fiese Schurken, übertriebene Tötungsarten und ein gewisses Geplänkel zwischen Abadi und Talmur. Das Ganze wird aber zumeist mit einem Schuss Humor und Ironie serviert. Sehr souverän und absolut lesenswert.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Unit 8200 | Erschienen am 19. Februar 2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 987-3-499-27570-8
480 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe