Tag: 10. April 2018

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Anja Goerz | Wenn ich dich hole

Ein Thriller soll der Roman sein, der erste Versuch der Autorin auf diesem Gebiet, denn bisher hat sie eher Frauenromane geschrieben, Heimat- und Liebesschnulzen mit so sinnigen Titel wie „Mein Leben in 80 B“, „Lara, Latex, Landlust“ oder „Herz auf Sendung“. Das Krimi-Debüt ist in meinen Augen gründlich gescheitert, obwohl Anja Goerz, die im Übrigen als Radiomoderatorin arbeitet, eigentlich alles einführt, was ein guter Thriller hätte werden können.

Der Neunjährige Lewe wartet allein mit seinem Hund im Haus seiner Großmutter auf die Rückkehr von Mutter Insa und Oma Grete, die nur kurz zum Einkaufen ins Dorf wollten. Das liegt abgelegen in Rodenäs unmittelbar an der Grenze zu Dänemark, die Autorin ist selbst hier aufgewachsen und kennt insofern Land und Leute. Bis in die siebziger Jahre sprach hier ein Drittel der Einwohner fünf Sprachen, Hochdeutsch, Plattdeutsch, Friesisch, Dänisch und Südjütisch! Diese Besonderheit hätte die Autorin verarbeiten können, aber mit dem Besonderen hat es die Autorin nicht so, stattdessen gibt Allgemeinplätze, Vorurteile, Klischees.

Wohl um die Spannung zu erhöhen und um einige völlig unlogische und unsinnige Handlungen plausibel zu machen, erfindet Anja Goerz einen Schneesturm, wie ihn Nordfriesland seit der Katastrophe im Dezember 1978 nie wieder gesehen hat, um das einsame Haus am Deich noch mehr zu isolieren. Lewe macht sich Sorgen, weil seine Mutter nicht an ihr Handy geht, also ruft er Vater Bendix an, der zu einem seiner seltenen Besuche bei seiner Mutter ebenfalls erwartet wird. Aber er sitzt nach seinem Rückflug aus den USA, wo der IT-Spezialist beruflich unterwegs war, auf dem Flughafen in London fest, denn auch hier schneit es heftig.

Bendix beruhigt seinen Sohn und versucht seinerseits immer wieder, Insa zu erreichen, es meldet sich aber nur die Mailbox. Das liegt daran, dass sie auf der Rückfahrt vom Einkauf einen Autounfall hatte, der offenbar inszeniert war, denn als sie nach dem Unfallverursacher schauen will, wird sie niedergeschlagen. Als sie zu sich kommt, findet sie sich mit der Schwiegermutter gefangen und gefesselt in einer finsteren Scheune. Schließlich gelingt es ihr, sich zu befreien, aber das überlebenswichtige Insulin für Grete kann sie nicht mehr rechtzeitig spritzen, die deshalb stirbt.

Insa versucht verzweifelt, sich zu Fuss und ohne Orientierung zum Haus am Deich durchzuschlagen, wo sie ihren Mann wähnt. Der ist inzwischen auf einer langen, beschwerliche Bahnfahrt durch den Eurotunnel nach Brüssel, weiter nach Köln, dann nach Hamburg und von dort nach Niebüll. Fünfzehn Stunden wird die Odyssee dauern, und Bendix ist mittlerweile sehr beunruhigt, denn Lewe ist sicher, dass ein Fremder im Haus ist.

Der alarmierte Vater setzt alle Hebel in Bewegung, um ihm zu helfen, bewegt den Dorfpolizisten dazu, nach dem Rechten zu sehen. Der fährt eher widerwillig und unter einigen Schwierigkeiten hinaus zu dem Haus, um dort eine Frau anzutreffen, die beteuert, sich um den kleinen Lewe zu kümmern, alles sei in Ordnung. Diese Nachricht versetzt Bendix erst recht in Panik. Er telefoniert den Akku leer, um alte Freunde, Nachbarn und Bekannte aus seinem Heimatdorf mit der immer gleichen Leier von Lewe allein zu Haus dazu zu bewegen, hinauszufahren an den Deich, aber niemand kann oder will dem Verzweifelten helfen. Wird es Bendix schaffen, rechtzeitig bei seinem Sohn anzukommen? Wird Insa sich im Schneechaos zu Lewe durchkämpfen können? Lässt Dorfpolizist Bruno sich noch einmal überreden einzugreifen? Das sind die Fragen, die sich der Leser stellen soll, andere Rätsel gibt es nicht, denn schon früh, sehr früh ist klar, was Anja Goerz hier erzählt.

Eine Geschichte, die bereits im Prolog aufgelöst wird, zumindest für jeden, der schon einmal von König Salomo gehört hat und seinem klugen, gerechten Urteil. Aber auch die nicht so Bibelfesten wissen nach wenigen Kapiteln ganz genau, welches Drama sich hier abspielt, der Thrill ist also schnell vorbei. Schade, die Grundidee ist doch gut, aber die Umsetzung ist für mein Empfinden kläglich gescheitert. Und trägt auch nur für gerade 250 Seiten, die noch dazu meist spärlich bedruckt sind; am Kapitelanfang jeweils mit 25 Zeilen, zum Ende jedes Kapitels häufig nur 3, 4, 5 Zeilen, auch mal 7 oder 8. Und es gibt, neben knappem Prolog und Epilog, 60! Kapitel, 11 davon „Henrike“ überschrieben. Sie ist, wie man bald erfährt, die Ex von Bendix, er hat sie verlassen, als sie heimlich die Pille absetzte, um schwanger zu werden. Das Kind verlor sie im dritten Monat, spätestens nach diesem Verlust ist sie psychisch schwer gestört, und natürlich ist sie es, die sich zu Lewe in das einsame Haus geschlichen hat. Aber sie will ihm nichts Böses, im Gegenteil, sie will, sie muss den Jungen beschützen, ihm helfen, auf ihn aufpassen, sich um ihn kümmern… Das wird tatsächlich mit diesen Worten immer wieder und wieder und wieder erzählt.

Der Roman erzählt auch und vor allem davon, wie Menschen miteinander umgehen, in einer Familie, in der es unter der harmonischen Oberfläche einige Probleme gibt, in einer Beziehung, in der aus obsessiver Liebe abgrundtiefer Hass wird. „Psychologische“ Aspekte also überlagern und verdrängen die Spannung.

Ich kann das alles verraten, weil es in diesem missglückten Thriller eh schon nach kurzer Zeit offensichtlich ist. Und Anja Goerz mogelt sich mit Müh und Not und einigen Längen, vielen nebensächlichen, überflüssigen, ja störenden Betrachtungen, mit zum Teil wörtlichen Wiederholungen innerhalb eines kurzen Kapitels zum vorhersehbaren Ende. Auch durch merkwürdige Stilmittel wird die dünne Story zumindest räumlich gestreckt:

„Achtung!“
Wo kam denn dies Auto auf einmal her?
Ein heftiger Stoß.
Scheppern.
Quietschende Reifen.
Ihr Wagen drehte sich um die eigene Achse, rutschte schnell in Richtung Straßengraben.
Wo war das Lenkrad?
Wo war oben?
Wieso funktionierte die Bremse nicht?
Schnee.

Was soll das? Natürlich, so bekomme ich die Seiten auch voll, ohne viel erzählen zu müssen. Und das, was erzählt wird, ist wahrlich nicht gut geschrieben, das Zitat mag einen Eindruck vermitteln. Ihre Figuren bleiben sämtlich merkwürdig blass und agieren gleichzeitig seltsam übertrieben. Der Dorfbulle zum Beispiel, Anja Goetz sagt in einem Interview und in ihrer Danksagung im Anhang, den habe sie wirklich als Kind kennengelernt, wird als Depp geschildert, der wahre Polizist wird sich freuen. Bendix, die Hauptfigur, ist absolut unsympathisch und ungehobelt, auch zu den anderen Personen konnte ich keine wirkliche Beziehung finden, die Beschreibung bleibt an der Oberfläche oder unvollständig und unverständlich. Einige Nebenfiguren, die tatsächlich überhaupt keine Rolle spielen, keinerlei Funktion haben und deren Auftreten ganz offensichtlich nur Seiten füllen sollen, sind entsprechend lieblos entworfen. Aber selbst mit dem kleinen Lewe konnte ich nicht wirklich mitleiden.

Schlicht, schlecht, hölzern, sperrig und platt, allerdings fast ohne Plattdeutsch – der Dorfkrämer versucht sich an einer Art „Missingsch“ und lediglich Karla, die zänkische Frau des Polizisten streut ganze zwei plattdeutsche Sätze ein in ihre endlosen Tiraden darüber, was ihrer Meinung nach im Haus von Oma Steensen vor sich geht. Sie will verhindern, dass Bruno noch einmal dorthin fährt, um die rätselhafte Frau bei Lewe doch noch einmal zu überprüfen. Schließlich macht er sich doch auf den Weg, Insa scheint auch die Richtung zu dem Haus gefunden zu haben, und Bendix ist endlich auch nur noch ein paar Kilometer entfernt. Wird einer der drei rechtzeitig ankommen in Rodenäs?

Der Leser kann sich denken, was passiert, wie ihn auch der bisherige Plot an keiner Stelle überrascht haben wird. Er wird auch schnell erlöst, denn der Schluss kommt kurz und schmerzlos. Allerdings, jetzt fließt tatsächlich noch Blut, aber gerade so viel, dass mit dem Verbandskasten aus dem Auto alles in den Griff zu bekommen ist. Statt den Roman abrupt enden zu lassen, hätte Frau Goerz an dieser Stelle tatsächlich noch ein paar Seiten schreiben sollen, in ein, zwei Kapiteln aufarbeiten sollen was von der Geschichte auf der Strecke geblieben ist.

Wenn ich dich hole von Anja Goerz ist pure Papier- und Zeitverschwendung, ein langsamer, langweiliger „Thriller“, dem es arg an Spannung mangelt und den ich niemandem empfehlen kann.

 

Rezension und Foto von Kurt Schäfer.

Wenn ich dich hole | Erschienen am 7. April 2017 bei DTV
ISBN 978-3-423-26147-0
256 Seiten | 14.99 Euro
Bibliografische Angaben & Leseprobe

10. April 2018