Tag: 14. Mai 2018

Thomas Rydahl | Der Einsiedler

Thomas Rydahl | Der Einsiedler

„Die Ermittlungen laufen noch?“
Bernal wirft ihm einen Blick zu.“Weil die Presse begonnen hat zu schreiben. Sie haben herausgefunden, dass in dem Karton ein toter Junge lag. Mehr wissen sie nicht. Und die Verantwortlichen wollen keinen neuen Fall Madeleine. Mehr sagen sie nicht. Negativwerbung in diesen Zeiten – wo der Tourismus doch eh schon verteufelt schlecht läuft! Ich sollte Sie eigentlich gar nicht einweihen, aber wir verfolgen eine lokale Spur.“ (Auszug Seite 72)

Hinweis: Es wird ausnahmsweise gespoilert!

Der tote Junge am Strand

In der ersten Regennacht des Jahres fällt an einem Strand auf Fuerteventura ein Auto auf, das wie von den Klippen gestürzt dort steht, was natürlich Rätsel aufgibt. In dem Auto findet sich ein Karton mit einem toten Kleinkind. Erhard Jorgensen ist neben vielen anderen Inselbewohnern mit dem befreundeten Pärchen Raúl und Beatriz an diesem Abend am Strand, um das spektakuläre Gewitter zu beobachten.

Die Polizeit findet etwas später unter anderem einen Zettel, einen Abriss einer vermutlich dänischen Tageszeitung, in selbigem Karton, weshalb man auf den bekanntesten Dänen der Insel zukommt, um Weiteres zu erfahren. Doch schon bald wird Jorgensen klar, dass der Fall des toten Jungen, der ihm keine Ruhe mehr lässt, unter den Teppich gekehrt werden soll, was er als inakzeptabel empfindet und woraufhin er sich selbst auf Spurensuche begibt. Er erfährt, dass die Polizei die Mutter des toten Jungen ausfindig gemacht haben will und diese bereits in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Erhard Jorgensen kommt das seltsam vor, insbesondere, da ihm die junge Frau als Prostituierte namens Alina bekannt ist. Er fragt sich, ob das wirklich so plausibel ist, wie ihm der zuständige Ermittler Bernal weismachen möchte.

Der amputierte Finger

Kurz zuvor kam Jorgensen an einer Unfallstelle vorbei. Bill Haji, von dem er nicht sehr viel hält, ist mit seiner Protzkarre verunglückt, liegt aus dem Wagen geschleudert tot auf der Straße.

Achtung! Hier macht sich das erste Mal das Fehlen von Empathie für den Leser bemerkbar. Hinzu kommt aber auch eine Art abartige Skurrilität:

Nah des Körpers des Toten sieht er einen abgetrennten Finger. Diesen nimmt er an sich, aber nicht wie gedacht, wegen des goldenen Rings, sondern einzig des Finger wegens. Jorgensen hatte schon vor vielen Jahren selbst einen kleinen Finger verloren. Dieser Verlust hinterließ bei ihm ein Gefühl der Unvollständigkeit, weshalb er den Fund des Fingers als einen Glücksfall betrachtet. Zuerst hält er sich den amputierten Finger lediglich an, aber schon bald klebt er ihn mit Klebeband fest und fährt so auch Taxi. Als sich der Finger naturgemäß zu verändern beginnt, trägt er ihn in einem Plastikbeutel in seiner Hosentasche bei sich, manchmal versteckt er ihn in seinem Bücherregal. Wahrscheinlich würde man diese – sagen wir mal – Eigenart bald darauf vergessen, wäre dies nicht ein immer wieder im Vordergrund stehendes Thema.

Die Nutte als Geisel

Jorgensen macht sich auf die Suche nach der angeblichen Mutter und findet sie mühelos an einem einschlägig bekannten Ort. Sturzbetrunken ist ihr nicht bewusst, was Jorgensen von ihr möchte, nämlich ehrliche Antworten auf die Fragen, die die Polizei nicht zu stellen scheint, um die bevorstehende Reisesaison nicht zu gefährden. In ihrem Zustand verrät sie ihm, dass ihr 5.000.- Euro für das falsche Geständnis zugesagt wurden. Und zwar nicht seitens der Behörden, sondern von einem unbekannten Unternehmer.

Auffällig gut gekleidet und sich eine Auszeit nehmend, findet er Alina kurze Zeit darauf erneut und entführt sie in seine abgelegene Hütte, wo er sie zuerst in einen angrenzenden Generatorschuppen einsperrt, da sie gar nicht einsehen möchte, was sie mit ihrer Bestechlichkeit anrichtet. Als sie den Generator manipuliert, wird ihr Lager ins Haus verlegt. Angekettet hat sie jedoch die Möglichkeit sich in einem Radius Matratze, Toilette, Lebensmittelschrank selbstständig zu bewegen.

Die Ungereimtheiten steigern sich ins Absurde

Soviel zur Rahmenhandlung. Wir wissen nun, dass der sogenannte Erimitando selbst nicht vor Verbrechen zurückschreckt, selbstverständlich im Sinn der guten Sache, wie er sich selbst sagt. Gleichzeitig mehren sich jedoch im Debütroman des dänischen Philosophen, Psychologen und Vermittler für Storytelling (als Strategie in der Kommunikationsbranche) Thomas Rydahl die Ereignisse, die nicht nachvollziehbar sind. Ein weiteres Beispiel:

Jorgensen lässt seine Geisel in seiner Hütte zurück, während er zu seinem Freund Raúl fährt, wo er gemeinsam mit ihm und dessen Frau Beatriz auf der Dachterrasse so viele Drinks hat, dass er vergisst, dass er zuhause eine Geisel hat und einschläft. Am nächsten Morgen findet er Beatriz im Arbeitszimmer des Paares blutüberströmt auf, Raúl ist verschwunden. An dieser Stelle des Romans benutzt der Autor ein Mittel, welches mir eher fremd ist, nämlich hört Erhard Jorgensen plötzlich Stimmen, um genau zu sein die Stimme der halbtoten komatösen Beatriz, welche ihm Handlungsanweisungen gibt, die er natürlich penibel befolgt.

Im weiteren zeitlichen Ablauf kehrt er zu seiner Hütte zurück, wo er feststellt, dass Alina sich nicht mehr im Haus aufhält. Als er der Kette folgt, sieht er, dass sich die Frau über das Dach zur anderen Hausseite vorgearbeitet hat, wo sie in den Tot gestürzt ist; ihr Gesicht ist aufgrund der Kollision mit der Gebäudemauer vollkommen entstellt. Klar, das kann so passieren. Aber wir erleben nun erneut einen sehr gleichgültigen, empathielosen und berechnenden Erhard Jorgensen, der sich keinen Deut um den Tod der Frau schert.

Wie passt das zu dem Taximann, der so unbedingt den Tod des kleinen Jungen aufklären wollte, was übrigens inzwischen auch erstmal keine weitere Erwähnung mehr findet?

Beatriz gibt ihm durch die telepathisch (?) übermittelten Worte VERSTECK MICH ein, dass er auf keinen Fall einen Arzt oder die Polizei rufen soll, dass er verhindern muss, dass man sie findet. Nun, Jorgensen hat nun einerseits die tote Alina, die ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes Gesicht hat und andererseits Beatriz, die er verstecken muss. Es kommt, was kommen muss: Jorgensen holt die tote Alina ins Haus von Raúl und Beatriz und drappiert sie auf der Dachterrasse. Beatriz nimmt er nach einer ersten Inaugenscheinnahme eines ihm bekannten Arztes mit in seine Hütte, wo er durch erpresserische Methoden den Arzt zur Versorgung der schwer verletzten Frau verpflichtet. Dieser vermutet eine Gehirnschwellung, aber da Beatriz bereits durch einen vorherigen operativen Eingriff Löcher in der Schädelplatte hat, ist sie trotz vermuteter Hirnschwellung noch lebensfähig. Ah ja!

Abgebrochen!

Es gab noch einige Beispiele mehr, welche mich erstaunt haben, denn immerhin wird dieser Charakter von einem beschrieben, der studierter Philosoph und Psychologe ist! Erhard Jorgensen ist ganz klar der Protagonist der Handlung, doch die Fetzen, die man von ihm erfährt, ergeben kein stimmiges Ganzes und er bleibt nicht greifbar. Eher im Gegenteil hatte ich fast das Gefühl, dass der Autor selbst nicht so genau weiß, wie er, der Protagonist, nun sein soll. Dazu muss ich aber klar sagen: Bei Seite 210 habe ich das Buch abgebrochen, weil ich den Schwachsinn im Sinne von schwach einfach nicht mehr lesen wollte. Basta!

 

Der Einsiedler | Erschienen am 12. März 2018 bei Heyne Encore
ISBN 978-3-453-27083-1
608 Seiten | 23.- Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe