Monat: September 2018

Richard Stark | The Hunter

Richard Stark | The Hunter

Er wollte nicht, dass Mal wusste, dass er am Leben war. Er wollte nicht, dass Mal Schiss kriegte und abhaute. Er wollte ihn entspannt und zufrieden, wie einen fetten Kater. Er wollte, dass er einfach nur dasaß, grinste und auf Parkers Hände wartete. (Auszug Seite 56)

Parker ist ein Spezialist für Brüche und Raubüberfälle, ein absoluter Profi, der mit wechselnden Partnern zusammenarbeitet. Bei seinem letzten Coup wurde er allerdings von seiner Frau Lynn und seinem Partner Mal Resnick getäuscht. Parker wird niedergeschossen und zurückgelassen in der Annahme, er sei tot. Doch er überlebt, bricht aus dem Gefängnis aus und schlägt sich bis nach New York durch – die Zeit der Abrechnung ist gekommen.

1962 erschien The Hunter und Autor Donald E. Westlake (unter dem Pseudonym Richard Stark) kreierte damit eine der bemerkenswertesten Gangsterfiguren. Parker ist kein smarter Räuber oder ein sonstiger Gangster, mit dem man sympathisieren kann. Im Gegenteil: Parker ist ein knallharter Schuft, ein Profiverbrecher, der auch vor Mord nicht zurückschreckt (dies in der Regel aber vermeidet). Parker ist ein Einzelgänger, der eiskalt seine Pläne durchzieht, ohne Kompromisse und ohne Gewissensbisse. Er ist wortkarg, sucht keinen Anschluss, arbeitet nur bei irgendwelchen Coups mit anderen zusammen. In der Zusammenarbeit verhält er sich dann loyal, wird er allerdings hintergangen (was häufig vorkommt), wird er unbarmherzig.

Das interessante an der Figur Parker ist aber, dass der Autor ihn nicht als Psychopathen beschreibt, sondern Parkers Empathie- und Gnadenlosigkeit irgendwie konsequent in der ihn umgebenden Welt wirkt. Parkers Vorname wird übrigens in der ganzen Serie nie erwähnt, Westlake selbst wird zitiert: „I don’t know what the hell it would be, maybe Frank.“

Anders als in weiteren Romanen beginnt der erste Auftritt von Parker nicht mit einem Coup. Der raffinierte Überfall ist schon erledigt, doch endet für Parker anders als geplant. Der Leser erfährt in Rückblenden von den Einzelheiten. Der Verrat nagt an Parker, er bricht sogar aus der kurzen Haft (wegen Landstreicherei) aus und tötet dabei einen Wärter, um sich auf den Weg machen zu können. Er trifft zunächst auf Lynn, seine Frau, die sich aus Angst und Resignation mit Schlaftabletten umbringt. Dann ist Mal Resnick sein nächstes Ziel, von ihm will er sich nicht nur seinen Anteil holen, diesen Mann will er töten. Doch Resnick gehört zum Syndikat, der mafiösen Verbrecherorganisation. Ein Angriff auf ihn fordert gleichzeitig das Syndikat heraus. Doch Parker ist zu allem entschlossen.

The Hunter ist ein hartgesottener Gangsterroman, der einen radikalen Rachefeldzug beschreibt. Der Plot ist also nicht allzu komplex und die Figuren bleiben zugegeben eher etwas oberflächlich, selbst Parker gibt nicht viel von sich preis. Doch dieser Roman hat einen Sound, dem man sich auch heute noch kaum entziehen kann. Eine stetige, knisternde Spannung liegt in der Luft, der Stil ist knapp und lakonisch, die Dialoge aufs Nötigste beschränkt. Einfach wie aus einem Guss geschrieben, ein wahrlich zeitloser Klassiker.

