Monat: Juli 2018

Emily Elgar | Schweige nun still

Emily Elgar | Schweige nun still

Sie hält sich mit beiden Händen am Ende meines Betts fest und sagt ein leises Mantra: „Sie wird dafür bezahlen, sie wird dafür bezahlen.“ Mit geschlossenen Augen schüttelt sie den Kopf. „Niemand hat es gesehen, niemand weiß es. Es war nicht seine Schuld.“ (Auszug Seite 396)

Alice ist Stationsschwester auf der Intensivstation des St. Catherine’s Hospital und in ihrer Obhut sind gerade Frank, der nach einem Schlaganfall am Locked-In-Syndrom leidet, und seit kurzem Cassie, die nach einem Unfall mit Fahrerflucht im Koma liegt. Frank bekommt alles mit, was in seiner Umgebung passiert, kann sich aber nicht mitteilen. Und irgendetwas ist mit Cassies Unfall nicht so, wie alle vermuten. Mit aller Macht muss er versuchen, Alice mitzuteilen, was er über Cassie mit angehört hat…

Hätte ich den Klappentext nicht gekannt und einfach begonnen zu lesen, hätte ich mich wahrscheinlich gefragt, worauf diese Geschichte hinaus läuft. Im ersten Drittel werden vor allem die drei Protagonisten ausführlich vorgestellt, was durchaus interessant ist, aber eben für den Leser nicht beschreibt, worum es eigentlich geht.

Schweige nun still von Emily Elgar wird abwechselnd von Alice und Frank im Jetzt geschildert und von Cassie in der Zeit vor ihrem Unfall. Franks Krankengeschichte wird sehr ausführlich beleuchtet, was ich ziemlich informativ finde und auch emotional. Seine Diagnose empfand ich als beängstigend: Man bekommt alles um sich herum bei klarem Verstand mit, jede Berührung und jedes Wort, kann sich aber nicht bewegen oder sprechen. Besonders ergriffen hat mich, wenn Frank Schmerzen oder Beschwerden hatte und nichts dagegen tun konnte, es einfach nur aushalten.

Alice ist mir sehr sympathisch, denn sie identifiziert sich zu einhundert Prozent mit ihrer Arbeit und nimmt sich Zeit für die Patienten. Frank sieht sie als eine Art Therapeut, dem sie alles anvertraut. Seit einigen Jahren ist sie mit David verheiratet und beide versuchen schon lange Eltern zu werden. Bis jetzt erlitt Alice acht Fehlgeburten, was sie verständlicherweise sehr deprimiert. Auch ihre Erfahrungen fand ich sehr bewegend und habe sie gern gelesen.

Dreiviertel des Buches sind meiner Meinung nach eher typisches Drama und kein Psychothriller. Für einen Psychothriller habe ich mehr Spannung und Nervenkitzel erwartet und keine seichte und emotionale Geschichte. Das, was auf dem Buchrücken angekündigt wird, kommt erst ziemlich zum Schluss, aber auch eher seicht. Das Ende kann nicht überraschen, nicht mal mit einem Happy End, oder nur mit einem kleinen. Die Themen dieses Romans sind gut gewählt und keine, die in vielen Büchern behandelt werden, die Umsetzung liegt aber unter meinen Erwartungen.

Nach ihren Studienjahren in Edinburgh verbrachte die in Südengland geborene und aufgewachsene Emily Elgar mehrere Jahre als Reiseschriftstellerin in Südafrika. Später arbeitete sie von New York und Istanbul aus für eine internationale Nichtregierungsorganisation. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von London, wo sie für eine Wohltätigkeitsorganisation tätig ist, die sich für Frauen in Not einsetzt. Dieses Buch ist der Debütroman der Autorin.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Schweige nun still | Erschienen am 19. Februar 2018 bei Goldmann
ISBN 978-3-442-48686-1
448 Seiten | 10.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Inspector Barnaby | Fan-Favoriten

Inspector Barnaby | Fan-Favoriten

Seit nunmehr 21 Jahren, seit 1997, flimmert Inspector Barnaby in unterschiedlichen Besetzungen über die heimischen Fernsehapparate. Insgesamt wurden 19 Staffeln gedreht und die Serie, die auf den preisgekrönten Romanen der Bestsellerautorin Caroline Graham basiert, ist so populär, dass sie in 204 Länder verkauft wurde, 2004 war sie unter den drei meistverkauften britischen TV-Shows weltweit. Wir sprechen also von einer wirklich sehr erfolgreichen britischen Serie.

Am populärsten dürfte die ursprünglich besetzte Figur des DCI Inspector Tom Barnaby sein, dargestellt von John Nettles, der wohl für immer mit dieser Rolle in Verbindung gebracht werden wird, auch wenn er in Folge 8 der 13. Staffel das Zepter an seinen Filmcousin John Barnaby (Neil Dudgeon) übergeben hat, der nun im fiktiven Causton nach Toms Ruhestand die Fäden in der Hand hält.

Üblicherweise bleiben die Ermittler im idyllischen Midsomer County und Causton; die vielen verschlafenen und doch so pittoresken Dörfer boten noch immer ausreichend Nachbarschaftszwist, Affären, Erbstreitigkeiten und viele weitere – zum Teil absurde – Motive die Mord und Totschlag rechtfertigen. Denn um Mord geht es immer. Und zumindest zu Zeiten Tom Barnabys hatte seine Familie – Frau Joyce und Tochter Cully – eigenartigerweise immer eine Art Bezug zu den Geschehnissen. Es war ein cleverer Zug, John Barnaby als Nachfolger seines Cousins Tom Barnaby in der Serie zu installieren. So konnte der Titel bestehen bleiben und die familiären Elemente der Serie wurden ebenfalls berücksichtigt. Aber trotz des Verwandtschaftsverhältnisses: John agiert anders als Tom. Es sind eben zwei unterschiedliche Charaktere.

Nach bisher 28 DVD-Boxen wurde dieses Jahr eine umfangreichere Box mit Fan-Favoriten herausgegeben. Diese umfasst 10 Episoden der Serie, wobei diese nicht chronologisch und Staffel übergreifend ausgesucht wurden. Die Filme im Einzelnen:

  • Tod in Badger’s Drift (Vol. 1)
  • Treu bin in den Tod (Vol. 9)
  • Der Mistgabel-Mörder (Vol. 2)
  • Glockenschlag zum Mord (Vol. 4)
  • Die Blumen des Bösen (Vol. 15)
  • Tief unter der Erde (Vol. 16)
  • Mord mit Groove (Vol. 8)
  • Köpfen ist auch keine Lösung (Vol. 19)
  • Das Biest muss sterben (Vol. 22)
  • Barnaby muss reisen (Vol. 25)

Mich hat es besonders gefreut, dass die Pilotfolge „Tod in Badger’s Drift“ (Erstausstrahlung in Deutschland erst am 26. Juni 2005 im ZDF) in diese Edition aufgenommen wurde, da sie noch immer meine Lieblingsfolge der Serie ist. Es gab viele gute Folgen, doch diese habe ich am häufigsten gesehen und meines Erachtens spiegelt sie das Böse und die Niedertracht im Menschen – dargestellt durch einen jungen Bestatter und dessen Mutter – besonders gut wider.

Offensichtlich ging es anderen ebenso, denn es ist keine Best-of-Box, sondern es sind gewählte Fan-Favoriten, die in Deutschlands größer Krimi-Community Krimi-Kollegen bestimmt wurden. Sie bietet einen schönen Überblick über die Entwicklung und den Wechsel der Ermittler und ihrer Assistenten. Und da es inzwischen schon 28 DVD-Boxen gibt, kann diese Edition ebenso ein Einstieg sein für zukünftige Fans als auch eine schöne zusätzliche Box für bereits überzeugte Wiederholungstäter.

Die Box enthält ein Booklet mit Infos zu den einzelnen Folgen sowie zwei Kühlschrankmagnete mit den Konterfeis der beiden Ermittler Tom und John Barnaby.

 

Inspector Barnaby Fan-Favoriten | Erschienen am 2. März 2018 bei Edel Germany
ASIN: B0791VZ8X3
10 DVDs | 14.99 Euro
Laufzeit: 952 Minuten
FSK 12
Trailer zur 1. Staffel

Dominique Manotti | Kesseltreiben

Dominique Manotti | Kesseltreiben

Kann das Zufall sein? Just als ich Kesseltreiben, den neuen Roman von Dominique Manotti beendet hatte, las ich folgende Nachrichtenmeldung: „Zu wenig Jobs geschaffen. Frankreich droht US-Konzern mit Geldstrafe“. Mal abgesehen davon, dass der bevorstehende Malus von bis zu 34 Mio. Euro General Electric angesichts eines Gewinns von 8,8 Mrd. Dollar nicht unbedingt beeindrucken wird, kommt mit dieser Meldung eine schon vergessene Unternehmensübernahme und ein windiges Wirtschaftsmanöver wieder in die Schlagzeilen. 2015 hatte General Electric die Energie- und Kraftwerkssparte des französischen Großkonzerns Alstom übernommen, nach anfänglich erheblichem Protest der sozialistischen französischen Regierung. Der Übernahme vorangegangen war unter anderem eine Korruptionsermittlung gegen Alstom in den USA. Zuletzt wurde nachträglich aus den Wikileaks-Dokumenten bekannt, wie stark die NSA in Frankreich Wirtschaftsspionage betrieben hatte – offenbar zugunsten amerikanischer Konzerne. Diese und einige andere Fakten nutzt Manotti, um daraus sehr frei einen eigenen Wirtschaftskrimi zu schreiben. Die Firmen im Roman sind fiktiv, allerdings sind die Parallelen zur Realität an einigen Stellen offensichtlich, an anderen frei erfunden (hofft der nicht vollends abgestumpfte Leser zumindest).

Die Kirsche auf der Torte, Nicolas, wenn Sie während der großen Wirtschaftsmanöver aufseiten der Sieger spielen, können Sie ohne Risiko viel Geld machen: Sie werden gleichzeitig am Steuer und an der Kasse sein.“
„Ich bin nicht sicher, ob ich in der Lage bin, solche Spiele zu spielen“ […]
July erhebt ihre Champagnerschale, sie neigt den Kopf, die Flut ihres schwarzen Haars gleitet zu ihrer Schulter, verleiht ihrem Lächeln Tiefe.
„Seien Sie kein Angsthase, Nicolas, setzen Sie auf Krise“. (Seite 68)

Der Roman beginnt mit einer Festnahme: François Lamblin, ein Manager des französischen Konzerns Orstam, wird am Flughafen JFK in New York vom FBI verhaftet. Vorwurf: Beteiligung an einem Korruptionsgeschäft in Indonesien. Lamblin ist entgeistert, es hatte zwar innerbetrieblich eine Reisewarnung gegeben, doch in der Rechtsabteilung der Firma hatte man seine Zweifel zerstreut. Hat man ihn ins offene Messer laufen lassen? In Frankreich unternimmt die Geschäftsführung von Orstam wenig, informiert nicht einmal die Behörden. Der Geschäftsführer beauftragt den jungen aufstrebenden Nachwuchsmanager Nicolas Barrot, die Geschichte klein zu halten. Die Belegschaft ist verstimmt, über Kontakte erfährt ein Ermittler des Nachrichtendienstes der Pariser Polizeipräfektur von der Sache.

Dort, in der Sektion Wirtschaftliche Sicherheit, bekommt man noch einen zweiten Fall auf den Tisch. Ludovic Castelvieux ist ein Krimineller, der in Montreal mit der Mafia Geldwäsche für die PE-Credit, eine Bank des US-Konzerns Power Energy (PE), betrieben hat. Ihm ist nach zwei Leichenfunden in Kanada der Boden zu heiß geworden. Sein Millionenhonorar wurde allerdings eingefroren, sein Kontaktmann in Paris hält ihn hin. So sucht er Kontakt zur Polizei, um sich als Kronzeuge anzudienen. Ein zweiter Kontakt kommt allerdings nicht zustande. Castelvieux ist spurlos verschwunden. Ermordet? Die Überraschung ist groß, als sich eine Verbindung abzeichnet: Der Kontakt Stevie Buck war Banker auf den Caymans in Diensten der PE und nun sitzt er im Management von Orstam. Was planen die Amerikaner?

Es entwickelt sich ein komplexer, aber durchweg spannender und furioser Wirtschaftskrimi. Auf der einen Seite ein amerikanisches Großunternehmen, das sich die wichtigste Sparte eines französischen Konzerns einverleiben will und alle Register zieht. Justizanklage wegen Korruptionsaffären in der dritten Welt, Industriespionage, Einschüchterung, Erpressung, sogar Mord? Der Chef der Franzosen wird unter Druck auf Linie gebracht und kooperiert. Gegner innerhalb des französischen Konzerns werden systematisch ausgebootet. Unter den französischen Wirtschaftseliten gibt es zudem weitere Unterstützer. Auf der anderen Seite ein dreiköpfiges Team des Inlandsnachrichtendienstes, angesiedelt bei der Pariser Polizei. Die sammeln Beweise, observieren, hören ab, finden nach und nach heraus, worum es in dieser Sache wirklich geht, schreiben Berichte, lancieren Dossiers. Und dringen nach oben nicht durch. Ihre Appelle verhallen ungehört bzw. werden nicht wirklich ernst genommen.

„Wir haben unsere Arbeit gemacht. Wir dürfen stolz sein.“
„Und es interessiert kein Schwein. Wir dürfen verzweifelt sein.“ (Seite 336)

Die Autorin gönnt sich, ihre zwei wiederkehrenden Protagonisten aus vorherigen Büchern in diesem Krimi aufeinandertreffen zu lassen. Hauptfigur ist aber Noria Ghozali. Die zornige Polizeianfängerin in Roter Glamour und gereifte interne Ermittlerin in Einschlägig bekannt ist inzwischen fast 50 und nach einer karrieretechnischen Fehlentscheidung in einer beruflichen Sackgasse angekommen. Als Leiterin eines Drei-Mann-Teams in der Sektion Wirtschaftliche Sicherheit des Nachrichtendienstes. Fachlich ohne echte Ahnung findet sie jedoch direkt den Draht zu ihren beiden jüngeren männlichen Kollegen und sie bilden ein gut zusammenarbeitendes Team. Diese Teamarbeit und Kollegialität wird übrigens sehr betont beschrieben. Noria holt sich außerdem Rat bei Théo Daquin. Der Kommissar aus vier früheren Büchern ist inzwischen aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden und doziert nun als Elder Statesman an der Polizeihochschule. Daquin nimmt aber nur eine Nebenrolle ein.

Dominique Manotti erzählt diesen Roman wie gewohnt schnörkellos, präzise, in schnellen Ortswechseln, Perspektivwechseln und im Präsens. Trotz ihres verknappten Stils bleiben die wichtigsten Figuren aber nicht oberflächlich, sondern stets plausibel in ihren Handlungen. Der Spannungsbogen bleibt konstant hoch, obwohl der Ausgang der Geschichte erahnt wird. Es ist einfach ganz große Kunst, wie Manotti hier das Einmaleins einer feindlichen Übernahme durchspielt. Mit der Erkenntnis, dass es im Grunde nur um drei Dinge geht: Geld, Macht und Sex. Ich bin als bekennender Fan der Autorin möglicherweise voreingenommen, aber Kesseltreiben ist ein restlos überzeugender Kriminalroman.

 

Rezension und Foto von Gunnar Wolters.

Kesseltreiben | Erschienen am 22. Mai 2018 im Argument Verlag
ISBN 978-3-86754-231-9
398 Seiten | 20,- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

Weiterlesen: Gunnars Rezensionen zu Dominique Manottis Romanen AusbruchEinschlägig bekanntSchwarzes Gold und Das schwarze Korps

Simon Beckett | Totenfang ♬

Simon Beckett | Totenfang ♬

„Der menschliche Körper, selbst zu über sechzig Prozent aus Wasser bestehend, ist nicht von sich aus schwimmfähig. Er treibt nur so lange an der Wasseroberfläche, wie Luft in den Lungen vorhanden ist. Sobald sie den Körper verlässt, sinkt er langsam auf den Grund. Wenn das Wasser warm genug ist, um Bakterien Lebensraum zu bieten, verwest er. In den Eingeweiden entstehen Gase, die dem Körper Auftrieb geben, so dass er an die Oberfläche zurückkehrt. Dann erheben sich ganz buchstäblich die Toten.“ (Anfang des Romans)

Im fünften Fall der Reihe um den Anthropologen Dr. David Hunter ist dieser immer noch an einer Londoner Uni angestellt. Der Witwer hat den Verlust seiner Frau und Tochter durch einen Unfalltod einigermaßen überwunden, aber um seine sozialen Kontakte ist es immer noch nicht gut gestellt. Beruflich eine Koryphäe, hat sein Ruf Schaden durch den Fall im letzten Band genommen, so dass er erst mal nicht mehr als Forensiker zu Rate gezogen wird. Deshalb freut er sich, als er einen Anruf von der Ostküste Englands von einem ihm unbekannten Detective bekommt. DI Bob Lundy bittet ihn um Mithilfe bei der Bergung einer Wasserleiche in einem abgelegenen Küstengebiet nördlich der Themsemündung, den sogenannten Backwaters. Überrascht und neugierig macht sich Hunter sofort auf in das von Kanälen und Prielen durchsetzte Mündungsgebiet von Essex, da der den Gezeiten ausgesetzte Körper bei unsachgemäßer Behandlung schnell in Einzelteile auseinanderfallen könnte.

In den Backwaters

Weit draußen im Sumpfgebiet gelingt es mit Hunters Hilfe die auf einer Sandbank angespülte, stark verweste Leiche zu heben. Unter den Schaulustigen, die sich auf dem Gelände einer ehemaligen Austernfischerei eingefunden haben, befindet sich auch Sir Stephen Villiers. Der vermögende, einflussreiche Gutsherr aus der Gegend befürchtet, der Tote könnte sein seit mehreren Wochen verschwundener Sohn Leo sein. Und obwohl Hände und Füße fehlen, wird anhand der Kleidung und der Uhr des Toten schnell vermutet, dass es sich tatsächlich um den vermissten Leo Villiers handelt. Eine Schussverletzung am Kopf deutet auf einen Selbstmord des jungen Lokalpolitikers hin, der aufgrund seines lockeren Lebenswandels auch das schwarze Schaf der Familie war. Eine Obduktion am nächsten Tag, zu der auch Hunter geladen ist, soll genauere Erkenntnisse liefern.

Auf dem Weg zurück verliert Dr. Hunter in dem unübersichtlichen Labyrinth aus Wasserwegen die Orientierung und bleibt mit seinem Fahrzeug in einer Furt stecken. Ein vorbeikommender Autofahrer hilft ihm aus seiner misslichen Lage. Da sein Wagen schweren Schaden genommen hat, kann er in dem Bootshaus seines Retters unterkommen. Trotzdem wirkt Andrew Trask abweisend und verbittert. Er lebt mit seinen beiden Kindern und seiner Schwägerin Rachel in einem einsamen Haus in den Backwaters. Seine Frau Emma, eine Fotografin und Innenarchitektin, wird nach einer lautstarken Auseinandersetzung mit Leo Villiers, mit dem ihr ein Verhältnis nachgesagt wird, auch seit einiger Zeit vermisst. Als Hunter kurz darauf einen Turnschuh mitsamt Fuß aus dem Treibgut im Flussbett angelt, ist er sich ziemlich sicher, dass dieser zu einer anderen Leiche gehört. Am nächsten Tag wird in einem Flussarm, eingewickelt in Stacheldraht, eine zweite Leiche entdeckt, und Dr. Hunter vermutet hier, dass  es sich höchstwahrscheinlich nicht um den gesuchte Villiers handelt.

Die Männergrippe

Simon Beckett punktet auch hier wieder mit seinem sympathischen Protagonisten David Hunter, der einfach ein netter Kerl ist. Der zurückhaltende, schicksalsgebeutelte Mann mittleren Alters ist gesundheitlich angeschlagen und hat sich auf See ziemlich erkältet. Fortan kämpft er mit Fieber und anderen Wehwehchen und denkt gleich an eine schlimme tödlich verlaufende Krankheit. Aufgrund der ständigen Hinweise auf seinen Gesundheitszustand konnte ich mir ein Augenrollen oft nicht verkneifen. Aber zumindest grübelt der schwermütige David nicht ganz so stark wie in anderen Bänden vorher und bändelt sogar mit der attraktiven Rachel an.

Hervorragend sind Becketts atmosphärisch dichten Beschreibungen des rauen Küstenstrichs. Eine unwirtliche Gegend, in der ständiger Regen und Sturmböen, sowie das Auf und Ab der Gezeiten eine bedrohliche, düstere Stimmung erzeugen. Das Marschland wird durch ein Gewirr von Kanälen und Bächen durchzogen, die bei Ebbe leerlaufen und dann Schlick und Schlamm freilegen. Nachdem die Austernfischerei nicht mehr das Leben der Bewohner in dem kleinen Küstenort bestimmt, bildet die menschenleere Einöde einen bedrückenden und deprimierenden Anblick. Die Beschreibungen von Land und Leuten sind einfach stimmig und erzeugen entsprechend passende Bilder.

Der erste bereits 2006 erschienene Band Die Chemie des Todes um Dr. David Hunter hatte mich damals sehr begeistert. Aber bereits bei den nachfolgenden Bänden waren die ersten Abnutzungserscheinungen nicht zu übersehen. Den fünften Teil verfolgte ich als Hörbuch auf meinem Arbeitsweg. Und dabei stört es mich meistens nicht sonderlich, wenn die Geschichte so ein bisschen dahin plätschert. Beckett glänzt in Totenfang nicht mit atemlosen Thrill oder actiongeladener Spannung. Es ist ein solider, spannender Plot mit einigen überraschenden Wendungen, den der britische Autor hier routiniert erzählt, vielleicht etwas behäbig aber immer noch besser als viele andere Autoren.

Seine Geschichten sind natürlich auch immer ein bisschen unappetitlich, obwohl so viele Beschreibungen der forensischen Details in Totenfang gar nicht vorkommen. Allerdings bin ich mit den gefundenen Leichenteilen auch ein wenig durcheinander gekommen. Erst ganz zum Schluss wird die Spannungsschraube noch angezogen und der temporeiche Showdown in einem verfallenen Wehrturm auf hoher See wartet mit einer unerwarteten Lösung auf.

Kino im Kopf

Johannes Steck hat sämtliche Krimis von Simon Beckett eingelesen und wurde dafür mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Mit seiner wohlmodulierenden Stimme gibt er allen Stereotypen wie dem gutmütigen Polizisten Lundy, dem mürrischen Trask oder dem arroganten Großgrundbesitzer eine individuelle Note. Man hat die Situationen und Figuren stets vor Augen und so entsteht Kino im Kopf.

Rezension und Foto von Andy Ruhr.

Totenfang | Als Hörbuch am 14. Oktober 2016 im Argon Verlag erschienen
ISBN: 978-3-8398-1535-9
ungekürzte Lesung von Johannes Steck
12 Audio-CDs
Laufzeit: 12 Stunden, 47 Minuten
Die Buchausgabe erschien bei Rowohlt
Bibliografische Angaben & Hörprobe | Trailer zu Totenfang | 55 Minuten XXL-Hörprobe

Weiterlesen: Andreas Rezensionen zu Simon Becketts Romanen Der Hof und Voyeur

Louise Voss & Mark Edwards | Stalker

Louise Voss & Mark Edwards | Stalker

„Oh Gott, was, wenn es ein und derselbe Mensch ist, der die Karten und die Blumen und die Unterwäsche geschickt hat? Das würde bedeuten, dass er in meinem Haus war. Was soll ich nur tun? Soll ich zur Polizei gehen? Habe ich einen Stalker?“ (Auszug Seite 121)

Siobhan ist Schriftstellerin, die das erste Mal einen kreativen Schreibkurs gibt. Dort lernt sie Alex kennen, der ein Schüler von ihr ist. Alex verliebt sich in Siobhan, seine Gefühle bleiben aber unerwidert, woraufhin er beginnt, sie zu stalken. Als Siobhan das mitbekommt, stellt sie ihn zur Rede und daraufhin wendet sich das Blatt…

Siobhan ist Mitte dreißig, hat sich gerade von ihrem Freund Phil getrennt und wohnt nun allein mit ihrer Katze. Die letzte Veröffentlichung eines Romans ist schon eine Weile her, deshalb versucht sie sich mit dem Schreiben von Artikeln und diesem Kurs über Wasser zu halten. Alex ist Ende zwanzig, arbeitet im Callcenter und wohnt in einer WG. Vom Schreiben träumt er schon länger und will den Kurs als Sprungbrett nutzen. Doch dann tritt Siobhan in sein Leben und Alex ist zunächst wie berauscht von ihr.

Als ich Stalker von Louise Voss & Mark Edwards begonnen habe zu lesen, habe ich mich gefragt, wie man über vierhundert Seiten mit einer Geschichte füllen kann, in der es ums Stalken geht, ohne dass es irgendwann langweilig wird. Ich kann sagen, dass es den Autoren geglückt ist. Das Thema selbst finde ich sehr interessant, weil man ja immer mal wieder hört, dass jemandem nachgestellt wird, aber eben nicht so konkret. Spannend und auch erschreckend fand ich, wie verhältnismäßig leicht man an Informationen anderer Personen kommt, auch wenn in vielen Situationen Zufall dahintersteckt.

Das Buch ist in zwei Teile untergliedert und nach nicht mal der Hälfte des Buches wird Alex schon von Siobhan zur Rede gestellt, das Stalking ist also augenscheinlich vorbei. Und was passiert nun in Teil zwei? Das genaue Gegenteil. Und erst hier wird es so richtig interessant. Die Geschichte wird abwechselnd von Alex und Siobhan in Tagebucheinträgen geschildert. Hierbei ist es meiner Meinung nach besonders unterhaltsam, wie eine Situation von zwei Personen so unterschiedlich wahrgenommen wird. In die beiden Protagonisten kann ich mich gut hineinversetzen. Meine Sympathie wechselte in den beiden Teilen von einem zum anderen.

Insgesamt liest sich dieser Thriller sehr flüssig und ich fand ihn ansprechend, allerdings ist er für mich nicht total dramatisch oder aufregend.

Louise Voss sah Mark Edwards in einer Dokumentation über aufstrebende Autoren, daraufhin kontaktierte sie ihn. Das war der Grundstein ihrer schriftstellerischen Zusammenarbeit. Ihre ersten beiden Thriller „Fieber“ und Stalker wurden sofort Sensationserfolge, zunächst online im Eigenverlag und schließlich auch in den Printausgaben. Louise Voss und Mark Edwards leben mit ihren Familien im Süden von London.

 

Rezension und Foto von Andrea Köster.

Stalker | Erschienen am 14. August 2017 bei btb
ISBN 978-3-442-74571-5
416 Seiten | 9.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe