Monat: August 2018

Tom Callaghan | Mörderischer Sommer

Tom Callaghan | Mörderischer Sommer

Ich musste über den Schlamassel nachdenken, in dem ich bis zum Hals steckte. Und darüber, was ich deswegen unternehmen wollte – allein, unsicher und in einer Stadt, die so fremd war, dass sie genauso gut auf einem anderen Planeten hätte liegen können. Ich war in Dubai.“ (Auszug Seite 12)

Akyl Borubaew, ehemaliger kirgisischer Polizeikommissar, wird zum Minister für Staatssicherheit bestellt. Dieser hat einen Auftrag für Akyl: Des Ministers Geliebte ist mit Kontozugangsdaten und Geheimdokumenten nach Dubai verschwunden. Der Minister will, dass Akyl die Frau oder wenigstens den USB-Stick mit den Daten zurück nach Kirgisistan bringt. Und er ist kein Mann, dem man einen solchen Auftrag abschlägt. Doch kaum ist Akyl in den Emiraten eingetroffen, gerät er direkt in größere Schwierigkeiten.

Denn als erstes stößt er auf die Leiche eines Zuhälters und Waffenhehlers. Auch sein Kontaktmann in Dubai ist ihm irgendwie suspekt. Als er schließlich die gesuchte Frau aufstöbert, stellt Akyl fest, dass diese erheblich verschlagener ist als gedacht. Schließlich spielen auch noch tschetschenische Terrororganisationen beim Rennen um die Dokumente mit und auch seine Freundin Saltanat vom usbekischen Geheimdienst taucht auf. Bei aller Verbundenheit kann er aber nur eingeschränkt auf ihre Unterstützung setzen, denn Saltanat hat wie immer ihre eigene Agenda.

Mörderischer Sommer ist der dritte Teil der Reihe um den Kirgisen Akyl Borobaew. Dritte Teile sind ja durchaus immer etwas knifflig. Nach einem starken Auftakt und einer gelungenen Fortsetzung entscheidet sich ja oft im dritten Teil, ob man einer Serie weiterhin erhalten bleibt oder ob der Reiz so langsam abflacht. Blutiger Winter und Tödlicher Frühling konnten mich auf jeden Fall überzeugen. Der Reiz lag zum einen bei den Figuren. Akyl Borubaew, ein eigenwilliger, harter, aber gleichzeitig auch einsamer und melancholischer Mann. In einem Waisenhaus aufgewachsen, hat er später als Polizist seine Bestimmung gefunden. Er hat seine geliebte Frau an den Krebs verloren, ihr sogar aktiv beim Sterben geholfen. Dieser Verlust nagt allerdings sehr an ihm, obwohl eine neue Frau in sein Leben getreten ist. Saltanat Umarowa ist eine eiskalte, gefährliche Agentin des usbekischen Geheimdienstes. Doch irgendwie wurde ein Band zwischen beiden geknüpft, allerdings ein sehr zerbrechliches. Dritte wiederkehrende Hauptperson ist der korrupte, machtbewusste Minister für Staatssicherheit, Michail Tynalijew, der Akyl zu Aufträgen zwingt, ihm immer wieder seine Allmacht vorführt, aber gleichzeitig auch seine Hand über Akyl hält.

Zum anderen war aber ein großes Plus der Reihe das unverbrauchte Setting im zentralasiatischen Kirgisistan. Ein raues Land voll landschaftlicher Schönheit, aber als junger Staat im Schatten Russlands und Chinas immer an der Schwelle (oder darüber hinaus) zur Autokratie, in der sich gesellschaftliche Abgründe auftun. Von diesem Reiz weicht Autor Tom Callaghan leider in diesem dritten Band erheblich ab, in dem er die Handlung nach Dubai verlagert. Die moderne Stadt am persischen Golf kann es als Schauplatz leider überhaupt nicht mit Bischkek und Kirgisistan aufnehmen. Obwohl der Autor sich bemüht, auch ein paar Schattenseiten zu zeigen, bleibt Dubai ein relativ uninteressanter, austauschbarer Schauplatz.

Zudem vermag mich dieses Mal auch der Plot nicht so richtig zu überzeugen. Während in den ersten beiden Bänden Themen wie die dreckige Droge „Krokodil“ oder Kindesmissbrauch den Leser zu fesseln wussten, ist das undurchsichtige Spiel verschiedener Gruppen um Geld und Dokumente in diesem Band nur eher solide. Spätestens wenn Akyl zum Einholen von Informationen zum fünften Mal dieselbe Bar aufsucht, wünscht man sich doch etwas mehr Finesse. So bleibt am Ende das Fazit, dass der dritte Band mich diesmal doch nicht so ganz überzeugen konnte. Allerdings sprechen die interessanten Protagonisten und die Tatsache, dass diese Reihe (anhand der Jahreszeiten erkennbar) auf vier Bände ausgelegt ist, dann doch dafür, auch in den letzten Band hereinzuschauen, um zu sehen, was aus Akyl und Saltanat noch wird.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Mörderischer Sommer | Erschienen am 24. April 2018 im Atlantik Verlag
ISBN 978-3-455-00123-5
333 Seiten | 16.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Noras Rezensionen zu den Krimis Blutiger Winter und Tödlicher Frühling von Tom Callaghan

Uwe Wilhelm | Die 7 Kreise der Hölle

Uwe Wilhelm | Die 7 Kreise der Hölle

„Er wusste, soeben hatte er das vierte Kapitel der sieben Kreise der Hölle beschrieben. Er würde es ausformulieren und aufschreiben. Es sollte den Titel Wut tragen.“ (Auszug Seite 274)

Helena Faber tritt gerade aus der Tür, als sie gerade noch sieht, wie ihre beiden Töchter in einen Transporter einsteigen, der anschließend wegfährt. Sie versucht noch, den Wagen zu stoppen, aber vergeblich. Was hat das zu bedeuten? Warum steigen ihre Kinder in ein fremdes Auto und wo werden sie hingebracht? Helena und ihr Mann Robert setzen sofort alle Hebel in Bewegung, um die Entführung zu verhindern.

Helena Faber wohnt in Berlin, ist Staatsanwältin und ist von ihrem Mann Robert seit vier Jahren getrennt. Robert arbeitet bei der Polizei. Die beiden gemeinsamen Töchter Katharina und Sophie sind dreizehn und elf Jahre alt.

Teil zwei der Trilogie

Die 7 Kreise der Hölle von Uwe Wilhelm ist der zweite Krimi um die Staatsanwältin Helena Faber. Im ersten Buch, Die 7 Farben des Blutes, verfolgt sie einen Serienmörder. Diese Geschichte baut stark auf den ersten Teil auf. Ich habe mit dem zweiten Fall begonnen und fand es schwer, die gesamten Vorgänge aus dem ersten zu erfassen, die für das Verständnis der Entführung notwendig gewesen wäre. Meiner Meinung nach wurde die Vorgeschichte hier nicht ausreichend beleuchtet und nur häppchenweise zur Verfügung gestellt, sodass ich empfehle, mit dem Anfang der Serie zu beginnen.

Pädophilie in Istanbul

Die Spur der Mädchen führt Helena und Robert in die Türkei. Hier geht es um Kindesmissbrauch und Kinderhandel. Die Details dazu kamen mir gut recherchiert vor, aber sie werden auch genauso unbarmherzig beschrieben, wie sie sind. Außerdem geht es viel um Korruption und dass dieser Ring, deren Mitglieder sich als Kunsthändler und Kunstkenner ausgeben, überall seine Kontakte hat und Helena und Robert selbst ihren engsten Kollegen bei der Polizei nicht mehr trauen können. Für meinen Geschmack ist mir die Geschichte zu politisch.

Ein konstanter Spannungsbogen

Der Thriller ist in vier Abschnitte unterteilt und die kurz gehaltenen Kapitel in Tage gegliedert. Der Text liest sich grundsätzlich flüssig, mich haben aber die türkischen Passagen gestört. Diese sind zum Glück übersetzt worden und ich habe diese Zeilen dann überflogen und habe gleich die Übersetzung gelesen. Der Autor arbeitet mit vielen kurzen Sätzen und dieser Schreibstil hat mich an Bernhard Aichner erinnert. Das mochte ich, denn dadurch wird die Geschichte rasanter. Der Spannungsbogen ist über viele Seiten präsent, denn immer wenn die Protagonisten das Gefühl haben, sie sind nur noch eine Handbreit von ihren Kindern entfernt, passiert etwas, so dass die beiden doch nicht gerettet werden können. Als Helena dann auch noch in Gefahr gerät und ebenfalls gerettet werden muss, wurde es mir ein bisschen zu dramatisch.

Abgebrochen

Ich habe mich entschieden, die letzten einhundert Seiten nicht mehr zu lesen, da das Buch im Großen und Ganzen nicht meinem Geschmack entspricht. Ich lese nicht gern politische Romane und leider war das Thema so nicht auf dem Klappentext erkennbar. Zudem bin ich mit Helena nicht richtig warm geworden. Sie ist zwar mutig und tut wirklich alles, um ihre Mädchen zu retten, lässt sich aber auch immer wieder mit Männern ein, die ihr am Ende schaden.

Uwe Wilhelm wurde 1957 in Hanau geboren, hat Germanistik und Schauspiel studiert und anschließend Drehbücher (unter anderem Polizeiruf und Tatort), Theaterstücke und Sachbücher geschrieben. Nach einem Schicksalsschlag ist der Autor mehrere Monate durch die Welt gereist und hat begonnen Romane zu schreiben. Mit Helena Faber hat er seine erste Trilogie begonnen. Auf der Homepage des Autors gibt es einen Videoblog der Protagonistin zu ihrem ersten Fall, der auf jeden Fall einen Besuch wert ist und den ich sehr gut finde.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Die 7 Kreise der Hölle | Erschienen am 21. Mai 2018 bei Blanvalet
ISBN 978-3-734-10345-2
480 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Viktor Glass | Schüssler und die verschwundenen Mädchen

Viktor Glass | Schüssler und die verschwundenen Mädchen

Ein zeitgeschichtlicher Kriminalroman

In seinem ersten Kriminalroman präsentiert uns Viktor Glass ein außergewöhnliches Ermittlerteam: Der Privat- oder „Geheim“-Polizist Ludwig Schüssler und das Dienstmädchen Caroline Geiger geraten aneinander und versuchen in der Folge gemeinsam, das Rätsel um mehrere verschwundene Frauen zu lösen.

Im Jahr 1890 hat die Industrialisierung einen Höhepunkt erreicht, in Augsburg, einem Zentrum der Textilindustrie, rüsten immer mehr Fabriken auf Kardier- und Spinnmaschinen um, setzen automatische Webstühle, Bleich- und Färbemaschinen ein um teure Handarbeit zu ersetzen. Ganze Berufszweige sterben aus, und bei den begüterten Schichten halten ebenfalls die ersten modernen Geräte und Maschinen Einzug: Staubsauger, automatische Waschkessel und anderes machen Haushaltshilfen überflüssig. Für die entlassenen Dienstmädchen bedeutet das Not, Armut und Verzweiflung und viele treibt es in den Selbstmord.

Eines dieser bedauernswerten Geschöpfe lernen wir im Prolog des Buches kennen, als das Mädchen sich in die Hochwasser führende Wertach stürzen will. Aber ein Kunstmaler entdeckt die junge Frau, er überredet sie, sich gegen Bezahlung von ihm porträtieren zu lassen und rettet so ihr Leben. Wirklich?

Schon das erste der 26 Kapitel von angenehmer Länge bereitet den Leser vor auf die Atmosphäre des Romans, der das Leben in der Stadt an Lech und Wertach, an der Grenze von Altbayern und Schwaben in einer Zeit des Wandels nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges schildert.

Wir lernen Ludwig Schüssler kennen, der seinem täglichen Ritual frönt, dem abendlichen Besuch im „Lahmen Hasen“, wo er sein Bier trinkt, die Tageszeitung studiert und sich eine Virginia gönnt. An diesem Abend wird Schüssler von einem Cheveauxleger angesprochen (ja, im Laufe der Geschichte lernen wir noch einige Begriffe kennen, die längst nicht mehr in Gebrauch sind), einem Angehörigen des königlichen Kavallerieregiments, Augustin Hipp. Er vermisst seine Verlobte Luise Habenicht, ein Hausmädchen, das verschwunden ist und sich seit Tagen nicht gemeldet hat.

Widerstrebend willigt Schüssler ein, sich einmal umzuhören, soweit seine alltäglichen Aufträge ihm die Zeit lassen. Diese Aufträge bekommt er von den Prinzipalen der Kaufläden und Warenhäuser in denen Diebstähle begangen werden, dort arbeitet er als Ladendetektiv. Sein aktueller Fall führt ihn ins Textilhaus Ganghofer, wo er eine verdächtige Frau in der üblichen Dienstbotenkleidung beobachtet. Die bemerkt ihn allerdings und weist den überrumpelten Schüssler in einem Ton zurecht, der ihr als Dienstmädchen nicht zusteht. Wir befinden uns schließlich in einer Zeit, in der Standesdünkel üblich ist und Frauenfeindlichkeit alltäglich, wie einige erschreckende Beispiele noch zeigen werden. Schüssler imponiert die resolute und unerschrocken Frau, mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, die wahren Diebe zu überführen. Die beiden verabreden, künftig bei passender Gelegenheit erneut zusammenzuarbeiten.

Caroline Geiger, so heißt die Frau, ist relativ unabhängig, verantwortlich nur für fünf alte Damen, die sich ihrer Obhut anvertraut haben. Ehemalige Lehrerinnen allesamt, die für ihren Orden als Teil des Schuldienstes bis nach China und Afrika missioniert haben. Ihren Lebensabend verbringen sie nun in einem eigens für sie geschaffenen Stift, eine große ehemalige Bürgerwohnung. Caroline führt ihnen als Angestellte des Ordens den Haushalt und bewohnt auch eines der sieben Zimmer. Wenn es die Umstände erlauben, arbeitet sie auch außer Haus und auf eigene Rechnung, zum Beispiel wenn große Wäsche ansteht oder ein Hausmädchen erkrankt ist. Sie ist selbstbewusst und selbstbestimmt, ihr Erspartes gibt ihr Sicherheit, sie hätte im Fall des Falles keinen Mann nötig wie so viele Frauen, die ihre Arbeit in den bürgerlichen Haushalten verloren haben oder in den Fabriken, die jetzt massenhaft entlassen. Die Augsburg-Münchener Abendzeitung ist voll mit Inseraten von Frauen, die eine Anstellung suchen oder einen Mann, gerne auch einen älteren. Eltern versuchen, ihre Töchter zu verheiraten oder doch wenigstens zu verloben, sobald sie zwölf , dreizehn Jahre geworden sind.

Caroline liebt ihre Unabhängigkeit, ebenso wie Schüssler, der zwar eine dreijährige Ausbildung in der Polizei- und Gendarmerieschule Fürstenfeldbruck absolviert hat, sich dann aber selbstständig machte, mit einigem Erfolg. Die Polizei verfolgt seine Aktivitäten mit Argwohn, aber in der Bevölkerung hat er sich bereits einen guten Ruf erarbeitet, vor allem, seit er ein kleines Mädchen aufspürte, das ihrem Hausmädchen Anna Valentin auf einem Markt ausriss und als vermisst galt. Schüssler fand die Kleine, die sich in einem Keller versteckt hatte. Anna aber wurde entlassen und ist seither verschwunden, das Schicksal der Luise Habenicht offenbar kein Einzelfall. Schüssler will gemeinsam mit Caroline herausfinden, was den Mädchen widerfahren ist, die zufällig aus dem gleichen kleinen Dorf stammen: sind sie auf der Suche nach Arbeit abgewandert, vielleicht zurückgekehrt in ihr Elternhaus, oder sind sie wie so viele ins Wasser gegangen?

Schüssler wird Zeuge, wie sich eine verzweifelte Hausangestellte vor ein Pferdefuhrwerk stürzt, ein Passant hatte vergeblich versucht, das Mädchen zurückzuhalten. Es ist der Stadtbekannte Maler Eginald „Egi“ Berwanger, der hier gerade eine Ausstellung hat: Dort zeigt er „antike Göttinnen“, die, wie Caroline bei näherer Betrachtung feststellt, allesamt junge Mädchen aus Augsburg zum Vorbild haben, vom Künstler unschicklicherweise nackt abgebildet. Diese Modelle können sich fortan in der Stadt nicht mehr sehen lassen, was hat sie dazu bewogen, sich Berwanger so zu präsentieren? Der Maler räumt ein, die jungen Frauen gezielt auf der Straße anzusprechen und mit der Aussicht auf ein großzügiges Honorar in sein Atelier zu locken. Caroline glaubt, dass er sie dort auf irgend eine Art gefügig macht und wahrscheinlich nicht nur porträtiert. Und sie erfährt, nachdem sie sich angeblich als Modell zur Verfügung stellen will, dass Berwanger die Mädchen fotografiert, um dann nach dieser Vorlage seine Kunstwerke zu erschaffen. Was geschieht danach mit ihnen, und was macht der Künstler mit den Fotografien?

In den Brauhäusern der Stadt treibt sich ein Kartenverkäufer um, Hugo Halblaib, ein kleiner Betrüger und gerissener Geschäftemacher, der Touristen Ansichtskarten mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt aufschwatzt, aber nicht nur: Unter der Hand offeriert er seine „speziellen“ Karten, Aktbilder, die vor allem bei Herren aus England reißend Absatz finden. Ja, zu jener Zeit tauchen die ersten Reisegruppen von der Insel auf, organisiertes Sightseeing durch den umtriebigen Pfarrer Thomas Cook. Diese merkwürdigen Touristen beschreibt Glass auf höchst amüsante Art, wie überhaupt seine Art, für unsere heutigen Begriffe eher ungewöhnliche Figuren zu zeichnen, manchmal ausführlich, mitunter eher knapp, aber immer sehr prägnant und präzise, wie etwa den „Mist-Opa“, der auf seinem Bollerwagen Pferdeäpfel von der Straße sammelt und als Dünger verkauft, oder den „Hackepeter“, einen üblen Kerl, der ab und zu in Augsburg auftaucht.

Solche Milieustudien sind ein Vergnügen und ein Gewinn für den Roman. Der ist trotz mancher dem Thema geschuldeten antiquierten Vokabel oder Redewendung modern geschrieben ist, mit Tempo und Witz, und er hat eine absolut spannende Krimihandlung. Erfreulicherweise stellt Glass diesen Plot in den Mittelpunkt seiner Erzählung und überfrachtet sie nicht mit zu vielen historischen Fakten, dennoch gelingt es ihm jederzeit, die besondere Atmosphäre der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende aufleben und erleben zu lassen. Exemplarisch seien hier die packende Schilderung des Arbeitsalltags in einer Dampfwäscherei genannt oder die aufschlussreichen Bemerkungen zu damals herrschenden Zuständen in den Irrenhäusern.

Die beiden Hauptdarsteller sind ein wenig aus dieser Zeit gefallen, man könnte sie sich gut in unserem Umfeld vorstellen, wie sie Jagd auf die Hintermänner illegaler Bordelle macht, in denen junge Frauen aus Osteuropa, mit falschen Versprechungen angelockt und in die Zwangsprostitution getrieben, ihren Peinigern schutz- und wehrlos ausgeliefert sind. Haben die verschwundenen Mädchen in Augsburg ein ähnliches Schicksal erlitten? Ludwig und Caroline machen sich auf den Weg nach Anhausen, um die Spur der Dienstmädchen Luise und Anna zu verfolgen.

Das Kapitel legt eindrücklich Zeugnis davon ab, wie beschwerlich damals selbst eine relativ kurze Reise war und schildert in nachempfindbaren Bildern das elende Leben der verarmten Landbevölkerung. Die beiden Ermittler finden Anna, schwer an der „Englischen Krankheit“ leidend im Haus ihrer Mutter und erfahren erschütternde Einzelheiten über die erbarmungswürdige Leidensgeschichte der verschwundenen Dienstmädchen und einen skrupellosen Verbrecherring. Als sie kurz darauf das schreckliche Geheimnis endgültig lüften können, zeigt sich, dass alles noch viel schlimmer ist als sie es sich vorstellen konnten.

Dieser erste Auftritt des interessanten und sympathischen Ermittlerpaars bietet solide Krimikost, spannende, gute Unterhaltung die leicht zu lesen ist, mit einem klug konstruierten Plot um den herum ein aufschlussreiches Stück Zeitgeschichte gestrickt ist, ebenso angenehm zu lesen, dabei gleichermaßen informativ wie unterhaltsam. Davon gerne mehr!

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Schüssler und die verschwundenen Mädchen | Erschienen am im Pendragon Verlag
ISBN 978-3-86532-609-6
296 Seiten | 13.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Roland Spranger | Tiefenscharf

Roland Spranger | Tiefenscharf

Vor knapp fünf Jahren hätte ich mit dem Begriff „polar“ in Verbindung mit Kriminalliteratur noch nichts anfangen können. Doch dann gab es diesen frisch gegründeten Verlag, der sich schon im Namen auf den französischen Kriminalroman in Hardboiled- und Noir-Tradition berief. Der Polar Verlag begann sein Programm mit Übersetzungen außergewöhnlicher amerikanischer, französischer und irischer Autoren. Doch insgeheim war Verleger Wolfgang Franßen immer darauf aus, die Tradition eines „Deutschen Polar“ zu begründen. In 2017 wäre dies beinahe schief gegangen, doch ein Investor rettete den Verlag und damit das Projekt. Nun wurde im Frühjahr mit Roland Sprangers „Tiefenscharf“ der erste Roman des „Deutschen Polar“ veröffentlicht und im Vorwort macht Franßen deutlich, wohin die Reise gehen soll: „Kein popcorngerechtes Gangstertum, zum Konsum angerichtet.“ Vielmehr sollen die Sinne geschärft werden. Er fasst das Credo in zwei Sätzen zusammen: „Wir amüsieren uns nicht zu Tode. Wir rebellieren.“ Nun denn.

Oberfranken, Grenze zu Tschechien. Früher nannte man das hier Zonenrandgebiet. Ein Begriff, der den Zustand eigentlich auch heute noch treffend beschreibt. Zwar wurde hier und da einiges aufgehübscht: Ehemalige Schuhfabriken, umgebaut zu Lofts und Appartements, in denen Youtuberinnen hausen, renaturierte Schmutzbäche. Allerdings geht es ansonsten durchaus noch prekär zu. Komplizierte Beziehungen, schwierige Arbeitsverhältnisse. Neo-Nazis, Russencliquen. Brennende Autos, brennende Flüchtlingsheime. Bonjour Tristesse. Und immer im Hintergrund: Crystal Meth, der neue Treibstoff fürs Leben. Voller Einsatz, keine Müdigkeit, keine Kompromisse.

Im Fernseher laufen dauernd Werbefilme der Industrie, die darüber aufklären, wie super Chemie ist. Inspired by your visions. Science for a better life. Und so ist es. Methamphetamin verbessert seit hundert Jahren in der kristallinen Version dein Leben. Haut die Müdigkeit mit einem Schlag kaputt. Macht dich effizienter. Risikobereiter. Bei der Arbeit. Beim Spaß. Beim Alltag. Beim Sex. (Seite 37)

In Tiefenscharf kreuzen sich die Wege von Max, Meth-Vertriebschef auf deutscher Seite, und Sascha, Videoreporter eines Regionalsenders. Max hat sich ein profitables Vertriebsnetz aufgebaut. Allerdings hat er auch ein paar Neonazis als Freunde bzw. Kompagnons und mit Kira eine komplizierte Freundin (übrigens die interessanteste „Nebenfigur“ dieses Romans), die gerne nachts Autos abfackelt, und so unnötige Aufmerksamkeit erzeugt. Doch es ist Max selbst, der das Geschäft gefährdet: Als er auf der Autobahn kontrolliert wird, entledigt er sich einer Lieferung Meth durchs Seitenfenster. Er kann die Lieferung später jedoch nicht wiederfinden, stattdessen verprügelt und ermordet er schließlich einen Obdachlosen, den er verdächtigt hatte, das Zeug an sich genommen zu haben. Damit ist die Büchse der Pandora geöffnet.

Auf der anderen Seite wird Sascha gerade zum zweiten Mal Vater, seine Beziehung zu Ehefrau Lydia ist allerdings durchaus schwierig. Das liegt unter anderem an Saschas Alkoholkonsum. Dieser wird ihm auch beruflich zum Verhängnis. Er ist mit Leib und Seele Reporter, kann sich aber nicht so verwirklichen, wie er es gern hätte. Als er angetrunken mit dem Dienstwagen einen Unfall baut, ist er seinen Job los. Anschließend versucht er, sich als Freelancer durchzuschlagen. Als er eines Abends einen Nazi vom Parolensprayen bei der örtlichen Flüchtlingsunterkunft abhalten will, wird er von diesem böse verprügelt. Durch Zufall bekommt Sascha heraus, dass der Nazi ein Meth-Dealer aus Max‘ Truppe ist. Fortan will Sascha diese Dealer allein (bzw. mit Hilfe seines Kumpels Carsten) zur Strecke bringen. Ein klarer Fehler, wie der erfahrene Leser schnell erkennt.

Autor Roland Spranger lebt in Hof in Oberfranken. 2011 gewann er für seinen Roman „Kriegsgebiete“ den Friedrich-Glauser-Preis. Seinen Provinz-Noir Tiefenscharf siedelt er in seiner Heimat an und das ist vom Setting auf jeden Fall überzeugend. Dies gilt auch für seinen Stil von wechselnden Perspektiven und griffigen Dialogen sowie den Figuren des Romans, die allesamt auf der Suche scheinen und dabei nicht wirklich vorankommen. Müsste ich etwas kritisieren, dann am ehesten die Handlung, bei der manche Szenen für mich vielleicht etwas vorhersehbar waren. Doch alles zusammen genommen gelingen Autor und Verleger ein guter Auftakt für den „Deutschen Polar“. Man darf gespannt sein, was da noch nachkommt.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Tiefenscharf | Erschienen am 1. Februar 2018 im Polar Verlag
ISBN 978-3-945133-59-0
368 Seiten | 18.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

A. J. Finn | The Woman in the Window ♬

A. J. Finn | The Woman in the Window ♬

Agoraphobie ist die übertriebene Angst, die durch bestimmte Orte oder Situationen, wie das Überqueren eines Marktplatzes ausgelöst wird. Im Extremfall können die Betroffenen die eigene Wohnung nicht mehr verlassen. Tatsächlich ist diese grundlose, unrealistisch starke Furcht die am häufigsten vorkommende Angststörung. Das Wort bildet sich aus dem Altgriechischen: Agora = der Marktplatz und Phobie = die Furcht. Die in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommene Platzangst meint ganz etwas anderes und beschreibt eher das Gegenteil.

Mord am Fenster

Unter dieser Angststörung leidet Anna Fox, die nach einem traumatischen Erlebnis ihr großes Haus in Harlem in New York seit circa zehn Monaten nicht mehr verlassen hat. Sie lebt von ihrer Familie getrennt und ist mit ihrem Mann Ed und Tochter Olivia nur telefonisch in Kontakt. Die Souterrain-Wohnung hat sie an den gutaussehenden David untervermietet, der ihr mit handwerklichem Geschick zur Seite steht. Die ehemalige Kinderpsychologin hat nicht viele soziale Kontakte und verbringt ihre Zeit mit Online-Schach, alten Schwarz-Weiß-Filmen und dem Beobachten ihrer Nachbarn, vorzugsweise durch ihre Nikon. Außerdem chattet sie mit Gleichgesinnten in einem Online-Forum, in dem sie psychologische Ratschläge gibt und mit ihrem Fachwissen zur Verfügung steht. Anna selbst ist in ärztlicher Behandlung und bekommt regelmäßig Besuch von ihrem Psychiater Dr. Fielding und ihrer Physiotherapeutin Bina.

Eines Tages beobachtet sie, wie gegenüber eine neue Familie einzieht. Jane und Alistair Russel mit ihrem schlaksigen Teenagersohn Ethan, die sie auch alle nacheinander kennenlernt. Mutter und Sohn sind ihr sofort sympathisch und das bringt ein bisschen Abwechslung in das Leben der einsamen Frau.

Kurz darauf wird Anna Zeuge, wie ihre Nachbarin Jane überfallen wird und blutend vor dem Fenster zusammen bricht. Sie ruft die Polizei und versucht zu helfen. Als sie sich tatsächlich überwindet, das Haus zu verlassen, bricht sie zusammen und wacht im Krankenhaus wieder auf. Niemand glaubt ihr, da keine Leiche gefunden wird. Und man präsentiert ihr eine Jane Russel, die sie aber nicht kennt. Anna ist auch keine besonders glaubwürdige Zeugin, da sie aufgrund ihrer Erkrankung täglich Unmengen an Psychopharmaka nimmt, die sie mit literweisem Rotwein runterspült. Auch Anna selbst zweifelt und weiß nicht, ob sie sich nicht alles nur eingebildet hat.

Im letzten Drittel des Romans stellt eine überraschende Enthüllung, die ich als pfiffiger Krimileser schon auf dem Plan hatte, noch mal Annas Glaubwürdigkeit total auf den Kopf.

Das Fenster zum Hof

Man denkt natürlich sofort an „Das Fenster zum Hof“, den Hitchcock-Klassiker mit James Stewart von 1954, in dem ein Fotograf wegen eines gebrochenen Beines ans Haus gefesselt ist und aus Langeweile seine Nachbarn beobachtet. Oder die Jüngeren unter uns vielleicht an Disturbia, dem US-amerikanischen Remake von 2007 mit Shia LaBeouf. Auch wenn man zugeben muss, dass es sämtliche Storykomponenten schon mal so oder ähnlich gab, finde ich nicht, dass A. J. Finn hier phantasielos abkupfert. Mit seiner Schilderung von Annas großer Liebe zu den Filmklassikern sehe ich es eher als eine Art Verbeugung. Finn erfindet das Genre nicht neu, er spielt mit den einzelnen bekannten Formen wie der unzuverlässigen Erzählerin, falschen Wahrnehmungen, dem gutmütigen Polizisten und einigen anderen zwielichtigen Figuren.

Mädchen und Frauen kommen ja zur Zeit inflationär in Buchtiteln vor und in dieser Tradition der Girl/Women-Thriller setzt der Autor die Protagonistin Anna perfekt in Szene. A. J. Finn nimmt sich in seinem Debüt viel Zeit, um den Tagesablauf der psychisch Kranken minutiös zu beschreiben. Man schlüpft in Annas Haut, da aus ihrer Perspektive erzählt wird und begleitet sie durch das große Haus. Zum Schluss zieht die Spannungskurve noch mal an und es kommt zu einem dramatischen Showdown mit überraschender Auflösung.

Trotz ausführlicher Darstellungen und detaillierter Beschreibungen hatte ich nie ein Gefühl von Langeweile. Das kann aber auch daran liegen, dass es sich bei dem Hörbuch um eine gekürzte Version handelt, wobei auch der hervorragende Vortrag der Schauspielerin Nina Kunzendorf maßgeblich ihren Anteil hat.

Der Autor A. J. Finn ist tatsächlich ein Mann, womit ich nicht gerechnet hatte. Als der in New York lebende Journalist 2015 erfuhr, dass er an einer bipolaren Störung leidet, fing er mit dem Schreiben an dieser Story an. Er verarbeitet mit seinem Debüt The Woman in the Window seine eigenen Depressionen. Dabei gelingt es ihm sehr glaubwürdig und präzise, die inneren Ängste zu beschreiben. Die Panik vor der Welt außerhalb der eigenen vier Wänden ist jederzeit greifbar und ich konnte sie regelrecht nachempfinden. Er schreibt flüssig, in kurzen Kapiteln und mit trockenen Humoreinschüben.

Ich bin sicher, dass die Verfilmung nicht lange auf sich warten lässt.

 

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

The Woman in the Window | Erschienen am 19. März 2018 bei Random House Audio
ISBN 978-3-8371-4148-1
gekürzte Lesung von Nina Kunzendorf
Laufzeit 9 Stunden 15 Minuten
2 mp3-CDs
Bibliografische Angaben & Hörprobe | Trailer