Richard Stark alias Donald E. Westlake war ein richtiger Vielschreiber, auch unter verschiedenen Pseudonymen. Sehr bekannt sind sicherlich auch seine Romane mit dem Meisterdieb John Archibald Dortmunder. Westlake schrieb insgesamt 24 Parker-Romane. Zunächst 16 zwischen 1962 und 1974. Mehr als zwanzig Jahre später meldete sich Parker 1997 passenderweise mit dem Titel „Comeback“ zurück, weitere sieben Romane folgten bis zum Tod Westlakes 2009. Während die Romane der letzten Phase noch verfügbar sind, sind die anderen Romane schon lange vergriffen. Sie erschienen Ende der 1960er und in den 1970ern überwiegend im Ullstein Verlag in teilweise gekürzter oder veränderter Übersetzung. 2015 erschien dann dieser erste Roman in neuer vollständiger Übersetzung von Nikolaus Stingl im Zsolnay Verlag. Leider war dies nicht der Auftakt zu einer vollständigen Wiederveröffentlichung der Reihe. Aber die Hoffnung bleibt, dass sich vielleicht nochmal einer den älteren Bände annimmt.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

The Hunter | Erstmals erschienen 1962
Die aktuelle Taschenbuchausgabe erschien am 20. Juli 2018 bei dtv
ISBN 978-3-
192 Seiten | 9.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Corinna Kastner | Fischland-Angst

Corinna Kastner | Fischland-Angst

„Obwohl das heiße Wasser auf Kassandra herab prasselte, wurde ihr nicht richtig warm. Sie dachte an Pauls ungewöhnlich ernste Worte – und an Brunos Warnung, dass sie beide auf sich aufpassen sollten, weil dieser Fall anders sei. Das stimmte. Vor allem fühlte es sich anders an, bedrohlicher.“ (Auszug Seite 188)

Greta, die Frau von Matthias Röwer, wurde entführt und die Entführer verlangen eine Geldübergabe per Sprachnachricht auf einer Kassette. Da Matthias keine Polizei einschalten soll, beginnen Kassandra und Paul zu ermitteln. Können sie Greta retten?

Kassandra betreibt eine Pension in Wustrow, ihr Freund Paul ist Schriftsteller und derjenige, der wohl am meisten über die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst weiß. Beide haben sich in früheren Fällen schon als gutes Ermittlerteam behauptet. Außerdem helfen ihnen Kay Diettrich und sein Team aus Stralsund bei den Ermittlungen.

Zwei Reihen treffen aufeinander

Fischland-Angst von Corinna Kastner ist der fünfte Fall um Kassandra und Paul. Die Autorin hat zudem den Krimi Bodden-Tod um Greta und Matthias geschrieben und hier treffen nun alle Figuren aus beiden Reihen zusammen. Mir hat das sehr gut gefallen. Gerade den Roman um Greta und Matthias mochte ich besonders und ich habe mich gefreut, sie hier wiederzutreffen. Aufgrund der Entführung kam Greta allerdings für meinen Geschmack zu wenig zu Wort.

Viele Überlegungen und Mutmaßungen

Nachdem die Entführung bekannt wurde, stürzen sich Kassandra und Paul gleich in die Befragungen. Durch das Team in Stralsund sind ihnen auch Personenabfragen und Handydaten-Analysen möglich. Die gesamte Handlung besteht hauptsächlich aus typischen Ermittlungen. Es werden viele Thesen und Mutmaßungen beschrieben, die nicht gleich immer stimmen, dadurch ist es glaubwürdig. Allerdings liest es sich meiner Meinung nach durch die ganzen Überlegungen nicht ganz so einfach, wie man es vielleicht von einem Urlaubskrimi erwartet. Ich musste mich schon konzentrieren, um alle Zusammenhänge mitzubekommen. Außerdem finden, wie auch in den anderen Krimis der Protagonisten, viele Personen Gehör. Ich kannte die meisten schon, dadurch bin ich hier ganz gut mitgekommen.

Gleichbleibende Spannung ab der Mitte

Ab der Mitte der Geschichte wird es spannend, da hier nun ein wirklicher roter Faden verfolgt wird. Die Spannung bleibt gleichbleibend bis zum Schluss erhalten. Die Auflösung der Entführungsgeschichte finde ich dann wiederum etwas abstrus.

Die Protagonisten Kassandra und Paul sind mir sehr sympathisch. Beide wirken „echt“, zudem sind sie mutig und gehen Risiken ein, ohne dabei waghalsig zu sein. Die Landschafts- und Wetterbeschreibungen sind sehr gut gelungen, ich kann mich in die jeweilige Stimmung hineinversetzen und sehe beim Lesen alles genau vor mir. An der Ostsee ist eben nicht nur heiter Sonnenschein, schon gar nicht im Oktober und das wurde trefflich wiedergespiegelt.

Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Fischland-Angst | Erschienen am 26. Juli 2018 bei Emons
ISBN 978-3-7408-0392-6
416 Seiten | 12.90 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Fischland-Verrat und Bodden-Tod von Corinna Kastner, rezensiert von Andrea

Hannah O’Brien | Irisches Erbe Bd. 4

Hannah O’Brien | Irisches Erbe Bd. 4

Irisches Erbe ist der vierte Fall für das Ermittlerteam um Grace O’Malley und spielt im County Galway in der Republik Irland. Grace O’Malley und ihr Kollege Rory Coyne von der Mordkommission in Galway müssen ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit wegen mehrerer Morde, verübt in zwei Kirchen des County, ermitteln. Die Opfer waren jeweils Gemeindehelferinnen, aufgefunden wurden die Mordopfer merkwürdigerweise immer von demselben Priester, Father Duffy. Aufgrund der Umstände (beide Morde im Abstand von je einer Woche an einem Adventwochenende, beide mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen) liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte.

Grace erfährt im Gespräch mit der Gemeindesekretärin, Mary O’Shea, dass Father Duffy für insgesamt drei der Gemeinden im Westen des County Galway zuständig ist, in der Gemeinde Maycullen, in der der zweite Mord verübt wurde, ist er kurzfristig als Ersatz für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Somit ist Father Duffy höchst verdächtig und Grace sieht sich unter Zugzwang (vier Gemeinden, vier Adventwochenenden, bereits zwei Morde).
Allerdings könnte es sich auch um einen Racheakt gegen Father Duffy handeln, indem man ihn als Täter darstellt. Wie sich bei den Befragungen herausstellt, war dieser in den 90er Jahren, als es in Nordirland noch Kämpfe zwischen der (katholischen) IRA und der (protestantischen) UDA gab, in Belfast eingesetzt.

Grace hatte die Beine übereinandergeschlagen und studierte sein Gesicht. „Father Duffy, ich möchte zunächst mit Ihnen über ein Ereignis sprechen, das schon sehr lange zurückliegt und scheinbar nichts mit unseren Fällen hier zu tun hat.“ Duffys Gesichtsausdruck wirkte ratlos. Er sagte jedoch keinen Ton. “Sie waren in den Neunzigerjahren Priester in der Falls Road in Belfast. Ist das richtig?“ Duffys Augen waren vor Schreck geweitet. Er nickte heftig. „Soweit wir wissen, begegneten Sie eines Nachts in Ihrer Kirche einem schwerverletzten militanten Unionisten, dem Sie zu Hilfe kamen.“ (Seite 295)

Tatsächlich führen die Ermittlungen Grace und Rory zurück in die Vergangenheit; sie erfahren allerdings auch von Begebenheiten, die man in einem kirchlichen Umfeld nicht unbedingt erwartet, vor allem nicht in der heutigen Zeit:

Father McLeish räusperte sich schließlich. „Nun, die Kirche hat durch das Fehlverhalten Einzelner – und ich betone Einzelner – bedauerlicherweise an Glaubwürdigkeit verloren. Und durch das Fehlverhalten vieler – und ich betone vieler – Priester heutzutage, die bereit sind, Homosexualität und andere unnatürliche Verfehlungen in ihrer Mitte zu dulden und nicht konsequent auszumerzen, wie Scheidung oder das sogenannte Recht auf Abtreibung, hat sie noch viel mehr an Boden verloren, was den Glauben und die Glaubwürdigkeit der einzigen Kirche Gottes und seines Sohnes betrifft. Es musste etwas geschehen.“ (Seite 409)

Die Autorin Hannah O’Brien hat in ihrem Roman die Lebensläufe mehrerer Protagonisten zu einer spannenden Handlung verknüpft. Bis zur Auflösung ist man als Leser hin- und hergerissen zwischen „..ich glaube, ich weiß wer’s war“ und „….kann aber eigentlich doch nicht sein“. Wie sich herausstellt, sind die Motive für die Morde andere als zunächst vermutet  und witzigerweise wird einer der Morde durch einen Handy-Klingelton bewiesen.

Was mich an dem Buch auch beeindruckt hat, ist die Einbindung der irischen Vergangenheit, die auch von der Autorin erläutert wird, sowohl in der Handlung als auch im anschließenden Glossar, man spürt die Verbundenheit der Autorin mit ihrer Wahlheimat. Sozusagen als „Bonbon“ gibt es noch die ausführliche Vorstellung der Protagonisten und eine Landkarte, auf der die im Buch genannten Orte zu finden sind.

Fazit: Eine Handlung zwischen irischer Vergangenheit (nicht nur der politischen, sondern auch der kirchlichen) und Gegenwart, spannend bis zum Schluss!

Hannah O’Brien ist ein Pseudonym von Hannelore Hippe-Davies, geboren 1951 in Frankfurt am Main. Sie lebte lange in ihrer Wahlheimat Connemara und fühlt sich dort bis heute zu Hause. Sie arbeitet seit 1985 als freie Journalistin, vorwiegend für die Rundfunkanstalten der ARD und schrieb zahlreiche Features und Hörspiele bzw. -dokumentationen sowie Romane, allerdings nicht nur Kriminalromane, sondern auch „kulinarische Entdeckungsreisen“. Ab 2015 schrieb sie dann unter dem Pseudonym über die Ermittlerin Grace O’Malley.

 

Rezension und Foto von Monika Röhrig.

Irisches Erbe | Erschienen am 9. März 2018 bei dtv
ISBN 978-3-423-21720-0
432 Seiten | 9.95 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Giorgio Scerbanenco | Das Mädchen aus Mailand

Giorgio Scerbanenco | Das Mädchen aus Mailand

Er ging ohne zu antworten. Sie hatten ja recht, aber sie verstanden ihn nicht. Sie mussten das Gesetz befolgen, und manchmal ist das Gesetz merkwürdig, es begünstigt den Verbrecher und bindet dem Ehrlichen die Hände. (Auszug Seite 170)

Der ehemalige Arzt Duca Lamberti erhält nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis einen Auftrag, Davide, den Sohn eines Industriellen, von dessen Alkoholsucht zu kurieren. Nach kurzer Zeit offenbart Davide den Grund seiner Alkoholsucht und Depression: Er fühlt sich schuldig am Selbstmord der Verkäuferin Alberta vor knapp einem Jahr. Doch Alberta hat Davide einen Gegenstand hinterlassen, der Lamberti stutzig macht und an einem Selbstmord zweifeln lässt.

Damals hatte Davide die junge Frau in Mailand aufgegabelt, um gegen Bezahlung mit ihr einen Abend zu verbringen und war mit ihr aus der Stadt gefahren. Doch auf der Rückfahrt fühlt sich Davide plötzlich von ihr bedrängt, als sie ihn beschwört, mit ihr wegzufahren und nicht nach Mailand zurückzukehren. In einem Vorort wirft er sie quasi aus dem Wagen, dort wird sie wenig später mit aufgeschnittenen Pulsadern aufgefunden. Doch sie hatte etwas in Davides Wagen verloren: Ein Taschentuch und einen kleinen metallenen Gegenstand, den erst Lamberti als Film einer Minox-Kamera identifiziert. Auf dem Film sind Nacktfotos von Alberta und einem weiteren Mädchen. Ein Indiz für einen womöglich anderen Ablauf als einen Selbstmord?

Es ist doch immer wieder bemerkenswert, wie groß die weißen Flecken in meiner Krimibibliothek sind. Gerade was die Klassiker betrifft, muss ich immer wieder eingestehen, dass ich vielleicht den Namen des Buches oder des Autors oder der Autorin kenne, aber es noch nicht gelesen habe. Von Giorgio Scerbanenco hatte ich sogar noch gar nichts gehört. Eigentlich ein Frevel, ist doch nach ihm der „Premio Giorgio Scerbanenco“, der wichtigste italienische Krimipreis benannt.

Der Autor kam 1911 als Sohn einer Italienerin und eines Ukrainers in Kiew zu Welt. Nachdem sein Vater während der Russischen Revolution ums Leben kommt, zieht er mit seiner Mutter endgültig nach Italien. Nach vielen Gelegenheitsjobs erhält er schließlich einen Job in einem Mailänder Verlagshaus. Auch erste Erzählungen von ihm werden abgedruckt. Nach dem 2.Weltkrieg beginnt seine produktivste Zeit, er schrieb zahlreiche Romane in verschiedenen Genres, hunderte Erzählungen und war Redakteur bei Frauenzeitschriften. Dennoch gilt er als „Vater des italienischen Krimis“. Den Grund erläutert Richter und Autor Giancarlo de Cataldo (unter anderem „Romanzo Criminale“, Suburra“) im interessanten Nachwort. Mitte der 1960er Jahre war der italienische Kriminalroman auf dem absoluten Tiefpunkt, galt als minderwertig. Es wurden nahezu ausschließlich ausländische Krimis verlegt, sogar in Krimis wie der Reihe um das „87. Polizeirevier“ von Ed McBain wurden italoamerikanische Namen verändert. Dann wurde 1966 mit Das Mädchen aus Mailand der erste Roman um Duca Lamberti veröffntlicht und ein großer Erfolg in allen Leserschichten. Dies gilt als Wendepunkt für den italienischen Krimi. Vier Romane um Duca Lamberti veröffentlichte Scerbanenco bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1969.

Im Gefängnis hatte er gelernt, keine Worte zu verschwenden. Im Prozess, als die Nichte von Signora Maldrigati weinte und jammerte, dass ihre Tante umgebracht worden sei, aber mit keinem Wort die Millionen erwähnte, die sie von ebendieser Tante geerbt hatte, wollte er reden, doch sein Verteidiger hatte ihm fast mit Tränen in den Augen zugeflüstert, er solle bloß nichts sagen, nicht ein einziges Wort, denn sonst hätte er die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit ist der Tod; alles darf man sagen, bloß nicht die Wahrheit. Nicht vor Gericht. Nicht in einem Prozess. Und auch nicht im Leben. (Seite 9)

Auf diese Weise führt der Autor den ehemaligen Arzt Duca Lamberti als seinen Protagonisten ein. Lamberti ist ein desillusionierter Mann, der wegen Mordes im Gefängnis saß und seine Approbation verlor, dabei handelte es sich mehr oder weniger um Sterbehilfe. Nun ist seine Karriere ruiniert, aber er hat Verpflichtungen, denn es gilt, seine Schwester und seine kleine Nichte finanziell über Wasser zu halten. Sein Vater war einfacher Polizist, dadurch hat er Kontakte zur Polizei und ein freundschaftliches Verhältnis zu Inspektor Carrua, der ihm Aufträge vermittelt.

Lamberti ist ein einsamer, ruppiger Kerl, der angesichts von Ungerechtigkeit und Verbrechen Sarkasmus, Zorn und einen Drang entwickelt, die Verhältnisse zu bekämpfen. Er wird zu einem Mann, der das Recht zur Not selbst in die Hand nimmt. Lamberti ist also bei weitem kein weißer Ritter, sondern ein Mann im Graubereich, an dem man sich durchaus reiben kann und soll. Im Laufe des Romans lernt er Livia Ussaro kennen, auch sie eine engagierte Frau, die seine Überzeugungen teilt und sich sogar dafür (und für ihn) in Gefahr begibt und dafür einen hohen Preis bezahlt.

Das Mädchen aus Mailand ist ein Kriminalroman, bei dem man sein Erscheinungsdatum nur teilweise bemerkt. Denn die Themen des Romans (Ausbeutung, Frauenhandel) sind immer noch ziemlich aktuell. Auch das Bild von Mailand als kapitalistische Metropole mit all seinen Kehrseiten dürfte sich nicht wesentlich verändert haben. Der große Reiz des Romans liegt wie oben beschrieben an seiner widersprüchlichen Hauptfigur, die aneckt. Interessant ist die Erzählweise Scerbanencos, der einen auktorialen Erzähler mit einem personalen Erzähler mischt. Der Plot hätte zu Beginn für meinen Geschmack etwas mehr Tempo vertragen, aber insgesamt ist dieses Buch ein wirklich lesenswerter Kriminalroman.

 

Rezension und Foto Gunnar Wolters.

Das Mädchen aus Mailand | Erstveröffentlichung 1966
Die aktuelle Ausgabe erschien am 10. Juli 2018 im Folio Verlag
ISBN 987-3-85256-754-9
256 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Thomas Chatwin | Post für den Mörder

Thomas Chatwin | Post für den Mörder

„Auch die zwei breiten Fenster auf der Gartenseite standen unverändert offen. Gestern hatte sie gedacht, dass Sandra McKallan sich vielleicht gerade bei Nachbarn aufhielt. Deshalb hatte sie die Post einfach durch die Tür ins Haus geworfen, da es keinen Briefkasten gab. Heute lag der Regenschirm immer noch so da, die Tür bewegte sich im Wind.“ (Auszug Seite 33)

In dem beschaulichen Küstenstädtchen Fowey findet der Flussmeister Francis Penrose eine Boje, an der eine Leiche hängt. Wenig später entdeckt seine Frau Daphne zwei weitere Tote. Sofort werden die Ermittlungen von der Polizei aufgenommen, doch das Ehepaar Penrose ist sich sicher, dass der zuständige Kommissar nur eine schnelle Aufklärung möchte und es ist ihm egal ist, ob der wahre Mörder gefunden wird. Also begeben sich die beiden selbst auf Ermittlungstour und geraten dabei in Gefahr…

Die beiden „Hauptermittler“

Daphne Penrose ist 52 Jahre alt und arbeitet halbtags als Postbotin in Fowey. Ihr Mann Francis ist 55 Jahre alt. Beide haben eine Tochter, die in London Medizin studiert. Daphne wurde nach der Schriftstellerin Daphne du Maurier benannt und kannte diese sogar persönlich.

Perfekte Urlaubslektüre

Post für den Mörder von Thomas Chatwin hat mir sehr gut gefallen, denn die Geschichte ist ein typischer Kriminalroman in dem es vordergründig um die Ermittlungen geht. Dabei werden blutige Details weggelassen und die beiden Protagonisten agieren beherzt, aber nicht waghalsig und ziehen ihr eigenes Ding durch, ohne sich komplett über die Polizei hinwegzusetzen. Die Recherche von Daphne und Francis fand ich nicht unglaublich fesselnd, aber dennoch anhaltend spannend, so dass es für mich keine Längen gab. Auch als beide in Gefahr geraten, bleibt die Handlung plausibel und wird nicht unnötig dramatisiert. Ich habe dieses Buch als Urlaubsauftakt gelesen und muss sagen, dass es dafür perfekt war.

Daphne du Maurier

Besonders gefallen hat mir die Einbeziehung von Daphne du Maurier. Von der Autorin habe ich bereits einen Roman gelesen, mich aber nicht weiter damit beschäftigt und dieser Krimi hat mich jetzt doch neugierig auf weitere Werke und die Schriftstellerin selbst gemacht.

Eine Reise wert

Zu Beginn eines jeden Kapitels gibt es als Einstimmung ein passendes Zitat aus einem anderen Roman. Außerdem wird die Landschaft und das Leben in Cornwall sehr schön beschrieben. Sehr charmant sind auch die persönlichen Reisetipps des Autors am Ende des Buches. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber Cornwall ist scheinbar wirklich eine Reise wert, so wie sich das Buch liest.

Fazit: Ein wirklich schöner und leichter und dennoch interessanter Krimi, den ich unbedingt empfehlen kann.

Thomas Chatwin wurde 1949 geboren und ist promovierter Literaturwissenschaftler und England-Kenner. Er liebt Cornwall und verbringt jede freie Minute dort. Unter seinem bürgerlichen Namen Claus Beling hat er fast zwei Jahrzehnte als Unterhaltungschef beim ZDF gearbeitet. Außerdem ist er der Erfinder der Rosamunde-Pilcher-Reihe und der Inga-Lindström-Filme. Bisher hat der Autor acht Bücher veröffentlicht, darunter zwei weitere Kriminalromane und Sachbücher.

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Post für den Mörder | Erschienen am 26. Juni 2018 bei Rowohlt
ISBN 978-3-499-27445-9
320 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe